Exodus 20,12

Exodus 20,12

 

Predigtreihe zum Dekalog, Februar 2002
Das vierte Gebot (Exodus 20,12) – Heinz Fischer

Liebe Christen,

es kann kein Zufall sein: Das vierte Gebot ist das erste auf der zweiten
Tafel. In vielen alten Kirchen gibt es Bilder von Mose oder gar Standbilder,
die manchmal sogar die ganze Kanzel tragen. Immer hat Mose neben dem Schlangenstab
zwei große Tafeln in der Hand. Wir haben keine Mosefigur mit den
beiden Tafeln in unserer modernen Kirche. Ich habe sie hier in Pappe nachgebildet
und die drei ersten Gebote mit römischen Zahlen auf die erste Tafel
geschrieben. (Anmerkung: Zum Predigteinstieg werden zwei Mose-Tafeln gezeigt,
die mit großen römischen Ziffern beschrieben sind und deutlich
machen, dass das vierte Gebot das erste der zweiten Tafel ist.) Wir haben
über die ersten drei Gebote schon nachgedacht und wissen: Sie beziehen
sich auf das Verhältnis von uns Menschen zu Gott. Die zweite Tafel
bezieht sich auf das Verhältnis der Menschen untereinander, und da
steht das vierte Gebot ganz oben.
Wir kennen es ja alle, aber warum ist das so?
„Du sollst deinen Vater und deine Mutter ehren, auf dass dir’s wohlgehe
und du lange lebest auf Erden.“

Das Gebot bezieht sich auf das Verhältnis der Generationen untereinander.
Was ist wirklich langlebig in unserer oft so kurzlebigen Zeit?
Langlebig ist beides: tiefe Familienbindungen und tiefe Zerwürfnisse
in der Familie. Aber eben darauf zielt das Gebot.

Wenn Schulkinder und Konfirmanden dieses Gebot lernen, geht es in diesem
Alter heutzutage vielleicht erst einmal darum, die Beziehungen der Generationen
in einem weiteren Zusammenhang zu sehen und die Großeltern wahrzunehmen,
nach den Vorfahren zu fragen. Das war in alten Zeiten einfacher zu erkennen,
wenn der Bauernhof in der Familie blieb und der Enkel wusste, in welchen
Feldern der Uropa die Drainage gelegt hatte oder welches Waldstück
er gepflanzt hatte.

Wenn die Beziehungen zwischen den Generationen langfristig gut sind und
gelingen, dann geht das über mehrere Generationen meistens so weiter.
jedenfalls kennen wir alle Familien, in denen das gelingt. Das müssen
nicht immer die „Alteingesessenen“ sein! Da ist manchmal das
Gegenteil der Fall! Es gibt Familien, die weltweit verstreut sind und
doch ganz eng zusammenhalten.

Beobachten Sie einmal in unseren modernen „Stadtkulturen“,
wie in den Familien manches liebevoll aufbewahrt wird, was an die Vorfahren
erinnert. Es ist viel mehr durch die Kriege, die Vertreibungen, die Umsiedlungen
und die Flucht gerettet worden, als die jüngere Generation denkt.
Das zu vermitteln gebietet das vierte Gebot der älteren Generation.
Es kann sich doch bei dem „Ehren“ des Vaters und der Mutter
nicht um eine merkwürdige Art der Unterwerfung handeln. Die ältere
Generation muss vermitteln, was wichtig ist und was bleibt. Dann beginnen
die Jüngeren wie von selbst das zu „ehren“, was ihnen vermittelt
worden ist. Diese Vermittlung ist schwer, erfordert Einfühlungsvermögen
und eine Kontinuität in der Erziehung über die eine Generation
hinweg. Das kann keine Familie der Schule oder dem Pastor überlassen!
Besonders schwer wird es für die jüngere Generation, wenn Familien
auseinanderbrechen. Gerade der Glaube lehrt uns, dass Gott aus den Bruchstücken
des Lebens wieder ein ganz brauchbares Gefäß zusammensetzen
kann. Warum wird er denn im Alten Testament so oft mit einem Töpfer
oder Gärtner verglichen?

Da sind wir bei einer ganz entscheidenden Sache: Das vierte Gebot kennt
den Generationskonflikt durchaus. Aber es trägt uns auf, trotz aller
Konflikte das Wesentliche und Wichtige weiterzugeben: Das ist unser Gottvertrauen!
Nicht die Lebenserfahrung, die jede Generation selbst sammeln will und
muss, aber das Gottvertrauen kann weitergegeben werden, indem es vorgelebt
wird. Es ist ein ganz großer Unterschied, ob die Eltern „dumme
Sprüche“ über den Glauben, die Bibel, die Kirche und die
Sakramente machen und den Kindern sagen: „Den Konfirmandenunterricht
musst du eben über dich ergehen lassen!“ Oder ob sie immer wieder
zeigen, was ihnen selbst der Glaube im Leben immer wieder gegeben und
bedeutet hat.

Die Gebote setzen sicher auch sinnvolle Grenzen und sind wie ein Weidezaun.
Jeder weiß, dass die Tiere immer am Rande und außerhalb des
Zaunes das beste Gras suchen und die Grenzen ausdehnen wollen. Viel anders
gehen wir Menschen mit den Geboten auch nicht um. Aber wir Menschen können
die ganz großen Freiheiten erkennen, die innerhalb des Weidezaunes
gegeben sind und die ganz großen Gefahren der Grenzüberschreitung.
Vielleicht ruft uns das vierte Gebot einfach nur die alte Weisheit ins
Herz und in den Verstand, dass wir nicht die ersten Menschen auf der Welt
und (hoffentlich) auch nicht die letzten sind. Jeder und jede gehört
zu einer bestimmten Generation. Die Weitergabe der Weisheit, des Glaubens,
der Selbstbegrenzung gelingt nur, wenn wir die Generation vor uns wahrnehmen
und ernst nehmen – eine andere Übersetzung für „ehren“.
Ich weiß natürlich, wie sich Jüngere über Ältere,
Kinder über Eltern, Eltern über Alte erregen können.
Da fällt mir ein Plakat ein, das einen Mönch mit einer Sprechblase
zeigt. „Bruder Konrad“ steht darüber und in der Sprechblase:
„Ich könnte mich den ganzen Tag ärgern, aber ich bin nicht
verpflichtet dazu!“ So können sich Eltern über ihre Kinder
den ganzen Tag ärgern, aber sie sind nicht verpflichtet dazu. Auch
Kinder, Konfirmanden etwa mit 14 Jahren können sich den ganzen Tag
über ihre Eltern ärgern. Aber sie sind nicht verpflichtet dazu.

Das vierte Gebot ermuntert uns dazu, starke Eltern zu sein und wirklich
zu erziehen. Junge Menschen ehren die Väter und Mütter wie von
selbst, die sie erziehen und nicht laufen lassen. Erziehen hängt
mit „ziehen“ zusammen und das hat eine Richtung. „Laufen
lassen“ ist eine Schwäche der Elterngeneration, die sich bitter
rächt. Die Eltern verschleiern ihre Schwäche geschickt und sagen:
„Mein Kind soll sich selbst entscheiden“ oder „wir machen
unserem Kind keine Vorschriften“. Aber Kinder brauchen Vorschriften,
Hinweise und Entscheidungshilfen. „Laufen lassen“ und „sie
sollen selber entscheiden“ ist Angst vor der Erziehung. Kinder mit
solchen Erfahrungen werden niemals den Vater und die Mutter ehren. Das
vierte Gebot verpflichtet beide Generationen, die Eltern und die Kinder.
„Das gibt sich“, sagen schwache Eltern von den Fehlern ihrer
Kinder. O nein!
Es gibt sich nicht! Es entwickelt sich! (Marie von Ebner-Eschenbach, 1830-1916).
Hundert Jahre später, in unserer Zeit, überschreibt eine Mutter
von vier Töchtern ihr Erziehungsbuch: „Erziehung als Herausforderung“.
Die Autorin ist die bekannte Landesbischöfin von Hannover, Margot
Käßmann. Wie sich die Zeiten gleichen! Das vierte Gebot hat
auch auf die Sozialgesetzgebung und die Staatsorganisation großen
Einfluss genommen. die Rentenversicherung und die Pflegeversicherung beruhen
beide auf der Idee des „Generationenvertrages“. Nur wenn die
Jüngeren sich frühzeitig für die Alten engagieren, können
wir lange leben in dem Land, das der Herr, dein Gott, dir geben wird.
Amen.

Propst Heinz Fischer, Helmstedt
Tel.: 05351-2093, Fax: 2094

 

de_DEDeutsch