Gottes kämpferische Seite

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Gottes kämpferische Seite

Predigt zu Offenbarung 12,7-12 | verfasst von Malte Cramer |

Kanzelgruß

„Gnade sei mit euch und Friede von dem, der da ist und der da war und der da kommt.“ (Offb 1,4)

Verlesung des Predigttextes

Offb 12,7-12

  1. Engel haben Hochkonjunktur

Liebe Schwestern und Brüder,

zu den wenigen positiven Auswirkungen des Corona-Lockdowns im Frühjahr dieses Jahrs gehörte, dass viele Menschen mehr spazieren gegangen sind. Auch meine Frau und ich haben in der Zeit des Lockdowns täglich einen kleinen Spaziergang durch die Nachbarschaft unternommen. Unser Weg führte dabei zumeist durch den Park, an den Schrebergärten vorbei und über den Friedhof hinweg wieder zurück nach Hause. Insbesondere der Friedhof, mit seinen alten Bäumen, den zahlreichen, üppig blühenden Sträuchern und Blumen auf den liebevoll bepflanzten Gräbern, bot im Frühjahr einen farbenfrohen und idyllischen Anblick. Bei unseren Spaziergängen über den Friedhof begegnete uns jedoch nicht nur die Schönheit der Natur, sondern täglich begegneten uns auch zahlreiche Engel. Ja, Engel! Überall auf dem Friedhof ließen und lassen sie sich entdecken: als große Statur aus Marmor, Bronze oder Sandstein; als kleine Skulptur aus Holz oder Stein; als eingraviertes Relief; sitzend, liegend, stehend oder schlafend. Zahlreiche der Engel finden sich nicht isoliert, sondern auf manchen Gräbern tummeln sich gar ganze Heerscharen von Engelsfiguren und -skulpturen.

Liebe Schwestern und Brüder,

Engel haben in unserer Gesellschaft Hochkonjunktur. Dies lässt sich nicht nur beispielhaft anhand der Grabgestaltung auf unserem Friedhof feststellen. Dieses Phänomen lässt sich auch an weiteren Stellen in unserem Alltag beobachten: Engel begegnen uns als Schlüsselanhänger, Autoaufkleber, Zimmerdekoration oder sogar als Tätowierung; häufig klein und etwas pummelig, mit kindlichem Gesicht; hin und wieder groß und schlank, mit langen blonden Haaren und weit ausgespreizten Flügeln. Engel sind ein fester Bestandteil der Populärkultur. Engel sind voll im Trend.[1]

  1.       Engel als Erscheinungsweisen Gottes

Dem ein oder anderen mag vielleicht schon aufgefallen sein, dass im heutigen Gottesdienst weiße Paramente den Altar und die Kanzel schmücken. Nein, die Küsterin hat sich nicht vergriffen. Weiß, das ist zwar traditionell die liturgische Farbe der Christusfeste im Weihnachts- und Osterfestkreis. Doch es ist auch die liturgische Farbe all der Feste, die in besonderer Weise auf Christus hinweisen, auf Gottes Offenbarung, auf Gottes Wesen. Zu diesen Festtagen gehören Trinitatis, der Johannistag, der Ewigkeitssonntag und eben der heutige Michaelistag. Der Michaelistag ist nicht nur speziell der Gedenktag des Erzengels Michael, sondern zugleich der Gedenktag aller Engel. Denn Engel können als Boten Gottes verstanden werden; als Boten Gottes, die uns in besonderer Art und Weise Gottes Wesen offenbaren. Engel weisen uns darauf hin, wie und wer Gott ist. Engel, das sind Erscheinungsweisen Gottes. Deswegen schmücken heute weiße Paramente unsere Kirche. Nicht so sehr wegen der Engel selbst und ihrer Bedeutsamkeit per se, sondern wegen dem, worauf sie verweisen, weil durch sie Gott in Erscheinung tritt.

  1. Engelsvorstellungen in der Bibel

Aus den Erzählungen der Bibel kennen wir sicherlich einige bekannte Engelsgestalten. Zumeist werden wir wohl an die Engel aus den Weihnachts- und den Ostergeschichten denken, die z. B. den Hirten auf dem Felde die Geburt des Heilands verkünden oder den Frauen am leeren Grab von der Auferstehung Jesu berichten. Vielleicht denkt der ein oder andere auch an klassische Tauf- und Konfirmationsverse, in denen Engel eine Rolle spielen, wie Psalm 91,11: „Denn er hat seinen Engeln befohlen, dass sie dich behüten auf allen deinen Wegen.“

In unserem heutigen Predigttext aus der Offenbarung des Johannes treffen wir auf eine Engelsvorstellung, die uns vermutlich nicht so vertraut ist. Dort begegnen uns Engel als kämpferische und kriegerische Wesen, die – angeführt durch den Erzengel Michael – in eine himmlische Schlacht gegen den Satansdrachen und sein Gefolge ziehen.

Diese Darstellung von Engeln als Kämpfer und als Krieger mag uns etwas fremd erscheinen und nicht so recht zusammenpassen mit den uns geläufigen, zugegebenermaßen recht niedlichen, teils kitschigen, in jedem Fall jedoch friedlichen Vorstellungen, die wir von Engeln haben. Doch auch wenn sie nicht so populär sind, so spielen in den biblischen Traditionen Engel in ihrer Funktion als kämpferische und kriegerische Himmelswesen eine wichtige Rolle: Der Engel des Herrn erhebt sich gegen die Ägypter, während das Volk Israels in die Wüste hinauszieht (Ex 14), der Engel des Herrn stellt sich Bileam und seiner Eselin mit einem Schwert in den Weg (Num 22,22ff.), das Danielbuch berichtet von kämpferischen Auseinandersetzungen zwischen Engeln (Dan 10-12), Jesus wird während seiner 40-tägigen Versuchung in der Wüste durch Engel unterstützt, um dem Bösen zu widerstehen (Mk 1,13; vgl. hierzu TestNaph 8,4), die apokryphen Makkabäerbücher (insb. 2Makk), die Qumran- (1QM 9,14-15; 17,6-8a) und die Henochliteratur (äthHen 9,1; 20,5; 24,6; 60,4) wissen von kämpfenden Engeln zu berichten und insbesondere unser heutiger Predigttext aus der Offenbarung des Johannes spricht in eindrücklicher Weise und in mythologisch-bildreichen Beschreibungen von kämpfenden Engeln (Apk 12).

Wie lassen sich nun die Einsichten, dass Engel Erscheinungsweisen Gottes sind und in besonderer Art und Weise Gottes Wesen offenbaren und die biblische Tradition von Engeln als Krieger und Kämpfer zusammenbringen? Denn wenn Engel in der biblischen Tradition als Kämpfer in Erscheinung treten, so weisen uns diese Erzählungen theo-logisch darauf hin, dass auch Gott eine kämpferische Seite besitzt, dass auch Gott einen kämpferischen Wesenszug hat.

  1.       Gottes kämpferische Seite

Liebe Schwestern und Brüder,

diese theo-logische Dimension von Engeln als Repräsentanten der kämpferischen Seite Gottes, von Gott als einem Kämpfenden, ist uns vermutlich weitaus fremder als viele andere Gottesbilder, wie zum Beispiel die Rede von Gott als liebevollem Vater. Und sie mag uns nicht so geläufig sein wie gängige Beschreibungen des Wesens Gottes als barmherzig, gütig und gerecht. Die Vorstellung einer kämpferischen Seite Gottes begegnet uns in Predigten, Andachten oder in christlicher Literatur vermutlich nur selten. Und dies hat sicherlich gute Gründe, denn sie ist unbequem und fordert uns heraus. Will ich wirklich an einen Gott glauben, der ein Kämpfer ist? Doch, liebe Schwestern und Brüder, wir sollten dieses Gottesbild nicht allzu leichtfertig abtun und in das Sammelsurium ungeliebter Theologumena abstellen oder es gänzlich aus unserer Frömmigkeit verbannen. Denn trotz der Schwierigkeiten, die diese Seite Gottes zweifelsohne impliziert, hat sie dennoch das Potential unseren Glauben zu bereichern. Nur wie? Der Schlüssel hierzu liegt darin, die doppelte Situationsgebundenheit etwaiger Aussagen zum Wesen Gottes zu berücksichtigen:

Zum einen gilt es, die historische Situation der biblischen Texte, ihrer Autoren und ihrer Adressaten zu betrachten. So richtet sich z. B. unser Predigttext aus der Offenbarung des Johannes in erster Linie an Christinnen und Christen, die gegen Ende des 1. Jhd. n. Chr. in einer Situation des Kampfes leben. Sie leben ihren Glauben unter der Bedrängnis und der Verfolgung durch das Imperium Romanum. Der Seher Johannes selbst ist Opfer dieser Verfolgungen und dieser Notsituation geworden und schreibt aus seiner eigenen Erfahrung heraus diesen Text. Mit der mythologisch-apokalyptischen Schilderung, dass Gott und seine Engelsheere bereits einmal den Teufel bezwungen und ihn aus dem Himmel verbannt haben, will Johannes seinen Adressaten Mut zusprechen, dass Gottes Macht größer ist als die der römischen Unterdrücker. Er will zum Ausdruck bringen, dass Gott imstande ist, die römischen Herrscher zu überwältigen und in die Schranken zu weisen. Ja, dass er dies sogar schon auf mysteriöse Art und Weise durch den Kampf am Kreuz getan hat, und „dass die so unwiderstehlich und unbesiegbar erscheinende Macht Roms schlechterdings keine Perspektive hat, weil sie eine schon gefallene ist.“[2]

Zum anderen gilt es, etwaige Aussagen über das kämpferische Wesen Gottes auch auf unsere gegenwärtige Lebenssituation hin zu betrachten. Denn, liebe Schwestern und Brüder, manchmal ist auch unser Leben ein Kampf. Hin und wieder erleben wir Situationen, die wir vielleicht als Kampf gegen etwas empfinden. Sei es der politische Kampf gegen zunehmend extremer werdende Positionen; der persönliche Kampf gegen eine schwere Krankheit wie Krebs oder Depressionen; der soziale Kampf gegen Armut und gesellschaftliche Missstände; der Kampf gegen Kriminalität; allzu oft vielleicht der innere Kampf gegen die eigenen Ängste und Sorgen; der Kampf gegen den Klimawandel oder der weltweite Kampf gegen Corona. Es gibt Situationen, die nehmen wir individuell oder auch gesamtgesellschaftlich als Kampf wahr. Diese Situationen haben häufig einen bedrängenden Charakter, eine besorgniserregende oder gar gewalttätige Dimensionen, die sich kaum in Abrede stellen lassen.

  1.       Kämpfe des Lebens

Mit biblischer Sprache lassen sich diese Momente oder Phasen des Lebens als solche bezeichnen, in denen wir uns bösen, dämonischen oder – um mit unserem Predigttext zu reden – teuflischen Mächten gegenübergestellt sehen, uns mit diesen im Kampf befinden. Die biblische Rede von dem kämpferischen Wesenszug Gottes hat exakt in diesen Situationen ihren theologisch legitimen Ort. Denn sie bezeugt: Den real-existierenden Ausdrucksweisen des Bösen in unserem Leben steht Gott kämpferisch und überlegen entgegen.

Wenn somit die biblischen Erzählungen von Engeln als Kämpfer und Krieger – wie z. B. in unserem Predigttext – offenbaren, dass Gott eine kämpferische Seite hat, ist dies eine Rede von Gott und eine Ausdrucksweise einer Gotteserfahrung, die ihren legitimen Ort in ganz bestimmten Situationen des Lebens und Glaubens hat. Sie führt uns vor Augen: Die Kämpfe und die Machtverhältnisse in unserem Leben, wie wir sie subjektiv wahrnehmen – so bedrängend sie auch sein mögen –, sind keine bleibende Wirklichkeit. Vor Gott haben sie keinen Bestand, keine Zukunft, sind im Kampf Unterlegene.[3]

Der Glaube daran, dass Gott auch eine kämpferische Seite hat, besitzt das Potential, uns in genau den Situationen, in denen wir das Leben oder unseren Glauben als einen Kampf wahrnehmen, in denen wir uns bedrängt, verfolgt oder machtlos fühlen, zu trösten, zu stärken und neue Kraft zu geben. Einerseits durch die Gewissheit, dass Gott stärker und mächtiger ist als die bösen Mächte in meinem Leben. Und andererseits durch den Blick darauf, dass Gott sich diesen Situationen des persönlichen Kampfes nicht entzieht, sondern mit mir kämpft, für mich kämpft, manchmal auch um mich kämpft, ja, vor allem darauf, dass er bereits den Kampf gegen Sünde, Tod und Teufel gekämpft hat und siegreich daraus hervorgegangen ist. Der Fokus auf diesen Wesenszug Gottes, auf dieses Gottesbild, kann mir in bestimmten Situationen eine hoffnungsvolle Perspektive schenken und mir dabei helfen, Momente und Phasen des Lebens, die ich als Kampf empfinde, als Notsituation oder als Bedrängnis durchzustehen und zu überwinden.

Und wenngleich wir – mitunter zu Recht – wohl oder übel unsere Mühe haben mit mythologischen Ausdrucksweisen, wie dem in unserem Predigttext beschriebenen, vom Erzengel Michael angeführten, himmlischen Engelskampf, der auf die kämpferische Seite Gottes hinweist, so kann diese Mythologisierung auch eine Verobjektivierung der eigenen Gegebenheiten bewirken. Sie kann Abstand schaffen zu der eigenen, konkreten, bedrängenden Situation, zum eigenen Lebenskampf, der manchmal buchstäblich den Atem zu rauben droht. Sie können uns helfen, einen neuen Blickwinkel einzunehmen und einen neuen – langen – Atem zum Durchhalten und Aushalten der gegenwärtigen Situation schenken.[4]

  1.       Gott ist mit uns in den Kämpfen unseres Lebens

Liebe Schwestern und Brüder,

mittlerweile machen meine Frau und ich zwar nicht mehr täglich unseren Spaziergang über den Friedhof, aber dennoch recht regelmäßig. Und nach wie vor beeindruckt mich die schiere Anzahl an Engeln jeglicher Größe und Gestalt, die sich dort entdecken lässt. Es ist gut und erbaulich, dass uns diese Engel auf dem Friedhof, einem Ort der Trauer und des Gedenkens, immer wieder an Gott, den barmherzigen und zugewandten Tröster und Beistand erinnern, der gerade in Situationen der Trauer und des Verlusts ein großer Halt sein kann. Doch darüber hinaus können uns Engel als Erscheinungsweisen und Repräsentanten Gottes auch in anderer Manier zeigen, wie Gott ist. Sie begegnen uns eben nicht nur als Boten der guten Nachricht und als Tröster, sondern auch als wachende Schutzengel und Kämpfer. Auf diese Weise können sie uns zum Fingerzeig für die unterschiedlichen Wesenszüge Gottes werden. Und so können wir durch den Blick auf die Engelstradition in unserem Predigttext entdecken, dass Gott auch eine kämpferische Seite hat. Gott ist mit uns – gerade in den Kämpfen und den stürmischen Zeiten unseres Lebens. Ganz gleich welchen bösen Mächten wir in unseren ganz persönlichen Kämpfen begegnen, sie haben keine Perspektive, keine Zukunft gegenüber der Wirklichkeit Gottes. Gott hat sie bereits niedergerungen, er hat sie bereits überwunden. Der Blick auf die kämpferische Seite Gottes – der wir in der mythologischen Vorstellung kämpfender Engel begegnen können – kann uns in ganz bestimmten Situationen unseres Lebens Trost, Kraft, Zuversicht und neuen Mut schenken. Amen.

Kanzelsegen

„Der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus.“ (Phil 4,7)


Malte Cramer, Herne

malte.cramer5@rub.de

Malte Cramer, geb. 1992, Doktorand am Lehrstuhl für Exegese und Theologie des Neuen Testaments und Geschichte des Urchristentums der Ruhr-Universität Bochum, Lehrbeauftragter der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum, Promotionsstipendiat der Studienstiftung des deutschen Volkes; zuvor Studium der Evangelischen Theologie (Mag. Theol.) in Bochum, Heidelberg, Münster und Wuppertal, sowie Studium der Katholischen Theologie (B.A.) in Bochum und der Jüdischen Studien (B.A.) in Düsseldorf.

[1]            Vgl. https://www.kirchenjahr-evangelisch.de/article.php#895, zuletzt abgerufen am 05.09.2020.

[2]            Klaus Wengst, „Wie lange noch?“ Schreien nach Recht und Gerechtigkeit – eine Deutung der Apokalypse des Johannes, Stuttgart 2010, 160.

[3]            Vgl. Wengst, „Wie lange noch?“, 155.

[4]            Vgl. zu diesem Absatz Wengst, „Wie lange noch?“, 158.

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