Deuteronomium 4,5-20

Deuteronomium 4,5-20

Das jüdische Vermächtnis unseres Glaubens: Leben, Menschlichkeit, Mitgefühl | 10. So. n. Trinitatis | 13.08.23 | 5. Mose 4, 5-20 | Gert-Axel Reuß |

Liebe Gemeinde,

nach dem unvorstellbaren Grauen, das in deutschem Namen, mit Duldung, Billigung und Täterschaft über Jüdinnen und Juden in unserem Land und später in ganz Europa hereingebrochen ist, war die Gründung des Staates Israel vor 75 Jahren bei nicht wenigen mit der Hoffnung verbunden, dass sich hier etwas verwirklicht, was Mose seinem Volk sozusagen ins Stammbuch geschrieben hat: „Darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand. … Wo ist so ein großes Volk, das so gerechte Ordnungen und Gebote hat wie dies ganze Gesetz, das ich euch heute vorlege?“ (5. Mose 4, 6ab+8)

Zugegeben: Es sind unsere (deutschen) Schuldgefühle, die einen solchen unrealistischen Blick auf ein Land richten, das sich seit seiner Gründung im Krieg befindet. Welches unter der ständigen Drohung des Untergangs eine Demokratie aufgebaut hat, die sich der Charta der Vereinten Nationen verpflichtet weiß, während in den meisten Nachbarstaaten ganz andere Verhältnisse herrschen.

So verfolge ich mit besonderer Aufmerksamkeit die Nachrichten über die Justizreform in Israel in der Hoffnung, dass sich die Dinge zum Besseren wenden mögen – während ich mich mit der ständigen Verletzung rechtsstaatlicher Grundsätze in einigen unserer osteuropäischen Nachbarländer irgendwie abgefunden habe. Und natürlich sollte, müsste man fragen: Wie ist das bei uns?[1]

Liebe Gemeinde!

Wie ist das bei uns? – Ich spreche an dieser Stelle nicht über die Politik sondern über die Kirche. „Das größte Risiko ist der Glaube an die eigene Überlegenheit.“ schrieb Evelyn Finger in der Wochenzeitung DIE ZEIT[2] und zielte damit auf die Evangelische Kirche in Deutschland und deren – nach Meinung der Autorin – mangelhafte Bereitschaft zur Aufarbeitung des Missbrauchskandals: „Sie ist nicht heiliger“ – so die Schlagzeile auf Seite eins.

Man mag das als ungerecht empfinden. Zugleich aber spricht aus den Vorwürfen, die hier ausgebreitet werden, eine Sehnsucht, dass es doch Institutionen gäbe (oder doch wenigstens Menschen), denen man vertrauen kann. Die den Willen Gottes leben, und damit meine ich keine besondere Form der Frömmigkeit sondern praktische Nächstenliebe. Eine Kirche, die den Menschen dient, die Barmherzigkeit lebt, die Schwachen schützt, die Traurigen tröstet, Unrecht beim Namen nennt und selbst mit gutem Beispiel vorangeht.

Nun könnte man sagen: „All das tun wir ja!“ In unseren Gemeinden und durch unsere diakonischen Dienste. In den Familien und Gemeinschaften, in denen wir leben und uns bemühen, gute Menschen zu sein, nett und hilfsbereit. Ist das denn nicht genug?

Mit einer solchen Frage sind wir einem Denken sozusagen in die Falle gegangen, das gerade unter religiösen Menschen verbreitet ist. Einem Missverständnis, das in vergangene Zeiten besonders Menschen mit jüdischer Religion als „Gesetzlichkeit“ zum Vorwurf gemacht worden ist. „Man muss doch auch einmal Fünfe gerade sein lassen.“ So die entschuldigende etwas legere Position derer, die sich um die Einhaltung von Geboten nicht unbedingt hervortun.

Nein! Liebe Gemeinde, darin zeigt sich keine Weisheit, denn es geht hier nicht um fünf oder vier, drei oder zwei. Und auch nicht um die entsprechenden 10 Gebote. Das Vermächtnis des Mose sind nicht die beiden steinernen Tafeln, so nützlich es gelegentlich auch sein kann aufzuschreiben, was unter uns gilt. Beinahe hätte ich gesagt: „Es geht darum, die 10 Gebote mit Leben zu füllen.“ aber das ist nicht unsere Aufgabe, denn sie ermöglichen Leben. Aus sich selbst heraus, auch – oder sollte ich sagen: gerade – für uns.

Das jüdische Vermächtnis unseres Glaubens heißt: Leben, Menschlichkeit, Mitgefühl. Es heißt: Liebe, Hoffnung, Glaube. All das, was die Evangelien über Jesus zu berichten wissen – nicht, um Regeln daraus abzuleiten, sondern um uns anzuleiten, eine Haltung zu verinnerlichen, die nicht von Ungenügen geprägt ist sondern von Freude: „Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von ganzer Seele, von ganzem Gemüt und mit all deiner Kraft.“ (Mk 12, 30 vgl. 5. Mose 6, 5)

Es ist eine Lust zu leben! Es ist eine Lust, nach dem Willen Gottes zu leben!

„Denn wo ist so ein herrliches Volk, dem Götter (!) so nahe sind wie uns der HERR, unser Gott, sooft wir ihn anrufen?“ (V 7)

Liebe Gemeinde,

was wäre das für eine Kirche, wenn solches über sie geschrieben würde?! Wir können uns das ausmalen – und vielleicht sollen wir das auch, wenn wir einander davon erzählen, wie menschenfreundlich Gott ist. Wenn wir in der Bibel lesen, aus ihr vorlesen. Geschichten wie die vom barmherzigen Samariter. Gleichnisse, die Bergpredigt.

Was andere davon halten? Was in der Zeitung steht? Nein, es kommt nicht darauf an, dass andere sagen: „Was für weise und verständige Leute sind das.“ (vgl. V 6b) Es kommt darauf an, dass wir solches leben. Nicht aus uns selbst heraus, sondern als von Gott Begabte. Nicht alleine, sondern indem wir dem Beispiel Jesu folgen.

In diesem Sinn kann auch die Geschichte der Kirche erzählt werden. Vielleicht muss sie dies sogar. Als eine Geschichte von Sternstunden und von Versagen. Auch das macht die jüdische Bibel so wertvoll, dass sie nicht nur Heldengeschichten verbreitet, sondern auch das Versagen. Die Propheten haben darum gerungen, wie unverständig und gottvergessen Menschen sein können, die es doch eigentlich besser wissen. Wer die Geschichte der Kirche erzählen will, kann daran unmittelbar anschließen.

Aber es gibt auch einen anderen Erzählfaden, und der lautet: „Gott ist treu!“ „Er hat das Schreien seines Volkes gehört!“ „Der HERR hat sein Volk aus dem Schmelzofen, aus der Sklaverei in Ägypten geführt, dass es sein Erbvolk sein soll, wie es es jetzt ist!“ (vgl. V. 20)

Und wir gehören dazu. Als die durch Jesus Hinzugekommenen, der uns mit dem Glauben an Gott vertraut gemacht hat, der den Willen Gottes gelebt hat, der die Gesetze und Gebote erfüllt hat.

Liebe Gemeinde,

auch heute geht mein Blick nach Israel: Meine Hoffnung ist nicht erloschen, dass die Menschen in diesem Land Frieden finden. Alle Menschen in diesem Land! Allerdings sollten wir dabei keine höheren Maßstäbe anlegen als die, die wir für uns selbst und für die Politik in unserem Land gelten lassen. Die im jüdischen Glauben wurzelnden Menschenrechte beinhalten einen universalen Geltungsanspruch.

So sind wir nun nicht mehr Außenstehende, sondern die Worte des Mose sprechen auch zu uns: „Ich habe euch gelehrt Gebote und Rechte, wie mir der HERR, mein Gott, geboten hat … So haltet sie nun und tut sie! Denn darin zeigt sich den Völkern eure Weisheit und euer Verstand.“ (V. 5+6)

Amen.

Gert-Axel Reuß

Domprobst

Domhof 35

23909 Ratzeburg

Mail: reuss@ratzeburgerdom.de

Gert-Axel Reuß, geb. 1958, Pastor der Nordkirche, seit 2001 Domprobst zu Ratzeburg

[1] Am 3. August 2023 ist eine Tunesierin, die sich wegen eines Suizidversuchs zur Behandlung in einem Krankenhaus des Landesvereins für Innere Mission in Rickling (Schleswig-Holstein) befand, abgeholt und nach Schweden abgeschoben worden. Dort hatte sie einen Asylantrag gestellt, der abgelehnt worden war. Nun droht ihr die Folge-Abschiebung nach Tunesien.

[2] DIE ZEIT, 2. August 2023, S. 1, „Sie ist auch nicht heiliger“

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