Apostelgeschichte 6,1-7

Apostelgeschichte 6,1-7

 


13. Sonntag nach Trinitatis,
25. August 2002
Predigt über Apostelgeschichte 6,1-7, verfaßt von Doris Gräb

Liebe Gemeinde!
Ist es wirklich unser vorrangiges Thema heute? – Die Situation in der
Urgemeinde um die Wende des 1.Jahrhunderts? Brennt uns nicht ganz anderes
unter den Nägeln?
Die Gefahren der großen Flut sind erst einmal gebannt. Die Menschen
kehren in die Häuser zurück, sofern sie noch stehen. Das Aufräumen
beginnt. Den Gestank kann man erahnen. Die vielen Tränen angesichts
dessen, was unwiederbringlich verloren ist und weggeworfen werden muß,
auch.
Das Entsetzen über das, was geschehen ist, dringt allmählich
erst ins Bewußtsein ein. Die prognostizierten Beträge, die
der Neu-Aufbau kosten wird, sind in Zahlen kaum auszudrücken. Was
bewegt uns denn nun heute morgen? Warum sind wir gekommen? Können
wir auf das Eine hören – ohne das Andere, das uns unmittelbar Bedrückende,
wegzuschieben?

Damals! Ja damals! Damals war doch noch alles gut. Damals, in der Urgemeinde
in Jerusalem am Ende des ersten Jahrhunderts.
Damals! Die Gemeinde wuchs. Das Wort Gottes breitete sich aus. „Man
erzählte es weiter von Haus zu Haus- in den Höfen, auf den Gassen,
auf den Plätzen, auf den Straßen“ – wie´s in einem
neueren Lied heißt. Und fast so stelle ich es mir auch vor. Die
Gemeinde wurde größer und größer. Einfach wunderbar,
wie viele auf einmal dazu gehören wollten; sich dazu gehörig
fühlten.
Und natürlich:
Da waren dann auch neue Ämter nötig. Neue Stellen mußten
geschaffen werden, um die wachsende Gemeinde adäquat versorgen zu
können.
Damals, ja damals in Jerusalem.
Und heute?
Da werden Stellen abgebaut. Gemeinden müssen fusionieren. Denn die
Zahl der Kirchenmitglieder wird immer geringer.
Für das Wort Gottes, wie es in unseren Kirchen an jedem Sonntag verkündigt
wird, interessieren sich immer weniger Menschen. Sie wandern aus – und
draußen, außerhalb unserer Kirchen, boomt die Religion.
Die Zahl der Jüngerinnen und Jünger wird immer kleiner – anders,
ganz anders als damals in Jerusalem.
Doch: was nützt es, wenn ich es heute wieder sage? Das sage, was
wir längst alle wissen? Was nützt es, wenn wir sehnsüchtig
zurückschauen auf das, was damals so verheißungsvoll begonnen
hat – und den Verfall beklagen?
Ja damals! – Und heute?
Da gibt es doch auch manches, was gleich geblieben ist, in der Urgemeinde
in Jerusalem – und in unseren Gemeinden des 21.Jahrhunderts.
Die Konflikte zum Beispiel. Damals, ja damals. Und heute auch.
Gruppenbildungen. Interessengegensätze. Spannungen. Unterschiedliche
Auffassungen von dem, was Gemeinde zu sein habe. Was in einer christlichen
Gemeinde Priorität haben müsse.
Damals: Was ist wichtiger: der Dienst an den Witwen, an den Armen, die
Versorgung der sozial Schwachen – oder der Dienst am Wort Gottes?
Heute: was ist uns wichtig? Schöne, liebevoll gestaltete Gottesdienste,
die das geistliche Zentrum unserer Gemeinde bilden? – Oder die praktische
Arbeit? Das Foundraising, die Beschaffung von Geldern? Eine lebendige
Gruppenarbeit an allen Tagen der Woche in unseren Gemeinderäumen
Das geistliche Gedeihen der Gemeinde – oder die tätige Hilfe für
die in ihrer Existenz Bedrohten? Aber: ist das überhaupt eine Alternative
angesichts der großen Flut? Ist unsere praktische, finanzielle Hilfe
nicht das Einzige, was den Betroffenen wirklich wieder auf die Beine hilft?
– Fast wie ein Wunder scheint mir, was schon getan, gespendet, geholfen
wurde.
Damals, in Jerusalem, so heißt es, damals erhob sich angesichts
der anstehenden Probleme ein Murren in der Gemeinde.
Und heute? Nun, die Problemfelder von damals haben sich erheblich verlagert.
Denn die Witwen sind versorgt. Der Sozialstaat ist glücklicherweise
längst an diese Stelle getreten. Und die Diakonie als eine Lebensäußerung
der Kirche, die diakonischen Einrichtungen unterschiedlichster Prägung,
sie tun das Ihre. Auch wenn sie längst zu einem Anbieter neben vielen
anderen geworden sind und sich auf dem harten geschäftlichen Markt
der sozialen Dienstleister behaupten müssen.
Und in der ganz aktuellen Situation, da gibt es neben den Hilfsaufrufen
des Diakonischen Werkes doch genau so die Benefizveranstaltung der ARD;
das Rote Kreuz erscheint auf dem Bildschirm neben der Caritas. Der Staat
hilft, und die EU auch. Kein Murren, sondern ein partnerschaftliches Miteinander
mit dem einen großen Ziel wirksamer Hilfe für die Opfer.
Und doch: ein leises Murren, unabhängig von der aktuellen Situation
der großen Flut, ist in unseren Gemeinden immer noch hörbar.
Manchmal mehr, manchmal weniger, angesichts von Fragen wie diesen: Was
wollen wir als Gemeinde? Was sind unsere Ziele? Was ist unser Leitbild?
Wo ist unsere Mitte? Ist unser geistlich-geistiges Leben nicht längst
zu einer frommen Nebensache geworden – und die Predigt zu einer Sache
der Spezialisten?

Wie war es damals noch? Geradezu modern mutet an, wie die Jerusalemer
Urgemeinde mit dem Murren umgegangen ist.
Sie haben ihren Konflikt eben nicht unter den Teppich gekehrt.
Eine Vollversammlung wird einberufen. Die Konfliktpunkte werden auf den
Tisch gelegt. Alle Gemeindeglieder, die wollen, werden an der Konfliktlösung
beteiligt. Die Macht wird geteilt. Gute, kompetente Leute werden berufen.
Die Gemeinde bleibt zusammen, um des gemeinsamen Zieles willen. Die Zuständigkeiten
werden neu festgelegt. Die Organisation des Gemeindelebens an den Wochentagen,
der tätige Dienst an den zu Versorgenden, und der Verkündigungsauftrag,
sie bleiben in Verbindung.
Und: der Erfolg bleibt nicht aus. Das Wort Gottes breitet sich immer weiter
aus. Immer mehr Menschen stoßen zur Gemeinde. Sogar Funktionäre
aus anderen religiösen Gruppierungen, Priester, wie es im Text heißt,
bekehren sich zu Christus.
So, so war es damals. Ja damals! Vorbildlich, wie sie mit ihren Konflikten
in ihrer noch so jungen Gemeinde umgegangen sind.
Und heute? Vielleicht können wir heute noch von jenen ersten Zeugen
des Glaubens lernen – bis hin zu ihrer Kunst der Organisationsentwicklung
und Konfliktbewältigungsstrategie. Auch wenn sie damals solche Begriffe
mit Sicherheit nicht kannten.
Auch wenn unsere Welt – und auch unsere Kirche – überdies um ein
Vielfaches komplexer und unübersichtlicher geworden sind.
Leitbilder von Gemeinde? – Wir brauchen sie doch auch. Was ist unverzichtbar
wichtig für eine Gemeinde des 21.Jahrhunderts? Die kirchlichen Kindergärten
mit ihrer, wenn sie es gut machen, weit in die Volkskirche hineinreichenden
missionarischen Ausstrahlungskraft? Ja! Die Obdachlosenarbeit an den sozialen
Brennpunkten unserer Stadt als Lebensäußerung der Christengemeinde?
Ja!
Diakonie und Bildungsarbeit! Seelsorge an Einzelnen, Besuche in den Häusern
bei Alten und Kranken – offene Jugendarbeit! Ja!
Der Dienst am Wort – und der Dienst am Tisch, im weitesten Sinne!
Leitbild-Diskussionen, seit damals, und bis zum heutigen Tag. Vielleicht
stecken hinter manchen anderen Konflikten in unseren Gemeinden, gerade
wenn´s um das Personal geht, letztlich sogar immer diese Kernfragen.
Was wollen wir? Was brauchen wir zuallererst?
Damals, in Jerusalem, haben sie miteinander in ihrer Vollversammlung eine
erste Lösung gefunden.
„Darum, ihr lieben Brüder, seht euch um nach sieben Männern
in eurer Mitte, die einen guten Ruf haben und voll heiligen Geistes und
Weisheit sind, die wir bestellen wollen zu diesem Dienst. Wir aber wollen
ganz beim Gebet und beim Dienst des Wortes bleiben.“
Sieben Männer für den Dienst am Tisch – und 12 Männer für
den Dienst am Wort. – Diese Rede gefiel der ganzen Menge gut, heißt
es weiter.
Eine erste Lösung. Ämterteilung. Aufteilung der Zuständigkeiten.
Aber wir wissen aus der Geschichte, daß auch das nicht ohne Probleme
geblieben ist. Bis zum heutigen Tag. Was hat Vorrang? Welches ist der
wertvollere Dienst? Immer noch die gleiche Frage. Immer noch die gleichen
Konfliktpotentiale zwischen Pfarrern und Mitarbeitern, zwischen den Predigern
des Wortes und den Tätern des Wortes. Bis hin zu den Gehaltsabrechnungen
und den Anstellungsträgerschaften und der Frage: wer ist wem vor-gesetzt?
Leitbild-Diskussionen seit 2000 Jahren, und ein Ende ist nicht abzusehen.
Und doch sind es die jeweiligen Lösungsversuche wert, bedacht zu
werden. Ist es sogar in jeder Zeit und in jeder Gemeinde immer wieder
geboten, sich diesen Fragen zu stellen, die Probleme auf den Tisch zu
legen und sich an ihnen, so gut es geht, abzuarbeiten, hart und offen,
schonungslos und, wenn´s möglich ist, ohne Verletzungen.
In Einzelheiten kann ich jetzt freilich nicht gehen. Wie sollte ich auch,
wo jede Gemeinde ihr ganz eigenes Gepräge hat, und die Menschen darin
erst recht. Und wo deswegen auch die Konflikte jeweils anders gelagert
sind. Gute Ratschläge für alle habe ich gewiß nicht zur
Hand.
Aber erlauben Sie mir doch dieses:
Lassen Sie mich zum Schluß vier Leit-Sätze vorlesen. Entstanden
im Jahr 1995 auf einer Tagung zur Zukunft der Kirche im Rheinland. Insgesamt
1700 Delegierte aus allen Gemeinden und Werken und Ämtern haben sich
in dieser Reihenfolge darauf geeinigt. Vielleicht hätten Sie damals
in Jerusalem sogar auch etwas damit anfangen können.
Wir heute morgen vielleicht ja auch:

Der erste Satz: Macht die Gottesdienste lebendig und menschenfreundlich,
festlich und verständlich. Beteiligt viele daran.
Der zweite Satz: Kommunikation muß in klaren Strukturen ablaufen,
die regelmäßig, gleichberechtigt und in einer offenen Streitkultur
stattfindet.
Der dritte Satz: Alle Mitarbeitenden wollen wahrgenommen, anerkannt
und gewürdigt werden. Mitarbeitende muß man finden, fördern
und begleiten.
Der vierte Satz: Kirche versteht sich als Zufluchtsstätte
für Bedrängte und Benachteiligte und als Ort des Protestes für
die Ehrfurcht vor allem Leben und für soziale Gerechtigkeit.

Vier Leitsätze. Nehmen wir sie doch mit. Insbesondere den letzten,
den vierten Satz sorgfältig abwägend im Blick auf unsere ganz
aktuellen Hilfsmöglichkeiten bei der großen Flut – und unserer
künftiges Handeln hinsichtlich der Bewahrung der Schöpfung..
Bei allen Sätzen gleichwohl darum wissend, daß nicht wir es
sind, die Gottes Gemeinde, Gottes Kirche, Gottes Reich in dieser Welt
letztlich gestalten können.

Singen, singen und beten wollen wir vielmehr so:
„Preis, Lob und Dank sei Gott dem Herren, der seiner Menschen Jammer
wehrt, und sammelt draus zu seinen Ehren sich eine ewge Kirch auf Erd,
die er von Anfang schön erbauet als seine auserwählte Stadt,
die allezeit auf ihn vertrauet und tröst´ sich solcher großen
Gnad.“ (EG 245)
Amen

Pfarrerin Doris Gräb
Burgfrauenstraße 79a
13465 Berlin
Tel 030/40585890
e-Mail: dorisgraeb@aol.com

 

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