Deuteronomium 6, 4

Deuteronomium 6, 4

Liebe Gemeinde

Europa wächst und konstituiert sich neu; und wir bedenken: die
Frage nach der Zukunft Europas war in der Geschichte immer auch eine
Frage nach den Pflichten, die Menschen und Völker gegeneinander
haben; und die Frage nach der Zukunft stellte sich für viele aus
der Zuversicht heraus, dass uns die Zeit zum Handeln wie die Gaben des
Lebens überhaupt von Gott verliehen sind. Mit der Geschichte war
eine Schule des Glaubens verbunden. Aus ihr kann und soll ein besonderer
Beitrag zur Wahrnahme der Aufgaben in der gegenwärtigen historischen
Situation erwachsen.

Eine friedliche und menschenfreundliche Zukunft der Völker hat
zur Voraussetzung, dass die ersten und einfachen Gebote der Menschlichkeit
in den Herzen und Köpfen der einzelnen Menschen lebendig sind.

Es geht nicht nur um die Wirtschaft, es geht auch um die Achtung voreinander,
um dem Umgang mit der eigenen Geschichte und der anderen Völker,
es geht um Anstand, um Verstehen, um Geduld.

Unsere Aufgaben sind nur zum Teil formaler Natur. Zu einem guten Teil
geht es um das Miteinander von Menschen und Völkern, um Bildung,
um humane Substanz.

Das Nachdenken über die Völker führt zurück auf
die Einzelnen. Es gibt keine Ethik, keine Kultur ohne den Einzelnen.

Die Hauptfrage der Geschichte ist an uns selbst gestellt: wo stehst
du als Person, stehst du für eine Überzeugung ein, stehst für
einen anderen ein? Bist du ein zuverlässiger Mensch?

Der Einzelne aber fragt: gibt es eine Maxime, die auch die anderen
bindet; gibt es einen Konsens der Gutwilligen? Das Gute muss doch den
Vielen einleuchten, wenn es nicht dastehen soll wie eine Eigentümlichkeit
von wenigen Naiven.

Menschlichkeit entfaltet eine „nachhaltige“ Wirkung, wenn
Menschen sich einig sind über das, was wir einander schulden; und
was die Hauptsache ist in Sachen Menschlichkeit.

Ein wacher, kritischer Kopf zur Zeit Jesu fragt ganz zugespitzt: was
ist das erste Gebot – worauf kommt es vor allem an – was
gilt für alle und ganz zuerst?

Er fragt religiös, aber wohl skeptisch: Kann es ein höchstes
Gebot überhaupt geben?

Heute würde man vielleicht sagen: Es gibt in den persönlichen
Fragen und eben so auch in Sachen Religion einen Markt der Möglichkeiten
und also die Schwierigkeit der Wahl; und vermutlich ist es am besten,
die Vielfalt einfach hinzunehmen.

Gibt es nur ein blankes Nebeneinander der Religionen oder gibt es, so
fragt der ernstere Mensch, nicht doch eine Stufenfolge, an der man sich
orientieren könnte, eine Werteskala? Man braucht doch Werte, sagen
wir, damit nicht alles ungewiss und gleichgültig werde.

Das höchste Gebot ist, sagt Jesus und zitiert hier wie später
aus der Thora: Höre, Israel, der Herr, unser Gott, ist der Herr
allein [ist einer].

Das ist ein Nein zum Markt der Möglichkeiten. Aber nicht einmal
die Frage nach unseren Taten sei gestellt, sagt Jesus. Zu hören ist zuerst.

Nicht gleich mit der Frage behaupten, es gebe ein Mehr oder weniger,
ein höher oder tiefer, man müsse wählen.

So steht es nicht um den Menschen. Höre!

Wer vom Menschsein reden will, höre zunächst auf Gott.
Zuerst höre und sei leise und suche das zu verstehen:
dein Schöpfer, der dir das Leben gab und gibt, ist der einzige Herr
deines Lebens wie der einen Welt gleichermaßen.

Mögen wir an Abstufungen gedacht haben, an die Qual unser angeblichen
Wahl, an die Vielfalt der Religionen – steil steht dem entgegen:
Höre!
Dies ist der Anfang der Anfänge: ein himmlischer Anfang der irdischen
Wege.

Und nun zum Inhalt: Der Herr ist einer. Wir denken an den Anfang der
Zehn Gebote: ich bin der Herr, dein Gott, du sollst keine Götter
haben neben mir.

Manche Fragen, die wir stellen, schrumpfen bei Licht besehen zu Scheinfragen
zusammen und werden ganz klein, wenn es um unser Leben geht. Wenn wir
entscheiden müssen, dann lernen wir, wie eindeutig wir handeln müssen;
wie anmaßend es war zu meinen, wir könnten zuwarten und wählen
unter den Wahrheiten dieser Welt. Manche Fragen stellen wir nur, weil
wir abgelenkt sind und unsere tatsächliche Lage noch ausblenden,
noch ein wenig zu viel Zeit haben.

Er ist der Herr allein. Das ist die Eindeutigkeit, die das Leben braucht.
Du bist längst gefragt, du musst zu den Aufgaben deines Lebens stehen.
Fuhrwerke nicht herum auf dem angeblichen Markt deiner Möglichkeiten!

Lass´ dir nicht andere Wege vorgaukeln; lass‘ deine Augen nicht
ablenken durch die Macht der Könige; nicht durch die Heerscharen
und die Paläste; nicht durch die Schönheit der Menschen und
ihrer Werke; nicht durch Lob und Belohnung, nicht durch den Ruhm; nicht
durch die Macht anderer Völker; nicht durch deine Sorge und nicht
durch deine Freude.

Gibt es ein Indiz auf unserer Seite für eine solche Beziehung zu
Gott: dass es so ganz und gar um eine Beziehung geht, in der wir nicht
das Sagen haben, sondern das Hören; und in der wir nicht die Wählenden
sind, sondern die Gewählten? Dass es um Eindeutigkeit gehen muss,
um Klarheit?

Du sollst den Herrn, deinen Gott, lieben von ganzem Herzen, von
ganzer Seele, von ganzem Gemüt
[im Urtext eigentlich mehr: aus deiner ganzen
Einsicht] und von allen deinen Kräften.

Ja, dies ist es: es geht um das ganze Herz, um die ganze Seele, um alle
Kraft der Einsicht – wie es im Leben eben ist – und dem entspricht:
es ist ein Gott – du hast einen Gott.

Ich rede der Vereinfachung das Wort und sage, vereinfachend: Not lehrt
beten, zu dem einen Gott.

Für uns heißt das: du hast einen Heiland, deinen Erlöser.
Lass‘ dich nicht ablenken von Jesus Christus, nicht durch dein Leben
und nicht durch dein Sterben! Lass´ dich nicht festhalten von deiner
Geschichte, nicht von deinen Plänen, Hoffnungen. Nicht von dem,
was war; und nicht von dem, was hätte sein können.

Lass´ nicht erschrecken von den Maßen, in denen du lebst – von
dem Maß deiner Zeit. Ja, weine nicht über dem Maß der
Zeit, das den Menschen gegeben war, die zu dir gehörten und zu dir
gehören. Leugne nicht deine Lage und lerne zu sagen:
Der Herr ist mein Hirte – und ob ich schon wanderte im finstern Tal,
fürchte ich kein Unglück

Alle Mächte, die dich fragen und die dich belasten, sind Herrschaften
unterer Ordnung; und auch deine löbliche Absicht etwas zu tun, ja
das Nötige, einzig Nötige zu tun – auch das ist eine Angelegenheit
zweiter Ordnung, ist darum jetzt, bei der Frage nach dem Höchsten:
zu früh gestellt.

Höre: dich, Israel, hat Jahwe erwählt, Bethlehem, die du klein
bist unter den Städten; dich, Israel, in der Wüste, in der
Gefangenschaft – und sichtbar geworden ist der Eine Herr schließlich
in Jesus von Nazareth, dem Kinde gar, dem Menschen, der alle Fragen nach
dem Leben
und nach dem höchsten Gut in sich aufgenommen hat.

So vieles scheint wichtig – alles scheint unser Leben zu sein – nur
nicht dies –
dieses noch nicht, meinen wir manchmal: dass alles, alles dem einen Herrn
dienen muss.

Dem dienen muss, der sich nie gezeigt hat in den Mächten dieser
Welt, nicht in dem Erfolg; der nicht sichtbar ist als Macht in der Höhe,
nicht sichtbar als Held in der Tiefe.

Der Glaube ist frei, er verherrlicht nicht die Zeitläufe, er verteufelt
sie nicht.

Die kirchliche Geschichte ist voll von Zeugnissen zu diesem Datum des
Glaubens: unser Gott ist unterschieden von den Abläufen der Geschichte.
Und: er ist dein Heiland, der notwendige Helfer.

Und du: antworte mit deinem ganzen Denken und Fühlen und Planen
das Einssein des Schöpfers. Laufe hervor aus deinen Fragen zu dem,
was dir nicht fehlen darf.

Wiederhole es an dir selbst: alles in mir selbst gehöre hierher:
mein Herz, meine Einsicht, meine Seele, alle Kraft. Das himmlische Licht
löse mein Herz und leite meine Hand!

Das andre ist dies: Du sollst deinen Nächsten lieben wie dich
selbst.

Unser Gott ist Schöpfer und Vater der Vielen; ganz ebenso dein
Herr und Erbarmer wie der deines Nächsten.

Trenne dich nicht von deinem Nächsten. Ihm und dir gehört
gemeinsam die Eine Welt des Einen Herrn, darum mache keinen absoluten
Unterschied zwischen dir und den anderen. Wiederhole des Herrn Schaffen
mit deinen Mitteln, an deinem Nächsten. Ihr seid einander sehr ähnlich;
und euch beiden gehören die Sonne und der Mond und die Sterne –
die eine Welt.

An dir selbst findest du, was der Mensch von dir erhofft; was für
mich nötig ist, ist auch für den anderen nötig. Darum:
verzichte darauf, in Neid und Ehrgeiz, dich partout zu unterscheiden
von dem anderen.

Vielmehr: teile; lass‘ Platz für den anderen; siehe von seiner
Seite her: wonach wird er, wird sie jetzt fragen in seinem Herzen, in
ihrem Herzen? Was wird ihr fehlen? Wie muss er dies empfinden? Wenn ich
dieses nehme, nehme ich es einem anderen weg?

Wieder gilt: Wiederhole mit deinem Denken und Fühlen und Planen
das Einssein des Schöpfers.

Alles in dir selbst gehöre hierher: dein Herz, deine Einsicht,
deine Seele, alle Kraft – und das alles öffne dem Nächsten.

Denke an die Wege der Völker, sei geduldig, suche Versöhnung,
gemeinsame Wege! Dem einen Schöpfer entspricht die eine Menschheit.
Nächstenliebe ist Friedensliebe.

Bemühe dich um Einsicht, sei aufmerksam; sei genau in der freundlichen
Wahrnahme, verzerre nicht zu Ungunsten des anderen. Bemühe dich
um einen Konsens der Gutwilligen.

Die Nächstenliebe hat auch eine historische Dimension.
Sie gilt auch den Menschen, die nicht mehr leben.
Gehe nicht achtlos vorüber an dem geistigen und seelischen Gut der
Vorfahren!

An dem geistlichen Erbe, an dem Glauben der Mütter und Väter.
Frage nach ihren Lebenswegen, nach dem, was sie gewollt haben;
wovon sie seelisch gelebt haben; was sie haben weitergeben wollen.

Nicht achtlos umzugehen mit dem, was auf den Lebenswegen der Vorfahren
wichtig war, gehört mit zu den Aufgaben der Nächstenliebe.

Und die Nächstenliebe hat eine Zukunftsdimension.
Denke an die Nachgeborenen, pflege die Wege in die Zukunft!
Bemühe dich, junge Menschen zu verstehen; ihnen beizustehen;
sie zu beschenken! Nimm Begabungen wahr und suche zu fördern!
Verschließe die Augen nicht vor der Not der Kinder in der Welt!

Bemühe dich, Gutes weiterzugeben, anzuregen; ein menschliches Vorbild
zu sein.
Sei nicht gleichgültig gegenüber den Folgen unseres Handelns.

Du sollst deinen Nächsten in seinem einen besonderen Leben achten
und fördern.
Dies ist der Weg zu dem anderen Menschen, der zu dir gehört.
Es ist auch der Weg zu dir selbst.

Zum Schluss: Die beiden Hauptgebote legen einander aus . Die Liebe zu
den Menschen und der Glaube an Gott sind Gefährten, die einander
brauchen. Der Glaube hilft der Liebe, wenn sie verzagen möchte.
Und die Liebe kann dem Glauben wohl den Weg bereiten.

Nach dem Wichtigen für die Zukunft haben wir gefragt.

Die Worte der Bibel sind, hat Luther gesagt, wie Münzen, die in
zwei Beutel gehören.

Der eine heißt Glaube, der andere Liebe. Alles, was uns die Bibel
sagt, findet Platz in diesen beiden Beuteln.

Das ist unsere Wegzehrung. Das sind die Münzen für jeden Tag.
Deshalb falten wir täglich die Hände, deshalb kommen wir in
dieses Haus, dass unser Herz sich nicht verliere in dem Vielen.

Vieles ist wichtig, aber noch wichtiger ist, dass wir unseren Nächsten
am Orte und auch in der Ferne nahe bleiben und sie achten.

Vieles ist wichtig, aber noch wichtiger ist, dass uns Gott nahe ist
und wir ihm vertrauen.

Wir sind dann mitten in der Geschichte unserer Zeit nicht fern vom Reich
Gottes.

Amen

Dr. Stephan Bitter, Sup. i. R.
Falkenweg 10
45478 Mülheim an der Ruhr
mail@StephanBitter.de

 

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