Matthäus 24, 1-14

Matthäus 24, 1-14

Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Sonntag: 2. Sonntag im Kirchenjahr, 2. Advent
Datum: 06.12.1998
Text: Matthäus 24, 1-14
Verfasser: Christian-Erdmann Schott

Liebe Gemeinde!
Der II. Advent des Kirchenjahres weist hinüber auf den II.
Advent des auf uns zukommenden Christus. Damit richtet die
Botschaft dieses Sonntages unseren Blick weit nach vorn; weit
über das nahe Weihnachtsfest hinaus. Er erinnert uns an die
große Zukunftsperspektive, die Gott allen Menschen offen hält.
Dabei ist die Farbe, in der diese Zukunft aufleuchtet, freundlich
und hell. Es ist eine Zukunft, auf die wir uns freuen können.
Sie bringt uns die Nähe, die Wärme Gottes. Sie bringt uns den
verlorenen Himmel. Sie holt uns in das Reich Gottes, so daß wir
sein werden wie Kinder, die von einem liebevollen älteren Bruder
nach Hause geholt werden. Dieser Bruder, der uns von Gott
entgegengesandt wird, ist Christus.

Im einzelnen wir diese Perspektive oder das Leben im Reich der
Zukunft in unserem Predigtabschnitt nicht näher beschrieben.
Insgesamt ist diese Erwartung aber die Voraussetzung aller
Ankündigungen, die hier gemacht werden.
Ihr Ziel ist, den Hörern dieser Rede noch einmal, kurz vor der
Kreuzigung und angesichts des vielen Bösen und Rätselhaften,
das sie in diesem Zusammenhang und später erleben werden, Gott
noch einmal ganz groß vor die Seele zu stellen. Nie sollen sie
das große Ziel aus den Augen verlieren, das Gott verfolgt: Die
Durchsetzung und Aufrichtung seines Reiches in Herrlichkeit, die
das zum guten Ende bringen wird, was er von Anfang an, schon mit
der Erschaffung der Welt gewollt hat.
Diese Voraussetzung ist ein Eckpfeiler im Weltbild Jesu: Gott ist
es, der am Anfang war, der ist und der sein wird –
unumstößlich.
Dieser Glaube – hier in seiner Zuspitzung auf die Zukunft Gottes
– kann uns in den Bedrängnissen des Lebens eine große Hilfe
sein. Er macht es nämlich möglich, daß wir diese negativen
Widerfahrnisse einordnen können und ihnen damit nicht nur ihre
Sinnlosigkeit nehmen, sondern sie sogar in den Dienst des
Glaubens stellen, als Stärkung und Ermutigung zum Glauben
ansehen können. Vom Ziel der Gottesherrschaft her gesehen,
erscheint alles, auch das Böse, auch Not und Trübsal aller Art
in einem anderen Licht. Es ist nicht mehr Zufall, sondern
hineingenommen in die Perspektive, von der der Glaube im Blick
auf die Zukunft lebt.
In diesem Abschnitt übt Jesus mit den Jüngern diese neue
Sehweise ein. Der Ton liegt dabei nicht auf den Fakten und
Ereignissen, die kommen werden und schon da sind, sondern auf der
Deutung. Insofern haben wir es hier mit einer Schule des Sehens
zu tun, die zugleich auch eine Zurüstung aller Glaubenden ist.
Dabei geht es um drei Arten von Ereignissen:
1. Die Zerstörung des Tempels. Zum Zeitpunkt der Abfassung des
Matthäusevangeliums war sie schon erfolgt. Der
religiös-kultische Mittelpunkt nicht nur des Judentums, sondern
auch des frühen Christentums war damit zerbrochen. Für jeden,
der ein bißchen Ahnung davon hat, daß Glaube immer auch ein
Stück Beheimatung an einem Ort braucht, ist vorstellbar, was
diese Zerstörung des Tempels bedeutet hat. „Herr, ich habe
lieb die Stätte deines Hauses und den Ort, da deine Ehre
wohnt“, heißt es in Ps. 26,8.
Diese Zerstörung war auch für das Christentum die Zerstörung
einer Heimat, seiner Ur-Heimat, auch wenn es aus dieser schon
herausgewachsen war. Aber damit war auch klar, daß es für die
Christen in dieser Welt nie mehr einen Ort von dieser Bedeutung
geben würde. Kirchen und Gemeindehäuser sind nur Wohnungen
Gottes und der Gemeinde auf Zeit. Die älteren unter uns haben
das bei den Bombardierungen unserer Städte während des Krieges
oder bei der Vertreibung nach dem Krieg erlebt. Wir haben die
meisten zerstörten Gotteshäuser wieder aufgebaut und viele neue
dazu. Aber wir wissen doch, daß sie keinen Ewigkeitswert haben.
Der christlichen Gemeinde bleibt das große Ziel, daß mit der
Aufrichtung des Reiches Gottes der Glaube auch wieder seinen Ort
finden wird, an dem er sich zu Hause weiß. Die Stellen im Neuen
Testament, die von der Aufrichtung des himmlischen Jerusalem
sprechen, halten diese Hoffnung wach.
Der Hinweis auf die Zerstörung des Tempels ist in unserem
Zusammenhang nicht nur erschreckend. Er macht auch frei. Er
öffnet den Blick für das Eigentliche, nämlich für das, was
Gott vorhat. Die Schule des Sehens, in die Jesus die Jünger hier
nimmt, macht diese Deutung möglich. Sie läßt sich gut auch auf
viele andere Dinge oder Vorstellungen, die uns im Leben
zerbrochen werden, anwenden, weil sich oftmals zeigt: Zerstörung
kann auch frei machen.
2. Zweitens wird hier eine Reihe von bösen Ereignissen genannt:
Falsche Propheten werden auftreten, von Krieg und Kriegsgeschrei
werdet ihr hören, Volksaufstände, Überfälle, Hungersnöte,
Erdbeben werden die Welt erschüttern. Alles Ereignisse, die zu
allen Zeiten bei den Glaubenden die Frage hervorgerufen haben, ob
Gott denn noch im Regiment sitzt, die Zügel in den Händen hält
und in der Lage ist, sein Reich heraufzuführen.
Solche Zweifel sind verständlich. Und erlaubt sind sie auch.
Aber es lohnt, sich auch die Antwort Jesu anzuhören. Sie lautet:
„Das muß so geschehen“ (V. 6)
Das meint: Alle diese Ereignisse zeigen überdeutlich, wie
notwendig die Erlösung der Welt ist. Sie zeigen, daß diese Welt
sich aus sich selbst nicht heilen kann. Es ist zu keiner Zeit und
in keinem Land der Welt je gelungen, Frieden und Gerechtigkeit
auf Dauer durchzusetzen. Überall in der Welt, wo wir auch
hinsehen, wird deutlich, daß diese Welt für das Heraufkommen
des Reiches Gottes überreif ist.
„Das alles aber ist der Anfang der Wehen“ (V. 7). Es
ist weder das Ende der Welt noch der Anfang des Reiches Gottes.
Es ist alltägliche Erfahrung. Aber es sind Erfahrungen, an die
wir uns nicht gewöhnen können und nicht zu gewöhnen brauchen,
weil wir unsere christliche Hoffnung haben.
Sie gilt es durchzuhalten – trotz allem, was dagegen spricht –
ganz im Sinn der Worte von Paul Gerhardt „Was er sich
vorgenommen und was er haben will, das muß doch endlich kommen
zu seinem Zweck und Ziel“ (EG 361, 5).
3. Als Drittes werden Ereignisse in den Gemeinden beschrieben –
innerer Verfall bei äußerer Verfolgung. Das geht nun wirklich
an die Substanz. Denn Gemeinde bedeutet, wenn es richtig ist,
daß da Menschen sind, die gemeinsam an Gott glauben, denen ich
vertrauen kann, die sich gegenseitig beistehen. Und nun wird hier
beschrieben, wie der äußere Druck Gemeinden innerlich zersetzt.
Dabei sind sicher Erfahrungen aus den altchristlichen
Verfolgungszeiten miteingearbeitet.
Die Schule des christlichen Sehens lehrt, auch vor diesen dunklen
Seiten und Zeiten des Gemeindelebens die Augen nicht zu
verschließen. Aber sie bietet uns auch Hilfen. Sie rät uns auch
hier, laßt euch nicht beirren, haltet in der Liebe durch, das
heißt, werdet nicht bitter, zieht euch nicht zurück, bleibt bei
der Gemeinde.
Es kann sein, daß Gemeinden sich spalten oder der Geist durch
Mißtrauen und Angst so vergiftet ist daß man mit niemandem mehr
zu sprechen wagt. In solchen Zeiten erweist sich das Gespräch
mit der Bibel als sehr stärkend. Er hilft dann wirklich,
einzelne Worte auswendig zu lernen, sich immer wieder aufzusagen,
sie zu drehen und „im Herzen zu bewegen“ (Lk. 2,19).
Dann geben sie sehr viel her und ermöglichen das Durchhalten. Es
gibt weltweit Zeugnisse von Gefangenen oder einsamen Menschen,
die auf diese oder ähnliche Weise solche Zeiten durchgestanden
haben.
Eine Frage, die viele Menschen zu allen Zeiten bewegt hat, wird
auch hier gestellt: „Wann wird das Ende sein?“. Viele
haben Berechnungen angestellt, um den Termin herauszufinden. Alle
sind gescheitert. Und auch zukünftige Versuche werden scheitern.
Jesus nennt den Jüngern keinen Termin – im Gegenteil: „Von
dem Tag aber und von der Stunde weiß niemand, auch die Engel
nicht im Himmel, auch nicht der Sohn, sondern allein der
Vater“ Matth. 24,36. – und rät ihnen zugleich, diesen
Termin immer im Auge zu haben. Der Tag der Erlösung wird kommen.
Darauf können wir uns verlassen, auch wenn wir nicht wissen, an
welchem Datum es sein wird.
Diese ungenaue Genauigkeit bestimmt die Erwartung der Gemeinde
bis heute. Sie ist gewollt. Jesu Antwort auf die Frage der
Jünger zeigt es: Er möchte, daß sich die Gemeinde als
adventliche Gemeinde begreift. Sie weiß, daß er kommt, auch
wenn sie nicht sagen kann, wann und wo er kommen wird.
Dieser adventliche Geist ist in unseren Gemeinden nicht sehr
ausgeprägt. In der Urchristenheit war das anders. Wir haben die
Erwartung heute weitgehend an die Sekten abgegeben. Bei den
Zeugen Jehovas, Adventisten, Neuapostolischen zum Beispiel ist
die Wiederkunft Christi Hauptthema.
Allerdings ist es dort verfälscht. Es ist nicht der Herr der
Welt, sondern es ist der auf Sektenmaße zugeschnittene, sehr
klein gedachte Herr, der die Mitglieder dieser Gruppierungen
belohnt und alle anderen verdammt. Das kann der sinnvolle Umgang
mit diesem großen Thema nicht sein.
Er darf es nicht sein, weil diese Aussicht Angst, aber nicht
Freude auslöst; ja so schrecklich ist, daß man ihr Eintreten
eigentlich nicht wollen kann. Wer möchte schon in so einer
Kleinwelt leben. Es ist verständlich, daß die übergroße
Mehrheit der Menschen danach kein Verlangen zeigt.
Freude löst diese Erwartung aus, weil sie zeigt, daß die Leiden
dieses Lebens ein Ende haben werden und Gott uns in seine
Freiheit hineinziehen wird. Diese Hoffnung befähigt uns, die
Situation zu durchschauen, ohne zu verzweifeln.
Die adventliche Gemeinde lebt fest in dieser unerlösten Welt.
Sie leidet in ihr, aber sie haßt niemanden. Im Gegenteil, sie
versucht ihr zu helfen durch die Predigt des Evangeliums und
Taten der Liebe. Mit ihrem Glauben hält sie die einzige Hoffnung
hoch, die die Welt überhaupt hat.
Das ist es, was Jesus Christus von uns will: Laßt euch von dem,
was ihr seht, nicht blenden, erschrecken, verführen, entmutigen,
sondern wachet und wartet, haltet die Hoffnung fest, die Hoffnung
auf meinen II. Advent.
Wie wichtig ihm diese Zurüstung ist, unterstreicht der Ort, an
dem sie geschehen ist: Der Ölberg erinnert an den Berg Sinai, an
dem Mose die Gebote erließ. Er erinnert aber auch an den Berg,
an dem Jesus die Bergpredigt hielt. Wenn die Hoffnung in den
Niederungen des Lebens zu verrinnen droht, sollen wir aufblicken
zu diesem Berg, um uns wieder zu stärken.
Dann dürfen wir uns auch erinnern an den Satz, der als letzte,
weithin leuchtende Zusage am Ende des Matthäusevangeliums steht:
„Siehe, ich bin bei euch alle Tage bis an der Welt
Ende“ (Matth. 28,20). Amen

Homiletische Vorüberlegungen:
Drei grundsätzliche Überlegungen waren für diese Predigt
maßgeblich:
1) Im Unterschied zu den letzten Sonntagen des Kirchenjahres, bei
denen der Zusammenhang von Parusie und Jüngstem Gericht betont
ist, steht beim II. Advent der Zusammenhang von Parusie und
Erlösung im Vordergrund. So auch der Wochenspruch Lk. 21,28. Die
Predigt sollte daher nicht so sehr auf den Grundton der Warnung,
sondern der Freude und der Hoffnung gestimmt sein.
2) Die Ankündigung des „Endes“ sollte weder zur
Verbreitung von Panik, noch zu einer allgemeinen Schwarzmalerei
noch zu einem vordergründigen Suchen nach „Zeichen“
von Verfall und Untergang im Weltgefüge verführen. Grundsatz
ist vielmehr: Endzeit ist immer.
3) Ziel der Predigt ist vor allem, den Hörern die positive
Kraft, die in der weitreichenden adventlichen Hoffnung des Textes
steckt, nahe zu bringen.
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Dr. Christian-Erdmann Schott, Elsa-Brandström-Str. 21, 55124
Mainz, Tel. 06131 / 690488

 

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