Exodus 20, 2

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Exodus 20, 2

 

Predigtreihe zum Dekalog, Februar 2002
Exodus 20, 2 – Paul Kluge

„Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägypten,
aus der Knechtschaft geführt habe.“ (Ex. 20, 2)

Liebe Geschwister,

die Osterferien rückten näher, und darauf freute er sich.
Nicht, daß er Ferien bekäme – seit fast zehn Jahren genoß
Werner seinen Ruhestand. Wohlverdient, wie der Superintendent bei der
Verabschiedung gemeint hatte. Inzwischen sah er das auch so, denn er hatte
gemerkt, was alles ihm der Pfarrdienst verhindert hatte. Lange Spaziergänge
ohne schlechtes Gewissen zum Beispiel, nächtelanges Lesen und Schlafen
bis in die Puppen, Zeit für die Kinder und besonders für seine
Enkelkinder. Zwei wohnten ganz in der Nähe, die sah er häufig.
Sein ältester Enkel aber wohnte mit seinen Eltern weit entfernt,
und trotz seiner fast 19 Jahre kam er wenigstens in den Oster- und Herbstferien
zu Besuch. „Erholung von meinen Eltern“ nannte er das, und das
verstand Werner nur zu gut.

Für ihn waren die sommerlichen CVJM-Zeltlager auch Erholung vom
Elternhaus gewesen, besonders von seinem Vater. Der hatte unbedingten
Gehorsam gefordert; „Heute bleibst du hier!“ hatte der gelegentlich
entschieden, wenn Werner wie verlangt um Erlaubnis gebeten hatte, zur
Gruppenstunde gehen zu dürfen. Werner war der Gruppenleiter. Sein
Vater hatte sein willkürliches Verhalten stets mit dem vierten Gebot
begründet, und Werner hatte zähneknirschend gehorcht. Noch heute
überkam ihn ohnmächtige Wut, wenn er sich daran erinnerte. Sein
Vater führte überhaupt ständig die Gebote als Erziehungsmittel
im Munde, und als er wieder einmal damit prahlte, wie er als Soldat mit
einer einzigen Handgranate einen ganzen „Trupp Feinde unschädlich
gemacht“ hatte, hatte Werner gesagt: „Du sollst nicht töten!“
Darauf hatte er eine schallende Ohrfeige und dann vier Wochen Hausarrest
bekommen. Seine Mutter hatte nur hilflos die Schultern gezuckt. Wie sie
es auch tat, wenn sie mal wieder von einer Affäre ihres Mannes erfuhr.
Doch an Scheidung hatte sie nie gedacht.

Werner erinnerte sich an die quälend langen Sonntage seiner Kindheit:
Vormittags in die Kirche, und nach dem Mittagessen saßen sie in
der Stube, hörten „Wunschkonzert“ im Radio, abends wurde
Mensch-ärgere-dich-nicht gespielt oder Halma. Vater trank sein Bier
dazu und rauchte eine „Sonntagszigarre,“ die anderen bekamen
Apfelsaft. Einmal, Werner war vielleicht vierzehn oder fünfzehn gewesen,
hatte er eine von Vaters Sonntagszigarren gemopst und heimlich geraucht
– nicht ahnend, daß der Vater für jede gerauchte Zigarre einen
Strich im Deckel machte. Mit „Du sollst nicht stehlen“ wurden
diesmal Ohrfeige und Hausarrest begründet. Ein andermal hatte Werner
vor dem Elternhaus stolz eine Runde auf dem „Sportrad“ seines
Schulfreundes gedreht und prompt vom Vater zu hören bekommen: „Du
sollst nicht begehren …!“

Als Werner dann studierte – durch sein Engagement im CVJM war er auf
Theologie gekommen, obwohl ihn auch anders gelockt hätte – belegte
er als Erstsemester im Fach Altes Testament eine Vorlesung zum Thema „Dekalog.“
Was das hieß, wußte er noch nicht, aber der Professor sollte
gut sein. Und dann lernte er, daß mit „Dekalog“ die zehn
Gebote bezeichnet wurden und daß sie so eine Art Grundgesetz des
Bundes Gottes mit seinem Volk Israel waren, lernte auch, daß es
in der Bibel ein Gebot gab, das im Kleinen Katechismus nicht vorkam und
daß dafür aus dem ursprünglich zehnten durch Teilung das
neunte und das zehnte geworden waren. Hörte, daß die Gebote
nicht Drohung, sondern Verheißung Gottes an sein Volk waren – denn
das „du sollst nicht“ kann man genau so richtig mit „du
wirst nicht“ wiedergeben: Wer den Bund mit Gott hält, der wird,
ja, der kann bestimmte Dinge einfach nicht tut, weder fremde Götter
anbeten noch töten, stehlen oder ehebrechen. Er begriff, daß
das vierte Gebot – „Du sollst Vater und Mutter ehren“ – kein
Mittel ist, um Kinder zum Gehorsam zu zwingen, sondern die Altersversorgung
nicht mehr arbeitsfähiger Eltern sichert. Auch ging ihm auf, daß
die Heiligung der Feiertage ja sogar für Sklaven eine Sechstagewoche
bedeutete. Das war damals sicherlich ein beispielloses Arbeitsrecht gewesen.
So fand er einen neuen Zugang zu den Geboten, lernte, sie als eine Wegweisung
des gnädigen Gottes zu verstehen und nicht als böse Falle eines
rachsüchtigen Gottes. Ihm wurde klar, daß auch das Gesetz Gottes
Evangelium ist – weil es dem Menschen Chancen eröffnet, Angebote
macht, das Alltagsleben nach Gottes Willen zu gestalten. Was sie allerdings
oft nicht wollen oder können.

Werner dachte an Menschen aus seinen Gemeinden zurück. Drei mal
hatte er gewechselt, weil die Arbeit ihm zur Routine wurde. Und weil die
Gemeindeglieder ihm so vertraut geworden waren, daß die Beerdigungen
ihm immer schwerer gefallen waren. Doch wo er auch war, in einer Dorfgemeinde,
in einer Kleinstadt oder in einer Satellitenstadt einer Großstadt:
Es waren ihm immer die gleichen, es waren ihm die immer gleichen zwischenmenschlichen
Probleme begegnet: Konflikte zwischen jung und alt, Neid, Betrug und Diebstahl,
sogar Mord. Und etwa die Hälfte der verheirateten Menschheit, so
schien es ihm, ging fremd. An Sonn- und Feiertagen zu arbeiten, war inzwischen
fast normal, und der Glaube an andere Götter, ob sie nun „Geld“
hießen oder „Freizeit,“ den Namen eines Stars trugen oder
eine politische Parole waren, hatte sich weit verbreitet. Wie auch völlige
Gottlosigkeit, besonders im Osten. „Kein Wunder, daß Unfriede
herrscht auf der Erde,“ dachte Werner mit einem Lied aus dem Gesangbuch,
und der Refrain hakte sich bei ihm fest: „Friede soll mit euch sein,
Friede für alle Zeit! Nicht so, wie ihn die Welt euch gibt: Gott
selber wird es sein.“ Dieser Refrain beschrieb für Werner das,
was die Gebote bewirken wollten – und konnten, wenn die Menschen könnten
und wollten.

Es klingelte an der Tür, „Post,“ hallte es durchs Treppenhaus,
und Werner ging gleich zum Briefkasten. Als Gemeindepfarrer hatte er sich
oft über die viele Post geärgert, die von der Kirchenleitung,
vom Diakonischen Werk, von Verlagen und Versandhäusern gekommen war,
doch nun freute er sich über jeden Brief. Dieser kam von seinem Enkel,
der sein Kommen ankündigte. Mit Mutters Auto wolle er kommen, denn
er habe den Führerschein gemacht, schrieb er. Und im Religionsunterricht
hätten sie nach langer Zeit mal wieder über die Gebote gesprochen.
Es sei ihm unverständlich, daß trotz der klaren Vorgaben der
Gebote Betrügereien und Diebereien, ja, sogar Mord und Totschlag
offenbar an der Tagesordnung seien, schrieb der Enkel, und daß er
darüber gern mal mit seinem Opa sprechen würde. Es sei doch
kaum zu begreifen, daß die Menschheit in dreitausend Jahren nicht
klüger geworden sei, meinte er, und er könne sich nicht vorstellen,
daß alle Propheten und Pastoren drei Jahrtausende vergeblich gepredigt
hätten. – „Der kennt die Menschen noch nicht,“ dachte Werner.
Dann suchte er in seinem Bücherregal nach einem Buch über die
Gebote, stellte es aber wieder zurück, als er darin gelesen hatte.
Es stammte aus seiner Studentenzeit, und er konnte mit dem, was er las,
nichts mehr anfangen. Es war sicherlich alles richtig, was da stand, aber
es hatte mit den Menschen nichts zu tun, wie er sie kennengelernt hatte.
Es war wohl besser, seinem Enkel von Menschen zu erzählen statt theologische
Richtigkeiten weiterzugeben.

Zwei Tage später kam der Enkel, es war schon spät. Er war in
einen Stau geraten, nun war er hundemüde, wollte nur noch ein Bier
und dann schlafen. Werner verkniff sich die Bemerkung, daß die Bahn
eben doch bequemer und manchmal sogar schneller sei als ein Auto. Am nächsten
Morgen so gegen zehn frühstückten sie zusammen. Werner las als
erstes die Losung, diesmal laut, und war – wie so oft – überrascht:
„Ich bin der Herr, dein Gott, der ich dich aus Ägypten, aus
der Knechtschaft geführt habe. – Du kennst den Text?“ – „Nein,
wieso?“ fragte der Enkel, und Werner erzählte, daß es
sich um den vollständigen ersten Satz der zehn Gebote handele und
daß die Gebote das Handeln des freien Menschen geschrieben, frei
von knechtischem Gehorsam gegenüber weltlichen Herrinnen und Herren,
frei aber auch von den ‚inneren Herrinnen und Herren,‘ den destruktiven
und gemeinschaftsfeindlichen Impulsen.

„Meinst du das, was Psychologen als Triebhaftigkeit bezeichnen?“
fragte der Enkel, und als Werner nickte, fuhr er fort: „Aber sag
mir doch mal, warum trotz der Gebote die Menschen immer noch lügen
und betrügen, rauben und morden und so!“ – „Weil sie Menschen
sind,“ wollte Werner antworten, sagte dann aber: „Weil jeder
einzelne Mensch für sein eigenes Leben diese Orientierung neu braucht.
Jeder muß aus eigenen Erfahrungen lernen, daß bestimmte Dinge
nicht gehen. Sag einem Dreijährigen, daß die Herdplatte heiß
ist: er wird sie trotzdem anfassen. Aber dann weiß er, daß
heiß weh tut.“

Der Enkel lachte: „Als ich gestern losfuhr, sagte Mutter natürlich:
Fahr nicht so schnell. Und doch hätten sie mich fast geblitzt.“
– „Siehst du,“ meinte der Großvater, „und als mich
kürzlich jemand ausgebremst hat, hätte ich ihn am liebsten mit
Vollgas gerammt. Meine impulsive Wut kocht immer mal wieder hoch. Weißt
du, der erste Paragraph der Straßenverkehrsordnung ist fast so etwas
wie eine Zusammenfassung der Gebote; jedenfalls derer, die das Zusammenleben
von Menschen regeln. Kennst du ihn?“

Der Enkel zögerte einen Moment, bis er meinte, daß es darum
ginge, andere Verkehrsteilnehmer nicht mehr als unumgänglich zu beeinträchtigen.
Werner gab sich mit der Antwort zufrieden – er kannte den Wortlaut auch
nicht mehr so genau – griff nach der Bibel, die immer auf dem Eßtisch
lag, und blätterte. „In Bibelkunde bin ich heute besser als
beim Examen,“ stellte er zufrieden fest, und las aus dem Philipperbrief:
„Jeder richte den Blick nicht nur auf das Seine, sondern auch auf
das, was des anderen ist. Klingt nicht viel anders, was? Das Auch ist
wichtig, auch die Interessen der Mitmenschen beachten und berücksichtigen.
Im Kleinen wie im Großen.“ – „Also von mal-auf-Vorfahrt-Verzichten
bis Menschenwürde achten,“ interpretierte der Enkel und meinte
dazu: „Aber das ist doch so vernünftig, daß das jeder
einsehen kann!“ – „Wenn jeder die nötige Vernunft und Einsicht
hätte,“ ergänzte Werner, „Heute steht in der Zeitung,
daß jemand durch Raserei einen Unfall verursacht hat; ein Toter,
zwei Schwerverletzte. Dem Fahrer war erst kürzlich wegen Raserei
der Führerschein entzogen worden. Wo sind da Vernunft und Einsicht?

Du fragst in deinem Brief, ob denn alles Predigen von Propheten und Pastoren
vergeblich gewesen sei.“ – „Ja, ist es denn nicht so?“
warf der Enkel etwas ungeduldig ein und bekam ein etwas lautes Nein zu
hören. „Wir müssen die Menschen nehmen, wie sie sind, es
gibt keine anderen, und wir werden sie nicht ändern. Wir können
ihnen nur immer wieder, am besten jedem einzeln, helfen, einigermaßen
gut miteinander auszukommen.“ – „Dann hat dein Beruf ja eine
tolle Zukunft, ich glaub, ich werde Pastor,“ meinte der Enkel, und
Werner wußte nicht, ob das Ironie oder Ernst war. Dann fuhr er fort:
„Was wir aber können, ist, die Verhältnisse, die Lebensbedingungen
so zu ändern, daß es sich in ihnen friedlicher und gerechter
leben läßt. Hunger erzeugt Gewalt. Also müssen wir darauf
hinwirken, daß die Güter der Erde gerechter verteilt werden,
um Gewalt von Menschen gegen Menschen und gegen die Natur zu verringern.

Weißt du, manchmal denke ich: Wenn Gott so empfinden würde
wie ein Mensch, dann könnte er über seine Kreaturen nur weinen
oder in wilde Wut geraten. Statt dessen haben wir seine Gebote, sein Wort,
wonach und womit wir miteinander leben können. Das wir aber immer
wieder neu hören müssen, weil die destruktiven Kräfte in
uns und die negativen Mächte um uns uns das Leben so schwer machen.“

Der Enkel dachte einen Augenblick nach, bevor er feststellte, das sei
ja die reinste Sisyphusarbeit, nie fertig und immer wieder von vorn anzufangen.
Werner fand den Vergleich durchaus treffend, doch dann erzählte er
von einem seiner Gemeindeglieder, mehrfach wegen Diebstahls, auch wegen
Körperverletzung vorbestraft. Werner hatte ihn im Gefängnis
regelmäßig besucht. Eines Sonntags war der Mann im Gottesdienst
erschienen und von da an regelmäßig. Werner hatte ihm geholfen,
eine Arbeit zu finden und hatte es gewagt, den Mann bei der Haussammlung
für die Diakonie einzusetzen. Bald war der Mann ehrenamtlicher Helfer
in der Bahnhofsmission geworden – wo er früher oft frühstücken
gegangen war und wo er dann einen Teil seiner alten Kumpels traf. Der
Mann war nie mehr rückfällig geworden.

„So etwas gibt es eben auch,“ meinte Werner, „und darum
sind die Gebote doppelt wichtig: Um Menschen Orientierung zu geben – und
um den Propheten und Pastoren etwas an die Hand zu geben, womit sie andere
auf einen guten Weg bringen können. Apropos Weg: Die Sonne scheint,
laß uns spazieren gehen, da können wir weiterreden.“

Der Enkel räumte den Tisch ab, dann gingen sie los. Aßen in
einem kleinen Gasthaus zu Mittag, tranken in einem anderen Kaffee und
kamen abends müde zurück. Als der Enkel schlafen gehen wollte,
sagte er noch: „Ich hab das jetzt begriffen mit den Menschen und
den Geboten, daß die immer wieder neu gepredigt werden müssen.
Und wenn das Unrecht weniger werden soll, müssen wir die Lebensbedingungen
ändern, damit die Menschen auf Gewalt verzichten können.“

Werner war versucht, das Gespräch wieder aufzunehmen, aber der Wunsch
war stärker, den angefangenen Krimi zu Ende zu lesen.

Amen

Gebet:

Guter Gott, dein Wort und dein Gebot hast du uns als Licht auf unseren
Wegen geschenkt. Denn böses Dunkel umgibt uns, und dunkles Böses
ist auch in uns. Lug und Betrug, Diebstahl und Raub, Mord und Totschlag
geschehen um uns und in uns. Du aber willst, daß wir den Weg des
Lichtes gehen, den Weg des Lebens. Darum weist du uns immer wieder zurecht,
weist uns zu dem, was Recht ist. Dafür danken wir dir.

Guter Gott, wir bitten dich heute für alle Menschen, die anderen
Menschen Schlimmes antun: Führe sie zur Einsicht ihres Unrechts und
hilf ihnen, Wege zu einem besseren, dir gefälligeren Leben zu finden.
Wir bitten dich auch für alle, die sich mühen, deinem Wort und
Gebot mehr Gehör und Geltung zu verschaffen: Laß sie nicht
müde werden in ihrem ermüdenden Tun, laß sie nicht resignieren
bei ihrer scheinbaren Erfolglosigkeit.

Guter Gott, auch für uns bitten wir dich. Du weißt, daß
uns manchmal Gedanken und Impulse überkommen, die deinen Geboten
widersprechen. Gib du uns Kraft, den dunklen Mächten in uns nicht
zu erliegen. Mache uns vielmehr zu Menschen, die andere aus dem Dunkel
zu deinem Licht führen.

Liedvorschläge: EG 447, 1, 7-20; EG 196, 1, 2, 5; EG 295,
1 – 4; EG 420, 1 – 5

Paul Kluge
Provinzialpfarrer im Diakonischen Werk
in der Kirchenprovinz Sachsen e. V.
E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de

 

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