EG 84: O Welt, sieh hier dein Leben

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EG 84: O Welt, sieh hier dein Leben

Predigreihe zu Paul Gerhardt / 2007
Predigt über Lied EG 84,
verfasst von Ralf Wüstenberg


Jesus steht allein da. „Oh Welt, sieh hier dein Leben am Stamm des Kreuzes schweben,/ dein Heil sinkt in den Tod.“ Da ist keiner mehr, der zu ihm steht, noch jemand, der sein Schicksal deuten kann, nicht einmal Petrus. Die Bekanntschaft mit Jesus wird verleugnet. Kein: „Ich will ans Kreuz mich schlagen/mit dir und dem absagen,/was meinem Fleisch gelüst“. Die nackte Angst des Petrus – wird sie in der zweiten zitierten Liedzeile Paul Gerhardts überwunden? Passion, Leiden, Tod – das alles bleibt zweideutig. Im Lichte der Osterbotschaft wird alles Leiden, ja der Tod selbst eindeutig – eindeutig zu etwas Vorletztem, etwas, was seinen Schrecken verliert. Wo aber das Licht von Ostern nicht auf den Karfreitag zurückfällt, da ist alles Leiden, aller Tod etwas Letztes, etwas, dessen Schrecken ewig anzuhalten scheint. Herrlichkeit dort, Einsamkeit hier.
Die Einsamkeit Jesu wird noch einmal gesteigert, wenn Jesus am Kreuz ausstoßen wird: Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen. Denn nun ist das nicht nur Verlassenheit, Unverständnis und Einsamkeit gegenüber Menschen, sondern Gott selbst gegenüber.

Jesus steht allein da. Tiefere Einsamkeit kann ein Mensch nicht spüren – verlassen von allen Menschen und verlassen von Gott. Diese Einsamkeit ist wohl kaum noch zu überbieten. Weder physisch, noch psychisch, noch theologisch. Wie groß muß der Schmerz bei einer Kreuzigung sein, wie groß muß der Schmerz des Verlassenseins selbst von denen sein, die er doch in sein Vertrauen zog. Wie groß muß der Schmerz eines Menschen sein, der sich selbst von Gott verlassen glaubt.

Verlassen von den Jüngern, verspottet von den Menschen. Und Gott antwortet nicht, Gott handelt nicht. Er greift nicht ein, macht Jesus nicht schnell zu einem Helden, der seine Feinde besiegt, indem er ihnen zeigt, wer er ist. Er läßt sich verspotten. Er nimmt ihn nicht in einer gewaltigen Tat vom Kreuz und bestraft die Henker und die Gaffer und alle die, die mit der Menge „Kreuzige ihn!“ schrien. Nein, nichts passiert, keine schnelle Gerechtigkeit, die das Unrecht bereinigt und aufzeigt, wer im Recht ist. Hier ist nichts, nur Ohnmacht. „Wer hat dich so geschlagen,/mein Heil, und dich mit Plagen so über zugericht?/Du bist ja nicht ein Sünder/wie wir und unsere Kinder,/von Übeltaten weißt du nicht.“
Kreuzige, kreuzige ihn! – Ein Aufschrei, der in drei Worten das Unrecht aller Zeiten auf den Punkt bringt. „Ich kann keine Schuld an ihm finden“, sagt der vermeintlich unparteiische Pilatus, um am Ende doch dem Mob nachzugeben. Kreuzige ihn, kreuzige ihn! Pilatus entspricht dem landläufigen Bild des Politikers. Um seine Macht zu erhalten, lässt er auch einen Unschuldigen über die Klinge springen. So ist auch nicht Pilatus die Identifikationsfigur, sondern Jesus. Und klar ist, auf welcher Seite Jesus steht.
– Er steht auf der Seite der Schwachen.
– Er gehört zu denen, die zu Unrecht verurteilt werden.
– Er gehört zu denen, die verhöhnt werden.
– Er gehört zu denen, die sich nicht wehren können.
– Er gehört zu denen, die alleine stehen gegen eine Überzahl von Verleumdern.
– Er gehört zu denen, die ohnmächtig sind gegen die Gewalt, die ihnen angetan wird – sei es körperliche Gewalt; sei es seelische Gewalt; sei es strukturelle Gewalt.

Und es ist diese Seite, die Paul Gerhardt in seinen Liedern immer wieder anklingen lässt. Gerhardt, selbst im Alter von 14 Jahren Vollwaise, verliert vier seiner fünf Kinder und schließlich seine eigene Frau an den Tod – er und seine Zeit (30-jähriger Krieg!) kennen körperliches und seelisches Leid. Hier ist kein Raum für Vertrösten, aber für echten Trost. Gerhardt schreibt nicht im Elfenbeinturm, sondern im Angesicht der Herausforderungen des Alltags. Der Poet des Evangeliums spricht den Menschen seiner Zeit aus dem Herzen, er nimmt auf, was den Zeitgenossen seiner Tage buchstäblich auf der Seele lastet. Wie kaum ein anderer hat er die Hand am Puls der Ängstlichen, der Bedrängten, der Hoffnungslosen. Und all diese Ängstlichkeit, Bedrängnis und Hoffnungslosigkeit verwandelt sich wunderbar in Kraft, Hoffnung und Zuversicht, wo sie mit dem Geschick Jesu verbunden wird. „Ich bin, mein Heil, verbunden / all Augenblick und Stunden /dir überhoch und sehr.“

Seelische, körperliche und strukturelle Gewalt – sie ist heute so gegenwärtig wie damals. Nicht nur in den Kriegsherden und Folterkellern dieser Welt, sondern mitten unter uns, auch in dieser Stadt. Wer nur mit wachem Auge U-Bahn fährt bekommt etwas davon mit. Kinder, die angeschrieen und gegängelt werden, Obdachlose, die mit angefrorener Hand eine Zeitung verkaufen, Menschen, in deren Gesichtern man den Tag ablesen kann.

Das alles macht sehr demütig. Es stellt sich ein Gefühl des Mit-Leidens ein; vielleicht ein heimliches Wissen darum, dass in allem Leiden eine Nähe zu Jesus da ist, eine Nähe, die sich vom Leiden über die Sehnsucht nach Erlösung aus dem Leiden zieht. Leiden und Erlösung aus dem Leiden sind mit dem Schicksal Jesu verknüpft ist. „Ich bin, mein Heil, verbunden / all Augenblick und Stunden /dir überhoch und sehr.“ Das Leiden wird nicht das letzte Wort haben; aber es hat das vorletzte Wort – und alles Vorletzte kann mitunter sehr lange dauern.

Kreuzige, kreuzige ihn! Wo der Mob spricht, wo „Mobbing“ herrscht, da gilt nicht die Vernietlichung von Leiden. Schlechtes Reden über andere, Lüge, Ungerechtigkeit. Das sind alles sehr große und reale Erfahrungen auch im Leben von Christen. Heute wie damals ist sie groß, die Sehnsucht nach Erlösung! Doch es wird drei Tage dauern, lange DREI Tage, bis etwas passiert

Diese drei Tage sind ein Symbol. Es vergeht im Regelfall eine echte Spanne Zeit, bis Leiden überwunden ist, ob im Leben Jesu, im Leben Paul Gerhardts – oder im Leben aller Christenmenschen in der Nachfolge. Für manche Menschen, die Unrecht erleiden, können diese drei Tage ein ganzes Leben dauern, für andere Jahre, für wieder andere Monate oder Wochen.

Wichtig ist: Alles Leiden wir ein Ende haben, alles „Kreuzige ihn!“ wird einmal aufhören – Gott wird handeln, aber in den seltensten Fällen sofort. Die drei Tage sind ein Symbol – für Warten können. Jahre, Monate, Wochen – In manchen Fällen vielleicht ein Leben lang, in anderen nimmt im heute, hier und jetzt das Leben ein Wendung. Es scheint, als ob das Ereignis des dritten Tages das Leiden in Freude und Herrlichkeit verwandelt und der Mensch auf-ersteht aus dem Leiden. Wunder geschehen, auch heute. Aber sie sind nicht die Regel.

Gewiß: Jesu Leiden ist der geheimnisvolle Ausdruck echter Solidarität Gottes mit uns Menschen. Selbst der Gottessohn verschmäht das Leiden nicht. Verleugnet werden ist eine Erfahrung, die zweifellos auch in unserer Lebenswelt vorkommt. Aber auch in uns Erwachsenen steckt der Petrus. Es ist der „Petrus in uns“, der uns weglaufen oder verleugnen läßt, wenn es brenzlig wird.

Unser Passionslied verstehe ich auch als Trost für alle, zu denen niemand steht, die allein sind, verlassen, einsam. Es ist der Weg Jesu. Es ist der Weg der Nachfolge. Es ist der Weh der Einsamkeit Jesu. „Oh Welt, sieh hier dein Leben am Stamm des Kreuzes schweben,/ dein Heil sinkt in den Tod.“ Der Unterschied zur Nachfolge Jesu besteht darin, daß wir diese Nachfolge nicht alleine gehen müssen. Darin unterscheidet sich das Geschick der Christen vom Geschick Jesu. Für Christen erwächst daher die Verpflichtung, sich in der Nachfolge gegenseitig zu stützen. Es wäre völlig mißverstanden, wenn aus dem Gesagten gefolgert würde, das ein Christ dem anderen im Leiden, im Einsamsein, im Verlassensein bloß darauf hinzuweisen hätte, daß dies besonders christusgemäß sei. Im Gegenteil, der Auftrag der Christen liegt darin, einander beizustehen, dazusein für die, die allein, verlassen oder einsam sind. Das ist die Aufgabe von Christenmenschen in jeder Gemeinde. Amen


Prof. Dr. Ralf Wüstenberg
Institut für Evangelische Theologie
Ihnestr.56
14159 Berlin
E-Mail: wustenbe@zedat.fu-berlin.de

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