Dennoch: Nähe

Predigt zu Apg. 4, 32-37 und Pred. (Koh.) 4, 7-12 | verfasst von Reinhard Schmidt-Rost |

 

Der Predigttext für diesen Sonntag nach der seit 2018 in der evangelischen Kirche in Deutschland geltenden Perikopen-Ordnung steht in der Apostelgeschichte, Kap.  4, 32-37.

Da die akademische Predigtreihe in der Bonner Schloßkirche im Sommersemester 2020 dem Buch des Predigers Salomo (Kohelet) unter dem Thema:

 

„Gelassenheit – trotz allem?“                                                                                                                                  Ungewissheit und Grenzen des Menschen.                                                                                                    Kohelet (der Prediger Salomo) im Gespräch

 

gewidmet ist, legte sich eine Verbindung des Perikopentextes mit Koh. 4, 7-12 nahe.

 

Der Wochenpsalm (Ps. 34, 2-11) und die Epistellesung (1. Joh. 4, 16b-21) illustrieren das von Eberhard Hauschildt, dem amtierenden Universitätsprediger in Bonn, für diesen Gottesdienst vorgeschlagene Thema

 

„Dennoch: Nähe“.

 

Liedvorschläge

EG 681 – Gelobt sei Deine Treu

EG 382 – Ich steh vor Dir mit leeren Händen, Herr

EG 221 – Das sollt ihr, Jesu Jünger, nie vergessen

 

Wochenspruch:                                                                                                                                                   Wer euch hört, der hört mich, und wer euch verachtet, der verachtet mich. Luk. 10, 16a.

 

Psalm 34, 2-11

Ich will den HERRN loben allezeit; sein Lob soll immerdar in meinem Munde sein.

Meine Seele soll sich rühmen des HERRN, dass es die Elenden hören und sich freuen.

Preiset mit mir den HERRN und lasst uns miteinander seinen Namen erhöhen!

Da ich den HERRN suchte, antwortete er mir und errettete mich aus aller meiner Furcht.

Die auf ihn sehen, werden strahlen vor Freude, und ihr Angesicht soll nicht schamrot werden.

Als einer im Elend rief, hörte der HERR und half ihm aus allen seinen Nöten.

Der Engel des HERRN lagert sich um die her, die ihn fürchten, und hilft ihnen heraus.

Schmecket und sehet, wie freundlich der HERR ist. Wohl dem, der auf ihn trauet!

Fürchtet den HERRN, ihr seine Heiligen! Denn die ihn fürchten, haben keinen Mangel.

Reiche müssen darben und hungern; aber die den HERRN suchen, haben keinen Mangel an irgendeinem Gut.

 

 

 

Epistel-Lesung:

 

1.Joh.4, 16b-21

Gott ist Liebe; und wer in der Liebe bleibt, der bleibt in Gott und Gott in ihm. Darin ist die Liebe bei uns vollendet, auf dass wir die Freiheit haben, zu reden am Tag des Gerichts; denn wie er ist, so sind auch wir in dieser Welt.

Furcht ist nicht in der Liebe, sondern die vollkommene Liebe treibt die Furcht aus. Denn die Furcht rechnet mit Strafe; wer sich aber fürchtet, der ist nicht vollkommen in der Liebe.

Lasst uns lieben, denn er hat uns zuerst geliebt.

Wenn jemand spricht: Ich liebe Gott, und hasst seinen Bruder, der ist ein Lügner. Denn wer seinen Bruder nicht liebt, den er sieht, der kann nicht Gott lieben, den er nicht sieht. Und dies Gebot haben wir von ihm, dass, wer Gott liebt, dass der auch seinen Bruder liebe.

 

 

Predigttext nach der Akademischen Reihe in der Bonner Schloßkirche

 

Prediger Salomo (Kohelet) 4, 7-12

Wiederum sah ich Eitles unter der Sonne: Da ist einer, der steht allein und hat weder Kind noch Bruder, doch ist seiner Mühe kein Ende, und seine Augen können nicht genug Reichtum sehen. Für wen mühe ich mich denn und gönne mir selber nichts Gutes? Das ist auch eitel und eine böse Mühe.

So ist’s ja besser zu zweien als allein; denn sie haben guten Lohn für ihre Mühe. Fällt einer von ihnen, so hilft ihm sein Geselle auf. Weh dem, der allein ist, wenn er fällt! Dann ist kein anderer da, der ihm aufhilft. Auch, wenn zwei beieinanderliegen, wärmen sie sich; wie kann ein Einzelner warm werden? Einer mag überwältigt werden, aber zwei können widerstehen, und eine dreifache Schnur reißt nicht leicht entzwei.

 

 

Predigttext nach der Perikopenordnung

 

Apostelgeschichte 4, 32-37

Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele, auch nicht einer sagte von seinen Gütern, dass sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemeinsam.

Und mit großer Kraft bezeugten die Apostel die Auferstehung des Herrn Jesus, und große Gnade war bei ihnen allen.

Es war auch keiner unter ihnen, der Mangel hatte, denn wer von ihnen Land oder Häuser hatte, verkaufte sie und brachte das Geld für das Verkaufte und legte es den Aposteln zu Füßen; und man gab einem jeden, was er nötig hatte.

Josef aber, der von den Aposteln Barnabas genannt wurde, – das heißt übersetzt: Sohn des Trostes – ein Levit, aus Zypern gebürtig, der hatte einen Acker und verkaufte ihn und brachte das Geld und legte es den Aposteln zu Füßen.

 

 

 

Predigt

 

Dennoch: Nähe

 

Leicht ist das nicht: Nähe auszuhalten. Man kann sich ziemlich auf die Nerven gehen, wenn man Tag für Tag zusammen ist, zusammen sein muss, möglicherweise auch noch auf engem Raum. Selbst wenn sich zwei Menschen sehr sympathisch sind, vielleicht sogar sagen, dass sie sich lieben, und versichert haben, dass sie ihr Leben lang zusammen bleiben wollen:  Ununterbrochene Nähe tagaus, tagein kann durchaus belasten. Davon hat man in den vergangenen Wochen viel gehört, wie das Leben im home office und home schooling zu Spannungen führt.

 

Der Prediger Salomo, ein lebenserfahrener Mann, –  oder war sie eine Frau? wir wissen es nicht, (das hebräische Wort koheleth, zu Deutsch Prediger, ist jedenfalls eine weibliche Form), eine Person, die vermutlich um 300 v. Chr. gelebt hat, spricht ohne Illusionen von Nähe. Sie kennt Leute, die ganz auf sich selbst fixiert sind, die nur an ihren Besitz denken und am Gewinn ihrer Geschäfte interessiert sind. Man könnte meinen, sie sei ein Mensch unserer Zeit. Kinderlos und beziehungslos kämpfen die Einzelnen für ihren Erfolg, so wird über Zeitgenossen heute oft geurteilt. Und koheleth fragt sich und ihre Leser: Wofür das alles? Ist das nicht alles eitel?

Sie denkt nüchtern und praktisch und fragt sich und ihre Leser: Ist ein Leben zu zweit nicht besser als die Existenz des Einzelnen, auch wenn er sich eine goldene Nase verdient?

Sie fragt es immerhin, denn sie ist ja offenbar auch eine Person, die für sich allein sitzt und denkt. Wie sollte man auch denken können, wenn dauernd andere Menschen um einen herum tätig sind? Zum Denken muss man allein und ungestört sein.

 

Der Prediger Salomo singt kein hohes Lied auf die Liebe, schon gar nicht auf Ehe und Familie, keineswegs, aber er beschreibt doch die Vorteile einer Existenz zu zweit, man kann sich stützen, sich aufhelfen, wenn der eine fällt – und wärmen kann man sich auch. Und wenn man sogar zu dritt zusammenhält, dann übersteht man Anfechtungen und Anfeindungen besser als zu zweit oder ganz allein.

 

Trotzdem lässt sich die Erfahrung nicht leugnen: Nähe auszuhalten ist nicht leicht. Und je individueller und persönlicher jemand sein Leben ausgestaltet, umso eher stört ihn ein anderer oder eine andere mit ihren spezifischen Gewohnheiten und Eigenheiten.

Der Prediger Salomo stellt es einigermaßen kühl fest, dass Nähe nicht leicht ist, aber vielleicht, so gibt er zu bedenken, ist Nähe in einigen Lebenslagen doch nützlich, jedenfalls besser, als allein zu sein.

 

Liebe Gemeinde,

der Prediger Salomo schreibt offenbar in einer Zeit, in der die gewohnten Bindungen und Beziehungen brüchig geworden sind. Die Gemeinschaften der Familien und des Volkes scheinen sich aufzulösen. Kann man etwa sogar sagen, was über unsere Zeit heute gesagt wird?  Er erlebt eine Zeit der Individualisierung, und Ansätze zur Globalisierung scheint es auch zu geben! Das Reich der Perser zunächst und dann auch das Römische Reich dehnen den Horizont des Handelns und Denkens weit aus – und es ist eine Zeit der Rationalisierung: Das Wort Gott gebraucht der Prediger zwar noch, aber es bleibt bei ihm doch sehr blass.

Nähe ist nützlich, deshalb setzt er sich für Nähe ein, wenn auch nicht überschwänglich. Aber er weiß natürlich, dass Menschen Nähe brauchen und gestalten müssen, sonst gibt es keine Kooperation, die Leben fördert, keine Gesellschaft, oder nur eine solche, die von außen und oben diktiert wird.

 

Liebe Gemeinde,                                                                                                                                                   wie wird es weitergehen, wenn Individualisierung und Globalisierung weiter um sich greifen?

Vor dieser Frage stehen wir gerade in diesen Tagen der Gesundheits- und Wirtschaftskrise, da die natürliche Nähe von Mann und Frau, von Eltern und Kindern, vor allem aber von Großeltern und Enkeln problematisch wird. Angst vor Ansteckung, Sorge um Gesundheit, der Zusammenhang der Generationen ist durch das Virus gefährdet.

Und wohin führen uns da die Worte des Lukas?

 

Der Evangelist Lukas scheint in einer völlig anderen Welt zu leben als der Prediger Salomo. Kein skeptischer Blick auf Nähe im Alltag, keine kritischen Gedanken über Gier und Neid, über Konkurrenz und Missgunst.

 

Lukas schreibt von den Menschen, die der Geist Gottes am Pfingsttag, Wochen nach der Ermordung ihres Lehrers Jesus zu einer öffentlichen Demonstration und darüber hinaus zu einer Lebensgemeinschaft zusammengeführt hat:  Sie waren ein Herz und eine Seele. Ein ganz und gar unglaubliches Geschehen, ein unvorstellbarer Vorgang unter Menschen. Eine Herzens- und Gütergemeinschaft. Wie sollte das gehen? Und wie sollte es weitergehen?  Gibt es das überhaupt und kann das auf Dauer gutgehen?

Die alten Geschichten der Bibel, die die Leute in Israel natürlich alle kennen, berichten doch ganz realistisch und anschaulich von den Spannungen zwischen Mann und Frau seit Eva und Adam, von der Konkurrenz unter Brüdern seit Kain und Abel, Esau und Jakob, der mühsamen Einigung der Verwandten bei Abraham und seinem Neffen Lot, und unter Josef und seinen Brüdern, die nur der Druck der Hungersnot und die Großmut des Arrivierten, des Staatsmanns Josef, wieder zusammenbringt. Das passt alles zur skeptischen Weisheit des Predigers Salomo.

 

 

Liebe Gemeinde,

sie waren ein Herz und eine Seele. Es ist wohl schon so, dass diese Vorstellung von einer intensiven Güter- und Geist-Gemeinschaft Menschen zugleich reizt, aber auch heraus- und überfordert, – und es kommt ja auch in der Urgemeinde schnell zu Konflikten, die durch neue Regelungen und Einrichtungen aufgefangen werden mussten. Es wollen keineswegs alle ihren Besitz teilen. Aber immerhin: Die Einrichtung der Diakonie, die Hilfe für die Witwen und Waisen entsteht aus dem Grundgedanken der Geist- und Gütergemeinschaft. Diese Idee gegenseitiger Hilfe, die nicht an Blutsverwandtschaft, nicht an familiäre Beziehungen, sondern an eine geistige Gemeinsamkeit gebunden ist, an die Erinnerung an ihren Lehrer Jesus, den sie bald den Christus, den zum König Gesalbten nannten, beeinflusst die Christen, ja die ganze Menschheit seit den ersten Tagen der Christenheit.

 

Selbst in den Worten des Predigers Salomo schwingt immerhin eine gewisse Zuversicht mit, dass gestaltete Nähe hilfreich sein könnte. Lukas aber, in seinem Evangelium und in der Apostelgeschichte schwärmt von der neuen Erfahrung von Nähe, die sich der Menschen bemächtigt hat, in hohen Tönen.

Waren die ersten Christen also klüger, weiser, lebenserfahrener als der Lehrer der Weisheit, der Prediger Salomo? Das kann man nicht sagen, aber sie hatten eine Einsicht des Predigers beherzigt: Selbstsucht und Gier zerstören den Menschen, Gemeinschaft rettet und fördert das Leben. Das hatten sie von ihrem Lehrer Jesus gelernt.

 

Der Fortschritt der frühen Christenheit ist leicht erkennbar, aber schwer zu praktizieren: Wechselseitige Verantwortung über die Blutsbande hinaus, die Hingabe füreinander, das Teilen der Güter fördert das Leben aller. Es war vielleicht auch eine physische Nähe, vor allem aber eine geistige Beziehung und herzliche Anteilnahme, die ihr gemeinsames Leben bereicherte. „Seht, wie sie einander lieben“ – hörte man später sagen, wie sie aneinander Anteil nehmen auf die Gefahr hin, ausgenutzt zu werden, sich an andere zu verlieren.

 

Diese Anteilnahme und Gütergemeinschaft hat im Übrigen nichts mit dem zu tun, was in großen politischen Systemen zur Zeit wieder Einzug zu halten scheint, mit Gleichschaltung der Einzelnen und der Diktatur weniger Herrscher.

Es kann einem schon Angst um die Menschen, um unsere Kinder und Kindeskinder werden, wenn man vom kleinen Europa in die Weiten des Ostens und nach Westen schaut. Es gibt jedenfalls Anlass genug, dankbar zu sein, für eine geistige und künstlerische Freiheit, die wir hierzulande genießen und gestalten dürfen – und der Blick in die jüngere Geschichte lehrt ja, dass solche Freiheit auch in Deutschland keineswegs selbstverständlich war – und die gewaltsam erzwungene Unfreiheit noch von unseren Eltern erlitten wurde.

 

Und es gibt erst recht Anlass genug, dankbar zu sein für jede Nähe, die dennoch gnädig geschenkt wird, gegen alle distanzierende Selbstsucht und gegen alle totalitäre Herstellung von Nähe. Solche geschenkte und nicht erzwungene Nähe ist der Nährboden, der Humus kunstvoller Individualität und gottgebener Menschlichkeit.

 

So ist unser Bekenntnis zu Jesus und seinen Gedanken ein Plädoyer für geistige Freiheit und für eine Pflege von Nähe, die sich dem Anspruch der anderen Person stellt, auch wenn es schwerfällt.

 

Und der Segen Gottes, der die Verbindung unserer Herzen und Seelen pflegt, der bewahre uns vor allem Übel. Amen.

 

 

 

 

 

 

 

Christen denken positiv von Nähe,                                                          wissen aber längst  auch, was es heisst,                                                       wenn  ein Virus mörderisch den Menschen beißt,                                                            ein verderblicher Prozess geschähe,

und kein Helfer eine Rettung sähe                                                           kein Experte einen Ausweg weist,                                                                   Zukunft kein Gelehrter mehr umreißt …                                                          vielmehr krächzend kreist des Unheils Krähe …

Doch gilt dieses Jahr wie stets seit Pfingsten,                                        was den  Menschen allen (!) zugesprochen wird,

gilt den Alten und es gilt den Jüngsten,                                                            keiner trägt auf schmalen Schultern seine Bürd‘

sie müssen sich aus allem Leiden, allen Stößen,                                               so  hoffen wir, mag sein,  nicht selbst erlösen.

 

 

 

Vor der Corona-Krise war geplant, den Gottesdienst am 14.6.2020 mit der Mitgliederversammlung der Evangelischen Akademikerschaft im Rheinland zu verbinden.

Nun mögen diese Texte, in der Stille gelesen, dennoch als ein Zeichen teilnahmsvoller Nähe wirken.

 

de_DEDeutsch