„Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“, (EG 83)

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„Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“, (EG 83)

Predigreihe zu Paul Gerhardt / 2007
„Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld“, (EG 83)
Eine Liedpredigt zu Paul Gerhardt in der Passionszeit verfasst von Ralf Hoburg


Denke ich an die Passionszeit, so fällt mir unwillkürlich ein Lied von Paul Gerhardt aus dem Jahr 1647 ein: „Ein Lämmlein geht und trägt die Schuld der Welt und ihrer Kinder.“ Es werden dabei Erinnerungen an die vielen Passionsandachten in mir wach, die ich mit der fast immer gleichen Gruppe älterer Menschen aus der Gemeinde in dämmerigem Abendlicht im März eines jeden Jahres in einer für die Anzahl der Menschen viel zu großen alten gotischen Kathedrale im Herzen des pietistischen Ostwestfalens feierte. Es gehört aber zu denjenigen Liedern, die der Gemeinde seit Jahrzehnten wohlvertraut waren und traditionell gesungen werden – vermutlich bis auf den heutigen Tag. Ich mochte das Lied von Anfang an nicht. Es war mir unsympathisch. Seine Verse atmeten für mich den pathetischen Muff einer mir zu engen hochkirchlichen Frömmigkeit und seine Melodie war mir vom Rhythmus ungewohnt und klang nicht eingängig melodisch, sondern steif und unzusammenhängend mit einer seltsam unterschwellig durchscheinenden Todessehnsucht und Melancholie. Meiner heiter fröhlichen Frömmigkeit lag damals und auch heute das frische Sommerlied aus Paul Gerhardts Hand „geh aus mein Herz und suche Freud in dieser schönen Sommerzeit“ mit seinem schöpfungstheologischen Vielklang viel näher und ich gestehe, dass ich die Getragenheit und Schwere des Passionsliedes beim eigenen Singen immer mit einer vorausgreifenden österlichen Fröhlichkeit im Herzen konterkariert habe, denn letztlich ist mir die Reich-Gottes-Theologie immer näher als die Theologie des Kreuzes. Die schwerfällige große Orgel der Kirche drosselte das Tempo des Liedes noch und führte zu einer fast unerträglichen Langsamkeit und Dissonanz zwischen dem Orgelspiel und der hinterher- oder vorhersingenden Gemeinde. Im Laufe meiner wenigen Jahre im Pfarramt wurde gerade dieses Lied für mich zum Symbol einer auf den Glanz vergangener Zeiten fixiert starrenden Gemeindekirche, die sich in Gottesdienst und pfarrherrlichem Gehabe gegen eine bunter und lebendiger werdende gesellschaftliche Umwelt geradezu verbarrikadierte und kaum noch wahrnahm, was sich um sie herum abspielte. Es war ungefähr die Zeit, als der Soziologe Gerhard Schulze sein aufregendes Buch über die Erlebnisgesellschaft schrieb, Bücher über Kultmarketing erschienen und die Evangelische Kirche in Deutschland in ihrer dritten Mitgliedschaftsstudie den neuen Typ des sog. „kirchlich Distanzierten“ wahrnahm und analysierte. Im Ruhrgebiet fand ein Kirchentag statt, der sich in einen spannenden Dialog mit der modernen Ästhetik, der Kunst und dem Theater begab und hinter dem Teutoburger Wald existierte in Ostwestfalen eine satte Kirchlichkeit, die so tat „als wäre nichts geschehen“ (K. Barth) und unbeirrt eben jenes Passionslied mit einer Selbstverständlichkeit sang als müsse jeder Mensch wissen, um welchen Inhalt es bei diesem Lied geht.
I) Jesus – sein Leben ist das Leiden für die Welt

Seit dem ich gelernt habe, das Passionslied Paul Gerhardts unabhängig eines Gemeindekontextes zu sehen, habe ich mich damit ausgesöhnt. Seine Melodie hat für mich in seiner Sprödigkeit sogar Charme, der sich wohltuend unterscheidet von seichten Kirchenflöten à la Hufeisen (Anzeigentext: „Zeitzeichen und Hans-Jürgen Hufeisen schenken Ihnen ein Musiktitel“ – extra zum Paul Gerhardt-Jahr…). Wahrlich Kirche: Du bist ein echter Leuchtturm des 21. Jahrhunderts! Inzwischen kann ich sagen, dass es mir gerade wegen der theologischen Unaufgeregtheit seiner Aussagen zu einem Kleinod eigener Passionstheologie geworden ist, die sich mir in einem anderen Licht erschließt. Wie die Schriftstellerin Gabriele Wohmann es in einer Betrachtung zu Paul Gerhardts Liedern jüngst ausgedrückt hat, ist gerade dieses Lied für mich ein Beispiel der „extrem komplizierten Glaubenszuversicht“, die dem Protestantismus anheftet und die sich dem religiös Neugierigen nicht auf den ersten Blick erschließt. Das ist es, was ich mehr und mehr wieder entdecke: So wie das Lied von Paul Gerhardt antik und eckig, spröde und durch und durch pathetisch klingt, so ist der Protestantismus nicht seicht und es bedarf mancher gedanklicher Anstrengung, das Evangelische zu verstehen. Dazu braucht es Information und Aufklärung in einer religiös unmusikalischen Umwelt, die Aussagen so zu erschließen, dass sie eine Relevanz für den heutigen Menschen haben können.
Vor diesem Hintergrund wird das Passionslied ganz in der musikalischen Tradition der Reformation zu einem katechetischen Lehrstück, in dessen Mitte die Christologie steht. In Aufnahme der Christologie des Johannesevangeliums besingt das Lied den stellvertretenden Sühnetod Jesu Christi. Jesus ist in erster Linie nicht der Wunderheiler, das ethisch-moralische Vorbild, nicht der „Bruder“ und schon lange kein Held, sondern sein Leben geht völlig auf in seiner Funktion: Er ist das Lamm, das die Schuld der Welt trägt und die Sünden der Menschen büßt. Und es ist theologisch gekonnt, wie der Dichter Paul Gerhardt hier die Passion als Leidensgeschichte nahe bringt. Jesus von Nazareth ist der Gottesknecht, der in der hebräischen Bibel in Jesaja 53 als der stellvertretend Leidende beschrieben wird. Und obwohl er freiwillig und „gern“ wie Paul Gerhardt schreibt, sich in dieses Schicksal und Leiden fügt, ist den Worten der Strophe sehr wohl zu entnehmen, dass dieser Tod keine Stärke war, sondern Entsagung und unsagbares Leid: „es geht dahin, wird matt und krank, ergibt sich auf die Würgebank, entsaget allen Freuden…“ (Strophe 1) Man spürt es zwischen den Zeilen, wie körperlich der Dichter dieses Leiden nachempfindet. Dieser Jesus von Nazareth „entsaget allen Freuden“ – sein Tod ist das Zeichen und ein äußerer Ausdruck für die Brutalität in der Welt.
Geschrieben sind die Verse 1647 und also kurz vor dem Ende eines unsäglichen Mordens im Verlauf des 30jährigen Krieges. Wer die Klagen einer „Mutter Courage“ nach Bert Brecht im Ohr hat oder die unbeschönigende Kriegsberichterstattung in Grimmelhausens „Simplicissimus“ spürt in den Worten Gerhardts die Wahrnehmung der Grausamkeit dieses Krieges. Es sind die Mittenwalder Jahre, in denen Paul Gerhardt in dem kleinen Städtchen eine Pfarrstelle bekleidet. In diese Zeit fällt aber auch der Tod der ersten Tochter. Noch drei weitere Kinder musste Paul Gerhardt gemeinsam mit seiner Ehefrau Anna Maria zu Grabe tragen. Es darf vermutet werden, dass dieses Lebensschicksal den Glauben von Anna Maria und Paul Gerhardt geprägt hat. Das Leben erlebten beide in seiner Härte und sie spürten die Sehnsucht der Menschen nach Hoffnung. Von beidem handelt das Passionslied, aber es konzentriert sich zunächst ganz auf das stellvertretende Leiden Jesu Christi. Die Aufgabe des Lammes und Kindes ist es, sich der Menschen zu erbarmen: „Geh hin, mein Kind, und nimm Dich an/ der Kinder, die ich ausgetan/ zur Straf und Zornesruten;/…“ Hier liegt der Kern der theologischen Aussage: Es geht um die Erlösung, die im Zentrum der Passionstheologie steht. Und in der Form der Sprache eine göttlichen Selbstoffenbarung wird dem Gottessohn zugesagt: „Du kannst und sollst sie machen los/ durch Sterben und durch Bluten.“ Das stellvertretende Leiden Jesu von Nazareth verwandelt sich zur befreienden Erlösung für die Menschen. Das Passionslied wird ganz auf diese Mitte hin konzentriert, nämlich der freiwilligen Hingabe des Sohnes und seiner Deutung als Ermöglichung des Heils für die Menschen und die Welt einerseits und der frommen Antwort des Menschen darauf andererseits. In dieser doppelten Ausrichtung bleibt Paul Gerhardt ganz der reformatorischen Theologie verhaftet und greift aber gleichzeitig in seiner Wendung eigener Frömmigkeit Aspekte von Johann Arndt und vor allem auch Gedanken frühpietistischer Prägung auf. Sein Passionslied zeigt ein großes Stück Herzenstheologie und steht an der Schwelle zwischen einer konservierenden Theologie der Orthodoxie und der lebenszugewandten Frömmigkeit des Pietismus, in der der Glaube dem Leben dienlich sein sollte. Man kann fast sagen, dass Paul Gerhardt im Vorgriff auf Schleiermacher die Empfindungen des frommen Gemüthes zum Thema seiner Passionstheologie macht.

II) Frömmigkeit als Dank des Glaubens Der zweite Teil des Liedes besingt deshalb das andere große Thema der Reformation: den Glauben. Der Glaube wird von Paul Gerhardt als Bekenntnis und Einverständnis des Menschen gesehen. Es geht um die Wirkung des Heils und der Befreiung durch den Tod Jesu Christi auf den Menschen. Beide Teile des Liedes, das freiwillige Leiden und Sterben des Sohnes, wie es vor allem Strophe 1 und 2 besingen, und der Glaube des Menschen werden einander zugeordnet. Während die Strophen 1-3 die Perspektive des Gottessohnes und leidenden Lammes einnehmen, wechselt Paul Gerhardt ab Strophe 4 die Richtung der Betrachtung. Nunmehr handelt das Lied vom Menschen unter der Bedingung der Gnade. Kann man soweit gehen und in der Anlage des Liedes die Dialektik von Gesetz und Evangelium, wie sie Luther vielfach zum Ausdruck gebrach hat, wiederfinden? Es ist die Haltung der Dankbarkeit und Frömmigkeit, aus der nun in gewisser Weise ein anderes Licht auf die Strophen 1-3 fällt. Und obwohl die österliche Gewissheit in diesem Passionslied nicht direkt zum Ausdruck kommt und nur am Ende der dritten Strophe metaphorisch durch das Bild der zerspringenden Felsen angedeutet wird, spürt man es beim Singen des Liedes sehr wohl deutlich. Der Grund allen Singens und letztendlich auch der Grund aller Passionstheologie ist das Ostergeschehen. Dieser geradezu fröhliche Wechsel, der das Gemüt und die Seele vom Mitleiden hin zur Freude bewegt, ist deutlich in Strophe 3 zu hören, indem Paul Gerhardt geradezu lautmalerisch die Vokale unterstützend zu Hilfe nimmt: „O Liebe, Liebe, du bist stark…“
Dieser große Freund, der in Strophe 2 der Retter des Menschen wird, ist es wert, im Leben geehrt und verehrt zu werden. Ihm unterstellt sich der Mensch und eignet ihm sein Leben zu. Auch hier ist der Dichter ganz nahe an der biblisch-reformatorischen Einsicht des in Jesus Christus neu gewordenen Menschen. So schreibt Paul Gerhardt als Quintessenz seiner Lebensauffassung in Strophe 4: „Mein Lebetage will ich Dich/ aus meinem Sinn nicht lassen“ und am Schluss der Strophe geradezu im Stile eines Hochzeitsversprechens: „ich will mich Dir, mein höchster Ruhm,/ hiermit zu deinem Eigentum/ beständiglich verschreiben.“ In gewisser Weise zitiert Paul Gerhardt hier eine Stelle aus den Liedern Martin Luthers, die das Leben des Menschen unter der Gnade ähnlich im Bild des hochzeitlichen Tausches beschreibt. Das Leben im Glauben erinnert sich stets der Quelle und des Ursprungs der Gnade und schöpft daraus Kraft. Aus dem Glauben resultiert dann der Wunsch selbst tätig zu werden und der Dichter möchte sich selbst in seinen Worten „zum Freudenopfer bringen“. Was hier in durchaus euphorisch klingender Sprache und sicherlich im Gestus pathetischen Wollens ausgedrückt wird, ist letztlich die Grunderkenntnis des Glaubens, nämlich das eigene Leben nicht als Ergebnis des eigenen Könnens oder Wollens zu begreifen, sondern als in Gottes Wirken begründet zu sehen und dieses göttliche Wirken leitet sich von dem stellvertretenden Tod Jesu Christi her. Das Leben im Glauben findet seine Identität in der Welt, indem es rückverweisend auf Christus blickt. Gleichzeitig resultiert aus dieser Erinnerung eine zukunftsweisende und das Leben nach vorne stark verändernde Kraft, wodurch sich letztlich das dritte große protestantische Thema innerhalb des Passionsliedes ankündigt, nämlich die Hoffnung oder anders: das auf das Reich Gottes ausgerichtet bleibende Leben.

III) Mit dem Glauben besser leben

Gegen Ende des Liedes zeigt sich dann noch dieses Thema, das – obwohl mit dem zweiten eng zusammenhängend – eine Nuance anders ausgerichtet ist und das wie ich meine heute vor dem Hintergrund einer synkretistischen Alltagsfrömmigkeit besonders aktuell ist. Vielleicht kann man diesen thematischen Appendix, der schon bei Paul Gerhardt auftaucht in Aufnahme einer Begrifflichkeit von Albert Schweitzer mit dem Begriff der „Lebensdienlichkeit“ des Glaubens beschreiben. Der Glaube dient dazu, den Menschen im Leben zu bewahren und – so sagt es Paul Gerhardt in Strophe 6 – soll sein „mein Schutz,/ in Traurigkeit mein Lachen,/ in Fröhlichkeit mein Saitenspiel“. Damit geht es um die Bewährung im Leben, die mit dem Glauben an Jesus Christus erreicht werden soll. Paul Gerhardt dichtet in dieser vorletzten Strophe: „Das soll und will ich mir zunutz/ zu allen Zeiten machen;/ im Streite soll es sein mein Schutz,/…“ Wollte man in der modernen Sprache der Werbung argumentieren, so könnte man leicht den Slogan kreieren: Mit Glauben lebt sich’s besser“. Der Glaube ist der Begleiter des Menschen in allem auf und ab des alltäglichen Lebens und in Einsamkeit geradezu auch ein „Sprachgesell“.
Hier ist das Passionslied durchaus aktuell und wie ich finde äußerst modern. Trotz aller neuen Kommunikationsmittel suchen viele Menschen heute den Halt, der im Leben und im Sterben zwischen allem Wandel Bestand hat. Wir reden unendlich viel, telefonieren noch mehr, seit es Flatrates gibt, haben Handys und Email. Aber kommen wir uns bei alldem auch nahe? Reden wir über das, was „uns unbedingt angeht“: den Sinn des Lebens und die Angst vor dem Tod? Es geht letztlich um die Lebensorientierung, die inmitten der bunten Palette der Lebensangebote wegzubrechen droht. Es ist so wie Peter Maffay in dem Song „Über sieben Brücken musst Du gehen…“ besingt: „Manchmal bin ich schon am Morgen müd‘,/ Und dann such‘ ich Trost in einem Lied“. Der Glaube dient der eigenen Lebensorientierung. Wenn es eine Botschaft gibt, die mich trotz der anfänglich beschriebenen Schwierigkeiten mit diesem Passionslied immer wieder neu beschäftigen lässt, so ist es diese – von Paul Gerhardt in Noten gesetzte – Zuversicht, dass der Glaube an Jesus Christus im eigenen Leben trägt. Warum ich das Heil meines Lebens ausgerechnet daran hängen soll, dass einer für mich den Gang auf die Würgebank gegangen ist, kann ich im letzten Grund gar nicht begründen. Vielleicht ist es im Tiefsten das Provokative, dass ein Anderer sich demonstrativ schützend vor mich stellt und für mich stellvertretend stirbt und ich statt selber tot zu sein frisch und frei weiterlebe? Kein Mensch würde dies freiwillig für einen anderen Menschen tun. In diesem stellvertretenden Tod Jesu Christi liegt das Geheimnis, dass das eigene Leben einen Grund hat, der außerhalb unserer Möglichkeiten liegt. Das ist das ganze Geheimnis des Glaubens, das Gabriele Wohmann vermutlich mit dem Wort von der „extrem komplizierten Glaubenszuversicht“ meinte. Wenn man aber die Lieder von Paul Gerhardt singt und beim Singen spürt, dass da eine besondere Kraft auf einen übergeht, dann wird die komplizierteste Erkenntnis wieder ganz einfach. Letztlich ist die Musik dann doch eine „hochtheologische Angelegenheit“, wie Luther einstmals feststellte, weil die Seele spürt, worum es im Glauben wirklich geht. Na ja, und Paul Gerhardt konnte mehr als ein Liedchen vom Glauben singen. Singen Sie doch zuhause einfach mal eins mit! Sie wissen nicht wie? Schau’n Sie im Gesangbuch nach.


Prof. Dr. Ralf Hoburg
E-Mail: hoburg@efh-hannover.de

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