Genesis 50,15-21

Genesis 50,15-21

Göttinger Predigten im Internet, hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


4. Sonntag nach Trinitatis
27. Juni 1999
Predigttext: Genesis (1. Buch Mose) 50,15-21
Verfasser: Dr. Peter Weigandt

Liedvorschläge Evangelisches Gesangbuch (EG) :
151,1
440, 1-4
723
495, 1-5
612 (Ausgabe des EKD für Norddeutschland: Herr, gib mir Mut zum
Brückenbauen)
421Liebe Gemeinde!Diese Verse aus dem letzten Kapitel des ersten Buches Mose gehören zum
Schluß einer der erstaunlichsten Geschichten der Bibel, der
Josepherzählung (Gen 37-50). Sie berichtet, wie Joseph, der Sohn Jakobs,
den seine Brüder als Sklaven verkauft hatten, in Ägypten zum Wesir
des Pharaos, zum höchsten Beamten des Landes, aufstieg.

Angefangen hatte alles irgendwo im Lande Kanaan (Gen 37,1). Dort war Jakob
seßhaft geworden, zusammen mit seiner Frau Lea, seinen Nebenfrauen Bilha
und Silpa und den zwölf Söhnen, die sie und seine verstorbene
Lieblingsfrau Rahel ihm geboren hatten. Wen wundert es bei dieser
Familienkonstellation, daß es im Hause Jakobs Haß, Neid und
Mißgunst gab? Menschlich ging es zu, allzu menschlich. Wer trug die
Schuld daran? Wer war verantwortlich? Oder waren es die Verhältnisse,
unter denen sie lebten, Jakob und seine Familie?

Haß, Neid und Mißgunst sind der Ausgangspunkt der Geschichte,
deren letztes Kapitel wir eben gehört haben: eine Mischung von Hell und
Dunkel, von Schuld und Zwang der Verhältnisse – wie unser aller Leben
auch. Joseph, zweitjüngster Sohn Jakobs und dessen Liebling, war seinen
Brüdern ein Dorn im Auge. Sie versuchten, ihn zu beseitigen. Anfangs
planten sie, ihn zu ermorden. Schließlich wurde daraus ein Verkauf in die
Sklaverei nach Ägypten. Dem Vater meldeten die Brüder, ein wildes
Tier habe Joseph gefressen. Jahre der Trockenheit kamen und damit Hungersnot,
auch über Jakob und seine Familie. Die Söhne zogen nach Ägypten,
um Getreide zu kaufen. Nur Benjamin, der jüngste, blieb beim Vater. Sie
kamen vor Joseph, der inzwischen Wesir des Pharaos geworden war. Er erkannte
seine Brüder, sie ihn nicht. Als die Trockenheit andauerte und das
Getreide aufgezehrt war, zogen sie wieder nach Ägypten. Diesmal gab Joseph
sich zu erkennen. Er ließ den Vater mit der ganzen Familie nach
Ägypten kommen und gab ihnen Weideland. Alles war wieder im Lot. Joseph
hegte keine Rachegefühle, sondern sorgte für seine Familie.

Atmen wir nicht auf, wenn sich solch eine einvernehmliche Lösung
unserer Probleme abzeichnet, gar Wirklichkeit wird? Jakob, der schon als alter
Mann nach Ägypten gekommen war, starb nach einigen Jahren. Seine
Söhne begruben ihn in seiner Heimat und kehrten nach Ägypten
zurück. Doch dann bekamen Josephs Brüder es mit der Angst zu tun.
Zwischen ihnen und dem Bruder, der einst wehrlos und nun übermächtig
war, stand noch die unbewältigte Vergangenheit. Sie war alt und
anscheinend längst vergessen, aber unterschwellig immer gegenwärtig.
Die verdrängte Schuld brach wieder auf. Sie wurden unsicher. Wie
würde sich Joseph verhalten? Ihr schlechtes Gewissen ließ sie die
Zukunft fürchten. Ihr Bruder könnte sich an ihnen für das
rächen, was sie ihm einst angetan hatten, jetzt, da ihnen der sichere
Schutz des Vaters fehlte. Er war ja tot, sie selber gehörten
plötzlich nicht mehr der Generation der Söhne an, sondern der der
Väter. Doch sie weigerten sich, ihre neue Rolle zu übernehmen und
damit die Verantwortung für ihr einstiges Tun. Sie sahen sich vor einem
schier unlösbaren Konflikt. Wie sollten sie nur ihre schreckliche
Vergangenheit bewältigen?

Und wir, wie gehen wir mit unserer unbewältigten Vergangenheit um, mit
der individuellen in Gestalt persönlicher Niederlagen, mit jahrelanger
Drangsalierung durch einen autoritäten Vater oder selber ein solcher, in
Gestalt nicht auflösbarer Abhängigkeit im Betrieb? Wie gehen wir mit
der noch immer nicht bewältigten Vergangenheit des tausendjährigen
Reiches um? Der andauernde und schwerlich befriedigend zu beendende Streit um
das Holocaust-Denkmal weist überdeutlich auf diese Wunde hin. Wie gehen
wir mit den 40 Jahren DDR um, wie in den alten, wie in den neuen
Bundesländern?

Die Brüder Josephs setzen sich zusammen und berieten, was zu tun sei.
War es wirklich so schlimm, was sie getan hatten? Hatte nicht ein gutes Ende
genommen, was ohne diesen Anfang so nie zustande gekommen wäre? War da
nicht einer, der sie damals angestiftet hatte? Und hatten sie es nicht in ihrer
aller wohlverstandenem Interesse getan?

Das Ergebnis ihrer Beratungen war, einen Boten zu Joseph zu schicken. Der
sollte versuchen, ihn auf ein angebliches Testament des gemeinsamen Vaters zu
verpflichten und ihn so nötigen, auf die – ihm ganz offensichtlich
zugebilligte, also gerechte – Rache zu verzichten.

Nur versteckt hinter der Autorität des Vaters, von der sie sich Schutz
versprachen, und durch einen Mittelsmann wagten sie es, Joseph anzusprechen.
Geschickt hatten sie den Vater als eine mit hoher Autorität ausgestatte
Symbolkraft ins Spiel gebracht. Es hätte auch das Volk, der Führer,
die Partei, die Kirche sein können – je nachdem. Mit des toten Vaters
Hilfe gedachten sie, Josephs Handlungsspielraum ihnen gegenüber
einzuschränken, ja – wenn möglich – zunichte zu machen.

Um ganz sicher zu gehen, behafteten sie Joseph auch noch beim gemeinsamen
Glauben an den Gott des Vaters. Und damit alles glaubwürdig klang, sollte
der Bote ohne Beschönigung ihre Schuld zugeben. Da die Bindung an das Wort
des Vaters ihren Bruder Joseph wie in einer Schlinge einfangen würde,
gingen sie so wahrscheinlich kein Risiko ein.

Glänzend hat Thomas Mann in seinem Roman „Joseph und seine
Brüder“ (Frankfurt 1967=Fischer Bücherei MK 108) die Szene
beschrieben, als der Bote – für ihn ist es Benjamin, der jüngste Sohn
Jakobs, der ein gutes Verhältnis zu Joseph hatte, – als also der Bote vor
den Wesir des Pharaos tritt und die aufgetragene Botschaft ausrichtet:
„Vergib doch deinen Brüdern die Missetat und ihre Sünde,
daß sie so übel an dir getan haben. Nun vergib doch die Missetat
uns, den Dienern des Gottes deines Vaters.“ „Ist das denn
wahr?“, läßt Thomas Mann (S. 1362) Joseph seinen Bruder fragen.
Und der Befragte antwortet: „So besonders wahr ist’s wahrscheinlich
nicht.“ Und Joseph setzt hinzu: „Nein, denn er wußte, es sei
nicht vonnöten.“

Warum brauchen wir eigentlich Boten, Briefe? Warum gehen wir nicht den
direkten Weg zum anderen? Warum tun wir uns so schwer mit unserer
Vergangenheit? Warum verdrängen wir sie immer wieder, verteidigen sie,
mildern sie ab? Warum schieben wir die Schuld auf andere, auf die
Verhältnisse, die nicht so sind, wie Bertolt Brecht es Jonathan Jeremiah
Peachum in der Dreigroschenoper singen läßt (Gesammelte Werke 2;
Stücke 2, Werkausgabe edition suhrkamp. Frankfurt 1967, S. 431)? Warum
projizieren wir unsere Schuld auf andere? Warum beseitigen wir so gern, was
gegen uns spricht? Warum …?

Der Bote – sei es nun Benjamin oder ein anderer – kam zu den Brüdern
Josephs zurück und berichtete, Joseph habe nichts gesagt, sondern nur
geweint. Was hatte Joseph weinen lassen – wenn nicht die tiefe
Unmenschlichkeit, die im falschen Spiel seiner Brüder sichtbar wurde?
Seine Brüder wollten ihn täuschen, wollten ihn zwingen, ihnen zu
vergeben. Das war noch schmerzlicher als der feige Haß, aus dem heraus
sie ihn, der wehrlos war gegen die Übermacht der zehn älteren
Brüder, in einen Brunnen geworfen und dann verkauft hatten. Das war der
Ausverkauf der Menschlichkeit, die Heiligung jeder Form von Gewalt: Erst wird
jemandem Gewalt angetan, dann wird er gezwungen zu vergeben – und alles ist
wieder im Lot.

Joseph war am Ende. Was blieb ihm außer Tränen? Diese
Tränen ließen den Brüdern das Versöhnungsmanöver im
Halse steckenbleiben. Sie verschlugen ihnen die Rede vom Testament des
gemeinsamen Vaters und von der eigenen Frömmigkeit. Josephs Wehrlosigkeit
hatte die Brüder gleichfalls wehrlos gemacht. Jetzt waren auch sie am
Ende, an dem Ende, das allein einen neuen Anfang ermöglicht. Sie kamen nun
selbst zu Joseph, voll Angst und Furcht, und nun unversehens ganz auf sich
selbst gestellt. Offen sprachen sie mit ihm, dem sie Böses angetan hatten,
und lieferten sich ihm bedingungslos aus: „Siehe, wir sind deine
Knechte.“ Sollte Joseph tun, was gerecht war: Auge um Auge, Zahn um Zahn.

Doch Joseph antwortete: „Fürchtet euch nicht! Stehe ich denn an
Gottes Statt?“ Er verzichtete auf Rache und durchbrach so den Teufelskreis
der Vergeltung. Er nützte die Situation, in der sich seine Brüder
ganz in seine Hand begeben hatten, nicht aus, sondern nahm seine Brüder
an. Da endlich wich der Druck. Die dunkle, unbewältigte Vergangenheit, die
sie alle gefangen gehalten hatte, war plötzlich aufgebrochen, entmachtet.
Die Tür zu einer hellen Zukunft stand wieder offen.

„Stehe ich denn an Gottes Statt?“, hatte Joseph gesagt.
Dürfen wir uns anmaßen, zu richten? Leben wir nicht alle von der
Vergebung Gottes?

Die Brüder waren wieder versöhnt. Sie konnten miteinander
über ihre Vergangenheit reden. Sie brauchten nicht mehr die Autorität
des Vaters als Mittler, um ins Gespräch zu kommen. Sie waren mündig
und erwachsen geworden, hatten endlich die Rolle der Söhne gegen die der
Väter getauscht, die ihnen als Vätern von Kindern schon lange zukam.
Friede war eingekehrt, Freiheit von Angst und Furcht. „Ich will euch und
eure Kinder versorgen“, sagte Joseph.

Und er tröstete seine Brüder und redete freundlich mit ihnen, wie
es am Ende heißt. So wurde die von Gott erfahrene Liebe in der Liebe zum
Menschen sichtbar. Gott hatte gewendet, was Menschen – teils aus Zwang der
Verhältnisse, teils aus eigener Schuld – auf den Weg gebracht hatten. Gott
hatte aus Unheil Heil werden lassen. Und so konnten die Betroffenen im
Nachhinein diese Geschichte, die Josepherzählung, als eine heilsame
Geschichte, als Heilsgeschichte, deuten.

Die Josepherzählung ist eine zutiefst menschliche Geschichte. In ihr
begegnen sich Menschen in allem, dessen sie fähig sind: in abgrundtiefen
Haß wie in liebender Vergebung. Und sie läßt uns erkennen, wie
Gottes Handeln in tiefster Weltlichkeit verborgen ist, daß wir – auch
wenn wir es nicht wahrzunehmen – mitten in Gottes Heilsgeschichte stehen: da,
wo uns vergeben wird, da, wo wir vergeben, als Befreite und als Befreiung
Überbringende.

Diese Geschichte zeigt uns, daß wir als Menschen ohne Vergebung nicht
leben können. Denn mit den Verhältnissen, die nicht so sind,
können wir uns nicht entschuldigen, weil diese Verhältnisse immer ein
Geflecht von eigener und fremder Verantwortung, von eigener und fremder Schuld
sind. Dieses Geflecht gilt es zu erkennen, zu benennen, zu entwirren. Vergebung
heißt: den Teufelskreis der Verhältnisse zu durchbrechen,
miteinander neu anzufangen, ernst zu nehmen, daß uns vergeben wird, wie
es im Evangelium dieses Sonntags heißt.

Wir werden oft neu anfangen müssen. Deswegen können wir im Blick
auf den Schluß der Josepherzählung wohl mit Dietrich Bonhoeffer, der
1945, einen Monat vor Kriegsende, von den Nazis hingerichtet wurde, sagen:
„Ich glaube, daß Gott aus allem, auch aus dem Bösesten, Gutes
entstehen lassen kann und will. Dafür braucht er Menschen, die sich alle
Dinge zum Besten dienen lassen … Ich glaube auch, daß unsere Fehler und
Irrtümer nicht vergeblich sind, und daß es Gott nicht schwerer ist,
mit ihnen fertig zu werden, als mit unseren vermeintlichen Guttaten.“

Amen

Dr. Peter Weigandt
Glockenblumenweg 9
34128 Kassel


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