Exodus 34, 4-10

Exodus 34, 4-10

 

Göttinger

Predigten im Internet

hg. von U. Nembach, Redaktion: R. Schmidt-Rost


19. Sonntag nach Trinitatis,
6. Oktober 2002
Predigt über 2. Mose 34, 4-10, verfaßt von Annette Noller

Liebe Gemeinde,

Es gibt Bilder, die bleiben im Gedächtnis. Unvergessliche Bilder,
nicht nur für einzelne, sondern für viele. Zu diesen Bildern
gehört der Kniefall Willy Brandts vor dem Mahnmal des Warschauer
Ghettos. Erst vor kurzem kam Abends eine Sendung über die Kanzlerschaft
Brandts. Es ist die Zeit des kalten Krieges. Der ‚Ostblock‘ und die ‚Westmächte‘
stehen sich unversöhnlich gegenüber. Der deutsche Bundeskanzler
ist zur Aussöhnung in Polen und legt im ehemaligen Ghetto einen Kranz
nieder. Der noch erhaltene schwarz-weiß Film zeigt Brandt, wie er
ganz offiziell, so wie es das Protokoll vorschreibt, gemessenen Schrittes
die flachen Stufen zum Mahnmal hinaufsteigt. Er beugt sich nieder, um
die Bänder des Kranzes zu glätten. Im Zurücktreten dann
– einer Eingebung folgend, kniet er vor dem Mahnmal nieder, das an die
vielen jüdischen Menschen erinnert, die von diesem Platz aus in die
Vernichtungslager der Nationalsozialisten transportiert wurden. Ungeplant
sei diese Geste gewesen, sagen seine Berater, spontan, der Eingebung der
Situation folgend. Der Kniefall Brandts hat viel zustimmende, aber auch
ablehnende Reaktionen ausgelöst. Er hatte, so sagen die Kommentatoren,
aus heutiger Sicht, eine größere aussöhnende Wirkung als
es die gesamte Diplomatie hätte erreichen können. Marcel Reich
Ranicki, der bekannte Literaturkritiker sagt in diesem Film, dass er,
ein Kind jüdischer Eltern, selbst an diesem Platz im Warschauer Ghetto
gestanden hat und die Deportation in die Vernichtungslager gesehen hat.
Er sagt, dass er seit diesem Kniefall Brandts wußte, warum er als
Überlebender des Holocaust in die Bundesrepublik Deutschland zurückgekehrt
ist. Worin liegt die unvergessliche symbolische Wirkung dieser Geste Brandts?
Der Kniefall des deutschen Bundeskanzlers ist eine unwiederholbare Geste
der Hochachtung der Opfer, ein Zeichen demutsvollen Schuldeingeständnisses
vor der Welt und damit ein Symbol der Versöhnung.

Die Frage von Schuld und Versöhnung, liebe Gemeinde, gehört
zu den großen Aufgaben unseres Lebens. Was mich bis heute an der
Haltung Willy Brandts fasziniert, ist die selbstkritische Erkenntnis,
dass ich vermutlich nicht in der Lage bin, eine solch demutsvolle Haltung,
eine solch rückhaltloses Schuldeingeständnis mit so viel Größe
zu vollziehen. Schuld und Versöhnung sind schwierige, immer wiederkehrende
Kapitel unseres Lebens. Nicht immer werden so tiefgreifende Fragen berührt
wie im Warschauer Ghetto, nicht jede Schuld ist so groß wie die
Verbrechen an den jüdischen Mitmenschen in der Zeit der national-sozialistischen
Diktatur in Deutschland. Und doch durchziehen Schuld und Aussöhnung
bis heute die Politik. Schuld und Versöhnung bewegen auch unser alltägliches
Leben – unser Leben mit unseren Kindern, Familien, Freundinnen und Freunden,
Kolleginnen und Nachbarn. Dass wir aneinander und an unseren guten Vorsätzen
scheitern, dass wir die eigenen Ziele, Wünsche und Egoismen über
die Bedürfnisse anderer stellen, das gehört zu unserem Leben
dazu. Es beginnt bereits bei den Kleinen und ist bei uns Großen
keineswegs besser.

Schuld und Versöhnung durchziehen auch unseren Glauben. Die Bibel
erzählt davon und ihre Erzählungen sind heute so aktuell wie
vor zweitausend Jahren. Die Bibel erzählt von Menschen, die sich
von Gott abwenden, die sich eigene, goldene Götzen schaffen und dabei
Gottes Gebote vergessen. Unser heutiger Predigttext handelt davon. Er
handelt von der menschlichen Schuld, aber er handelt ganz besonders von
Gottes Erbarmen und Gnade, mit der die Menschen, die schuldig geworden
sind, mit Gott und mit den Mitmenschen wieder versöhnt werden. Er
handelt von der Versöhnung, die neue Lebensperspektiven, ein neues
Miteinander eröffnet. Es ist die Geschichte, die davon erzählt,
dass Mose nach dem Tanz um das goldene Kalb und nach der Zerstörung
der beiden ersten Gesetzestafeln erneut auf den Berg Sinai steigt und
von Gott die erneute Gnadenzusage für sein Volk erhält. Sühne
und Versöhnung schaffen neue Lebens- und Glaubensperspektiven.

Ich lese Ex 34, 4-10.

Da steht er also, Mose, das Urgestein des Glaubens, mächtig und
leidenschaftlich. Im Zorn über das abtrünnige Volk Israel hat
er die ersten Tafeln zerschlagen. Da steht er und erwartet Gott erneut
auf dem Berg Sinai. Er erwartet Gott, der in der Wolke auf den Berg herabkommt
und sich in der Fülle seiner Gnade offenbart: „Gott, barmherzig
und gnädig und geduldig und von großer Gnade und Treue, der
da Tausenden Gnade bewahrt und vergibt Missetat, Übertretung und
Sünde…“ Gott selbst spricht von sich. Er offenbart sich dem
wartenden Mose als verzeihender Gott. Wie eine Mutter das Kind ihres Leibes
liebt und ihm vergibt, so erbarmt sich Gott über die Menschen. Wie
ein König gnädig Schuld erläßt, so vergibt auch Gott.
Er vergibt die übermütige Sünde, die rebellische Sünde
und auch die, die aus Nachlässigkeit entsteht. Alle diese Nuancen
schwingen in unserem Text mit, wenn von Gottes Erbarmen die Rede ist.
Diese Gnade gilt bis heute. Sie gilt auch uns. Groß steht sie da,
die Gnade Gottes, die so viel Gewicht hat, so viel Erbarmen und so viel
Liebe und Wärme für die Menschen. Groß ist Gottes versöhnende
Kraft!

Aber, liebe Gemeinde, da steht auch noch etwas anderes. Vielleicht sind
sie genauso darüber stutzig geworden wie ich. Unüberhörbar
steht da: Gott liebt und vergibt nicht nur, sondern er rächt auch
unsere Übeltaten – und zwar nicht nur an uns selbst, sondern auch
an unseren Kindern. Stimmt das? Kann das sein? Ist Gott ein strafender
Gott, der unsere Schuld zusammenzählt: Die Spende, die wir nicht
gegeben haben, weil wir lieber etwas für uns selbst kaufen wollten,
der kleine Betrug beim Finanzamt, der Kollege, über den vielleicht
bewußt etwas Schlechtes gesagt haben? Folgt unseren Sünden
Gottes Strafe, auch da, wo wir keinen anderen Ausweg gesehen haben, wo
wir zu schwach waren, eine Situation durchzustehen: ein eskalierender
Streit in der Familie, der Ehebruch und die Scheidung aus Leidenschaft
für einen anderen Menschen? Eine Abtreibung in einer schweren Konfliktsituation,
eine Fahrerflucht aus Angst vor den Konsequenzen, die Gewalt gegen die
Ehepartnerin oder die Kinder? Straft Gott den Unglauben, der als Zentrum
der Sünde gilt? Der Austritt aus der Kirche? Der leise Spott über
Gott und Gottesdienst? Unser Leben, das nur um uns selbst kreist? Straft
Gott eine Gesellschaft, die keinen Raum mehr für den Glauben hat,
die sich selbst genügt? Und wie steht es mit der kollektiven Schuld:
Der Wohlstand in dem wir leben und andere Menschen hungern, ohne dass
wir es schaffen zu teilen? Die Zerstörung der von Gott so gut geschaffenen
Welt durch unseren extensiven Ressourcenverbrauch? Groß ist das
Sündenregister – und es ließe sich beliebig erweitern! Ist
es so, liebe Gemeinde, dass Gott am Ende zusammenzählt? Ist es so,
dass Gott die Strafe folgen läßt – oder noch schlimmer dass
Gott unsere Kinder und Enkelinnen für die Vergehen der Eltern straft?

Um die Frage noch einmal mit aller Deutlichkeit zu stellen: Es geht nicht
darum, dass unsere irdischen, menschlichen Handlungen irdische menschliche
Folgen haben: Die Flutkatastprohe ist eine Folge unserer Umweltsünden
– das ist bekannt. Wir reden auch nicht über Zusammenhänge,
die nicht mehr wiederholt werden müssen wie z.B.: Wer Gewalt sät
wird Gewalt ernten – darum geht es nicht! Es geht nicht darum, dass unser
Tun konkrete Folgen hat, nein, es geht um etwas viel schwerwiegenderes:
Es geht um die Frage, ob Gott uns durch Schicksalsschläge und Krankheiten
persönlich für unsere Sünden straft.

Wer in unseren Gemeinden Hausbesuche macht, begegnet heute noch Menschen,
die glauben, dass Gott sie für ein Vergehen mit Krankheit oder Schicksalsschlägen
bestraft hat. Ich selbst habe solche Gespräche an Krankenbetten geführt.
Ein erschütterndes Beispiel ist die Geschichte von Rasmus, einem
einjährigen Jungen, der an einem inoperablen Gehirntumor stirbt.
Ein Pfarrer berichtet davon. Die Mutter fragt: „Straft Gott mich
für damals, kann er denn gar nicht vergessen?“ ( D. Sattler/
Th. Gundlach, 19. Sonntag nach Trinitatis – 2. Mose 34, 4-10: Gottes Name
ist Programm, in: Predigtstudien VI/ 2, 1995/ 1996, 258ff.) Für die
Frage der Mutter können psychologische Erklärungen angeführt
werden: Wer ein Kind verliert, hat diffuse Schuldgefühle. Eltern
wollen ihre Kinder bewahren. Gelingt das nicht, entsteht gegen besseres
Wissen das Gefühl, versagt zu haben. Trauer löst auch Wut aus.
Die Aggressionen, die angesichts des ungeheuren Verlustes aufbrechen,
spiegeln sich in dem Bild des zürnenden Gottes, der die Missetat
an den Kindern heimsucht. Man kann nachvollziehen, warum die Mutter an
eine Strafe Gottes denkt. Dennoch ist die Frage der Mutter bestürzend.
Sie fordert unseren Widerspruch heraus. Was antworten wir ihr?

Von der Bibel her gelesen ist die Antwort klar. Sie lautet: Nein! Gott
straft uns nicht persönlich durch den Tod unserer Kinder. Auch nicht
durch andere Schicksalsschläge! Wir glauben nicht, dass Gott uns
für einzelne Missetaten straft. Wir glauben es nicht, wenn wir aufs
Kreuz blicken. Wir glauben mit Blick auf Jesus Christus, dass Gottes Erbarmen
und Gnade größer ist als sein Zorn, dass die Liebe für
die Menschen überwiegt und dass Gott aus unserer Schuld und unserem
Vergehen am Kreuz neues Leben geschaffen hat. Jesus Christus hat uns ein
für allemal mit Gott versöhnt. Aus den zerstörerischen
Kräften und Mächten entsteht neues Leben. Gott schenkt neue
Lebensmöglichkeiten! Das ist das Zentrum unseres Glaubens, das unverrückbar
vor uns steht. Das Kreuz steht als Zeichen der Versöhnung in jeder
Kirche, es erinnert daran, dass am Ende Gottes Gnade überwiegt. Das
Kreuz erinnert daran, dass das Leben neu beginnt, auch da, wo Schuld und
Zerstörung und Leid ist. Mit Blick auf das Kreuz können wir
auch zu der Mutter des Kindes sagen, dass Gott nicht durch Krankheit straft.
Es ist gerade anders herum: Jesus Christus ist tröstend bei uns,
wenn wir krank sind. Christus ist bei uns, wenn wir trauern. Christus,
der selbst gelitten hat, weint mit den Müttern und Vätern. Er
leidet mit den Elenden und harrt auch aus bei den Zweifelnden und Verzweifelten.
Gott verläßt uns nicht. Niemand geht aus seiner Gnade verloren.
Der Glaube an die Vergebung der Sünden macht uns frei – und befähigt
uns, den noch immer herrschenden unheilvollen Mächten des Todes und
der Zerstörung entgegen zu treten und Leid und Kummer gemeinsam zu
tragen.

Aus den zerstörerischen Kräften entstehen durch Gottes Gnade
neue Lebensmöglichkeiten. Das bezeugt die Bibel. Mose, so erzählt
der heutige Bibeltext, erhält von Gott die Zusage, dass er den Bund
mit seinem Volk erneuern wird. Diese Zusage steht am Ende. Bemerkenswert
ist, dass Mose noch einmal die Vergebung der Schuld erbittet. Sehr realistisch
sagt Mose, was auch wir heute von uns sagen müssen: „…es ist
ein halsstarriges Volk, und vergib uns unsere Missetat und Schuld…“
(Ex 34,9). Angesichts der Gnade Gottes erkennen wir uns sehr realistisch.
Angesichts der Versöhnung können vielleicht auch wir unsere
Schuld eingestehen. Wir gestehen uns selbst ein, dass wir weiterhin scheitern
werden in dieser zwiespältigen Welt. Wir sind auch weiterhin auf
die Vergebung Gottes und die Vergebung unserer Mitmenschen angewiesen.
In unseren Kirchen gibt es dafür eine schöne Tradition: Die
Buße. Sie ist, so hat eine Wochenzeitschrift in diesem Jahr herausgefunden,
wieder erstaunlich aktuell. Zur kirchlichen Buße gehört auch
die sogenannte ‚contritio cordis‘ – die ‚Zerknirschung des Herzens‘. Die
unerschöpfliche Gnade Gottes macht es uns möglich, vor unseren
Sünden einen inneren Kniefall zu vollziehen, uns zerknischten Herzens
einzugestehen, welche Schuld auf uns lastet. Schuld einzugestehen und
sich selbst realistisch zu sehen ist schwer und doch so wichtig. Keine
Beziehung kann auf Dauer bestehen, wenn wir uns unser Versagen nicht gegenseitig
eingestehen und verzeihen können. Das Eingeständnis des Versagens
ist unerläßlich in den persönlichen Beziehungen, Schuldeingeständnisse
sind auch wichtig unter den Völkern. Sich selbst in seiner Verstrickung
und Verschlossenheit realistisch wahrzunehmen ist auch ein wichtiger Inhalt
des Glaubens.

„Ich lebe mein Leben in wachsenden Ringen, die sich über die
Dinge ziehn…“schreibt der Dichter Rainer Maria Rilke (R.M. Rilke,
Das Stundenbuch, Frankfurt a.M. 1972, 11). „Ich kreise um Gott, um
den uralten Turm und ich kreise jahrtausendelang…“ Die großen
Menschheitsfragen durchziehen die Geschichte. Die Frage der Schuld gehört
zu diesen Fragen. Sie ist seit zweitausend Jahren, seit Mose Gott am Berg
Sinai begegnet ist, so aktuell wie heute. Die biblischen Erzählungen
kreisen bis heute um die wunderbare, Zukunft eröffnende Begegnung
Gottes mit dem in sich selbst verschlossenen Menschen. Theophanie – Gottesbegegnung
ereignet sich auch im Jahr 2002 nur, wenn wir uns selbst realistisch in
den Grenzen unserer Schuld erkennen. Der innere Kniefall, die demutsvolle
Einsicht in die eigenen Schwächen und Vergehen, eröffnet neue
Lebensmöglichkeiten. Sündenbekenntnis und Buße erinnern
den auf immer schnellere Entwicklungen orientierten Leistungsmenschen
an seine wohltuend menschlichen Grenzen. Die Gnade Gottes läßt
uns im rechten Licht zwischen Leistungsfähigkeit und Versagen erschienen.
Der Glaube setzt heilsame Grenzen und schafft dadurch innere Freiräume.
Das Wissen um die Grenzen läßt uns zur Ruhe kommen, setzt versöhnende
und kreative Energien frei. Dass das Vertrauen auf Gottes Gnade bis heute
nichts an Aktualität verloren hat, formuliert ein jugendlicher ‚Jesus
Freak‘ in einem Interview im Jahr 2001. In der für Jugendliche so
typischen, provokativen Sprache sagt er: „‚Ja‘, sagt er, ‚wir wollen
so werden wie Jesus, er ist unser Vorbild, er verrät einen nicht,
er hat die Menschen geliebt, wie sie waren, mit ihren ganzen Fehlern,
dem ganzen Dreck am Stecken, Jesus war einfach cool, und wir fragen ihn:
Kumpel, was sollen wir tun?'“ (Zitiert aus: Die Zeit, Nr. 52/ 19.
Dezember 2001, 11)

Unser Leben kreist um viele Fragen. Der Alltag nimmt uns in Anspruch.
Ich wünsche uns für diesen Sonntag und für diese Woche,
dass zwischen den vielen wichtigen Alltagsaufgaben uns die fundamentale
Zusage der Versöhnung Gottes erreicht. Ich wünsche Ihnen und
uns, dass Gottes Gnadenzusage ins Zentrum unseres Denkens und Betens rückt,
uns ruhig werden lässt und uns neue kreative Energien und Einsichten
schenkt. Gottes Gnade trägt unser Leben. Sie versöhnt uns und
macht uns frei. Gottes Gnade schenkt neues Leben, jeden Tag.

Amen

Annette Noller
anoller2@compuserve.de

 

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