Beflügelt

Beflügelt

Predigt zu Jesaja 40,29-31 | verfasst von Manfred Gerke |

 

Liebe Gemeinde, ein Professor sitzt in der Mensa am Tisch und isst. Ein Student setzt sich ungefragt ihm gegenüber. Etwas verärgert meint der Professor: „Seit wann essen denn Adler und Schwein an einem Tisch?“ „O.k.“, sagt der Student, „dann flieg ich eben weiter.“ – Da muss ich gleich noch einen hinterherschieben. Eine ältere Dame kommt in eine Zoohandlung und schaut sich die vielen Tiere an. Vor dem Papageienkäfig bleibt sie stehen und fragt: „Na, du kleiner bunter Vogel, kannst du auch sprechen?“ Der Papagei: „Na, du alte Krähe, kannst du auch fliegen?“

Zwei Witze, die es in sich haben und sofort zu unserem Thema führen. Natürlich kann die ältere Dame nicht fliegen – auch wenn der Papagei sie „Krähe“ nennt. Wohingegen der Student ganz locker leicht davon schwebt und den sturen Herrn Professor bedeppert zurücklässt. Diese Lockerheit, diese Leichtigkeit, so das Leben nehmen, auch mit dummen Bemerkungen und Ärger umgehen, Flügel haben, die hochziehen, die weitersehen lassen – das wär’s. Das wäre toll. Das wünschen wir uns, gerade in diesen Zeiten.

Der Corona-Virus hat uns im Griff. Von der Angst vor einer möglichen Ansteckung bis hin zur Sorge, Arbeit und Auskommen zu verlieren, dazu die Ungewissheit, wie es weitergeht, für uns, für die Weltgemeinschaft. Wir merken, wie schwer es ist, Abstand zu halten, Kontakte zu meiden, die Enkel nur von weitem zu sehen und nicht in den Arm zu nehmen, den Großvater im Krankenhaus nicht zu besuchen … Und wir spüren, wie wir Nähe brauchen – nicht nur über Telefon und Internet. „Es ist eine verrückte Zeit“, meinte unser Hausarzt und sprach aus, was viele empfinden.

Lassen wir uns von unserem heutigen Predigttext entführen: in eine andere Zeit, an einen anderen Ort, um Abstand zu gewinnen und unseren Blick zu schärfen. Die Menschen damals hatten einen grausamen Krieg verloren. Jerusalem ist zerstört, der Tempel dem Erdboden gleichgemacht, die Felder niedergebrannt. Viele Frauen, Männer und Kinder aus Judäa wurden verschleppt – mehr als 1000 Kilometer weit nach Babylon, in ein fremdes Land, mit fremden Menschen und einem fremden Gott. Der militärische Vernichtungsschlag des Königs Nebukadnezars hat viele Menschenleben gekostet und eine Spur der Verwüstung in Dörfern und Städten zurückgelassen. Aber da war noch was: Das Vertrauen zu Gott war zerschlagen.

Bisher hatte man sich als Gottes auserwähltes Volk verstanden. Bisher hatte man erlebt, dass Gott buchstäblich in letzter Sekunde rettend eingreift. Aber diesmal ist es anders gewesen. Kein Wunder hat sie gerettet, kein Schilfmeer die feindlichen Truppen ertränkt. Gott hat es zugelassen, dass sein Volk von Feinden besiegt wird. Viele von denen, die überlebten, waren am Boden. Da war der Schmerz über die verlorene Heimat, die Trauer über getötete Freunde und Angehörige, die Angst vor der ungewissen Zukunft. Und: Sie verstanden Gott und die Welt nicht mehr. Sie sahen sich von Gott verlassen und vergessen: „Mein Weg ist dem Herrn verborgen, und mein Recht geht an meinem Gott vorüber.“

Oft war diese Klage zu hören. Warum hat Gott das zugelassen? Ist Marduk, der Gott der Babylonier, mächtiger? Oder hat der Herr uns vergessen? War das jetzt Gottes Kündigung? Und wie soll es weitergehen? Oder ist das jetzt unser endgültiges Ende? In dieser Situation meldet sich der Prophet zu Wort. Hören wir, was er seinen Landsleuten in der Gefangenschaft und uns zu sagen hat. Ich lese Jesaja 40,29-31 (nach Luther): „Er gibt dem Müden Kraft und Stärke genug dem Unvermögenden. Jünglinge werden müde und matt, und Männer straucheln und fallen; aber die auf den HERRN harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler, dass sie laufen und nicht matt werden, dass sie wandeln und nicht müde werden.“

Großartige Worte. Und ein ungeheures Zutrauen in Gott. Nein, er hat euch nicht vergessen! Er ist nicht schwächer als Marduk, der Gott der Babylonier. Im Gegenteil. Unser Gott beschenkt euch reichlich: Er gibt Kraft den Müden, Stärke den Unvermögenden. Mehr noch: die auf ihn harren, ihm fest vertrauen, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler. Und er reißt sie heraus aus dieser schrecklichen Froschperspektive und zeigt auf den Adler, den König der Lüfte.

Die Sicht des Frosches ist bekanntlich begrenzt. Da sitzt er im Garten unter einem Kohlkopf. Und am nächsten Kohlkopf ist für ihn die Welt schon zu Ende. Er kann nicht weitersehen und meint: So klein ist auch die Erde. Er sieht nur sich und seine Möglichkeiten. Er gerät in Enge, kriegt Angst, wenn er den Storch über sich klappern hört, hat keinen Durchblick und bleibt am Boden.

Ganz anders der Adler. Der hat einen weiten Blick. „Über den Wolken muss die Freiheit wohl grenzenlos sein…“ – so sang schon Reinhard Mey. „Alle Ängste, alle Sorgen … blieben darunter verborgen …“ Und „was uns groß und wichtig erscheint“, wird „plötzlich nichtig und klein.“ Der Adler sieht nicht nur den nächsten Kohlkopf. Der hat einen weiten Blick. Und genau darum geht es: Dass die Gefangenen in Babylon nicht nur bis zum nächsten Gefängniszaun schauen, sondern weiter sehen, auf Gott sehen, der Himmel und Erde gemacht hat, der diese Welt in seinen Händen hält und sie und uns zu einem guten Ziel führt – auch wenn wir ihn oft nicht verstehen. Der Prophet zeigt auf Gott, der keinen vergisst, der Kraft den Müden und Stärke den Unvermögenden schenkt. Und das ist keine Mache, keine Einbildung, sondern Realität.

Ich las von einem, der Motivationskurse anbietet für Manager, Führungskräfte und solche, die es werden wollen. Und dann sagt er ihnen, sie seien in einen Hühnerstall hineingeboren. Zu Hühnern habe man sie erzogen. Und er sagt ihnen, sie seien Adler, und sie schweigen und lauschen. Und die allermeisten Menschen seien Hühner, und Du sagt er ihnen, du schaffst alles, wenn du nur willst, Du, sagt er, Du kannst Adler werden. Und 1100 Adler jubeln … 1100 Adler wissen nicht mehr, dass sie Adler sind. Einer muss es ihnen wieder sagen.

Das klingt mir zu sehr nach Don Quijote, der Ritter sein und Heldentaten verrichten wollte – und eine Witzfigur war und sich immer wieder blamierte. Oder der Schneidermeister von Ulm, der über die Donau fliegen wollte und mit Flügeln vom Münster sprang und in den Fluss klatschte. Ich kann mir eine Menge einreden. Doch damit verändert sich nichts. Ich kann mir viel vormachen. Doch ich werde nicht aus eigener Kraft vom Huhn zum Adler. – Natürlich hatte Boris Becker recht, wenn er nach einem verlorenen Tennisspiel sagte: „Ich war mental nicht gut drauf.“ Vieles spielt sich im Kopf ab: ob ich mir etwas zutraue oder nicht. Doch meine eigenen Möglichkeiten sind immer noch begrenzt.

Wir brauchen die Kraft der Flügel, der Flügel eines Adlers, der geschickt die Thermik nutzt, sich auf die nach oben strebende Luft legt, scheinbar schwerelos gleitet und majestätisch seine Kreise zieht. Aber was heißt das nun für uns ganz praktisch. Wo kriege ich diese Flügel her? Und wie komme ich an die Kraft, die mich aus der Frosch- in die Adlerperspektive erhebt?

Eine griechische Sage erzählt von Antäus. Er war der Sohn der Mutter Erde und unüberwindlich stark. Niemand konnte ihn im Kampf bezwin­gen. Er verfügte über schier unermessliche Kräfte. Lange rätselte man über das Geheimnis seiner Kraft. Woher hatte Antäus seine Stärke? Schließlich kam Herkules und löste das Geheimnis der Kraft. Im Kampf mit Antäus packte er ihn mit beiden Armen und hob ihn vom Erd­boden hoch. Im Moment, als die Verbindung zur Erde unterbrochen war, wurde Antäus kraftlos und bezwingbar. Das Geheimnis seiner Kraft war die Verbindung mit seinem Ursprung, seiner Mutter Erde. Als Her­kules diese Verbindung löste, konnte er ihn besiegen. Antäus bezog seine Kraft aus der Verbindung mit seinem Ursprung, seiner Mutter Erde. Christen beziehen ihre Kraft aus ihrem Ursprung, aus Gott, ihrem himmlischen Vater. Und das ist eine Wirklichkeit, die jeder von uns erfahren darf. Wie das ganz praktisch vor sich geht? Ich will es erzählen:

Dem Pfarrer einer Stadt im Süddeutschen fiel ein alter, bescheiden wirken­der Mann auf, der jeden Mittag die Kirche betrat und sie kurz darauf wieder verließ. So wollte er eines Tages von dem Alten wissen, was er denn in der Kirche tue. Der antwortete: „Ich gehe hinein, um zu beten.“ Als der Pfarrer verwundert meinte, er verweile nie lange genug in der Kirche, um wirklich beten zu können, meinte der Besucher: „Ich kann kein langes Gebet spre­chen, aber ich komme jeden Tag um zwölf und sage: ‚Jesus, hier ist Johan­nes.’ Dann warte ich eine Minute und er hört mich.“

Einige Zeit später musste Johannes ins Krankenhaus. Ärzte und Schwestern stellten bald fest, dass er auf die anderen Patienten einen heilsamen Einfluss hatte. Die Nörgler nörgelten weniger und die Traurigen konnten auch mal lachen. „Johannes“, bemerkte die Stationsschwester irgendwann zu ihm, „die Männer sagen, du hast diese Veränderung bewirkt. Immer bist du gelassen, fast heiter.“ „Schwester“, meinte Johannes, „dafür kann ich nichts. Das kommt durch meinen Besucher.“ Doch niemand hatte bei ihm je Besuch gesehen. Er hatte keine Verwandten und auch keine engeren Freunde. „Dein Besucher“, fragte die Schwester, „wann kommt der denn?“ „Jeden Mittag um zwölf. Er tritt ein, steht am Fußende meines Bettes und sagt: ‚Johannes, hier ist Jesus.’“

Das ist die Verbindung mit unserem Ursprung, mit Gott. Und die Kraft, die aus dieser Verbindung strömt, haben die Patienten auf der Krankenstation erlebt, haben die Schwestern wahrgenommen. Die auf den Herrn harren, kriegen neue Kraft, dass sie auffahren mit Flügeln wie Adler. Johann Wolfgang von Goethe hat einmal gesagt: „Zwei Dinge sollten Kinder von ihren Eltern bekommen: Wurzel und Flügel.“ Und das will ich so verstehen: Die Wurzel, das Verbundensein mit unserem Ursprung, die Verbindung zu Gott. Und daraus erwächst die Kraft, die uns auffahren lässt mit Flügel wie Adler.

Flügel, die Kraft geben, sich Terror und Gewalt zu widersetzen, und Hoffnung, nicht aufzugeben – wie Mitri Raheb, arabischer Christ und Pfarrer der evangelischen Gemeinde in Bethlehem, Gründer des dortigen internationalen Begegnungszentrums. Trotz Sperrzäunen und täglichen Schikanen hält er fest: „Als Christen können wir in dieser Welt nicht länger nur Zuschauer sein. Um Christi willen sollen wir handeln. Manchmal wird uns die Welt, in der wir leben, eine Hölle, die uns den Mut zum Leben nimmt, in der keine Verbesse­rung möglich ist.

Aber unser Glaube richtet sich auf Chris­tus, der das Leben ist. Die Hölle ist schon überwunden. Es ist nicht unsere Berufung, aus der Hölle auf Erden ein Para­dies zu machen, wohl aber, aus dieser Hölle eine Welt zu machen, in der man leben kann. Die christliche Hoffnung unterwirft sich nicht den Kräften des Todes und der Verzweiflung … Denn es gibt einen, der die Auferstehung und das Leben ist.“ Und in der Verbindung zu ihm bekommen wir Kraft, wachsen uns Flügel, fahren wir auf mit Flügeln wie Adler.

Ich komme zum Schluss. Natürlich hat der Papagei recht: Die ältere Dame kann nicht fliegen. Aber der Student auch. Beschwingt hebt er sich von dannen. Gott will uns nicht am Boden sehen. Seine Kraft ist mächtiger als Wind, eine Kraft, die uns Mut macht, die uns emporhebt und beflügelt – auch in dieser Zeit!

 

Pastor i.R. Manfred Gerke,
Immanuel-Kant-Straße 5,
26789 Leer
E-Mail: manfred.gerke@ewe.net

Seit Juni 2017 bin ich Pastor i. R. und wohne in Leer. Von 1977 bis 2017 war ich aktiv in der Ev.-ref. Kirchengemeinde Stapelmoor, zunächst als Vikar, dann als Pfarrer. Verschiedene Schwerpunkte kennzeichneten meinen Dienst: Zunächst war ich im Synodalverband ehrenamtlich Jugendpfarrer, dann zehn Jahre verantwortlich für die Ausbildung und Begleitung von Lektoren und Ältestenpredigern in der Ev.-ref. Kirche und achtzehn Jahre Präses in unserem Synodalverband. Im Auftrag der EKD habe ich in den Jahren 2017 bis 2019 fünfzehn Monate in der Deutschsprachigen Evangelischen Gemeinde auf den Balearen mitgearbeitet.

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