Hebräer 11, 8-10

Hebräer 11, 8-10

 


Reminiscere, 24. Februar 2002
Predigt über Hebräer 11, 8-10, verfaßt von Charlotte Hoenen

Liebe Gemeinde!

Im Laufe des Lebens kommen wir ab und zu mal in die Lage, Erbe zu werden
und den materiellen oder geistigen Reichtum, den Menschen vor uns erarbeitet
haben, zu übernehmen.
Manchmal weiß man schon lange vorher: ich werde Erbe sein und warte
voll Spannung darauf.
Ein lockendes Erbe veranlaßt Menschen entweder zu guten Aktivitäten
oder auch zu Straftaten, weil sie den Zeitpunkt des Erbfalles nicht abwarten,
sondern ihn selbst bestimmen wollen. Der Zeitpunkt und der genaue Inhalt
des Erbes sind in der Regel unbekannt.

Zum Sonntag Reminiszere hören wir einen Abschnitt aus dem Hebräerbrief
im 11. Kapitel. Die Glaubenden werden vom Verfasser des Briefs als potentielle
Erben Gottes und Jesu Christi charakterisiert. Ein zukünftiges Erbe
ist den Glaubenden zugesagt von alters her. Zum Teil wurde das verheißene
Erbe schon sichtbar, zum anderen steht es noch aus. Es bleibt spannend
und offen, was Inhalt, Zeitpunkt und Erbberechtigung betreffen.

Der Predigttext steht Hebräer 11, 8-10:
„V. 8: Durch den Glauben wurde Abraham gehorsam, als er berufen wurde,
in ein Land zu ziehen, das er erben sollte; und er zog aus und wußte
nicht, wo er hinkäme.
V. 9: Durch den Glauben ist er ein Fremdling gewesen in dem verheißenen
Lande wie in einem fremden und wohnte in Zelten mit Isaak und Jakob, den
Miterben derselben Verheißung.
V. 10: Denn er wartete auf die Stadt, die einen festen Grund hat, deren
Baumeister und Schöpfer Gott ist.“

Was beinhaltet das Erbe für Abraham?
Nach der Auslegung des Hebräerbriefes wurde ihm von Gott ein doppeltes
Erbe verheißen:
– Zum ersten: das unbekannte Land, das Abraham und seine Nachkommen erben
sollten,
– zum anderen: die zukünftige festgegründete Stadt, deren Architekt
und Baumeister Gott selbst ist.

Das unbekannte Land, das einmal zur dauerhaften Heimat für seine
Nachkommen werden sollte – diese Erbzusage Gottes ließ Abraham auswandern.
Von der fremden neuen Heimat ergriff er dann aber nicht gewaltsam Besitz,
sondern er lebte im Zelt, also immer im Provisorium, bereit zum erneuten
Aufbruch. Seine Spuren im neuen Land sind die Altäre, die er als
Zeichen der Begegnung mit seinem Gott baute. Nur eine Grabhöhle erwarb
er, in der seine Frau Sarah bestattet wurde.
Mit ihm lebten andere, fremde Nomadenstämme im Land. In festen Häusern
angesiedelt waren die Kanaanäer. Er ließ ihnen ihren Lebensraum
und blieb fremd im eigenen Erbe.

Die politische Geschichte dieses Gebietes, des heutigen Palästina,
erweist bis heute, welche Schwierigkeiten die dort lebenden Menschen mit
ihren unterschiedlichen Kulturen und Religionen zu lösen hatten und
haben.
Die Nachkommen Abrahams, Isaaks und Jakobs reklamieren dieses Land seit
Ausgang des 19. Jahrhunderts erneut für sich. Es wurde ihnen von
der UNO 1947 als rechtmäßiger Staat „Israel“ zur
dauerhaften Heimat gegeben. Es sind die Palästinenser, die aus politischen
und religiösen Gründen Anspruch auf Teile Palästinas erheben
und endlich einen eigenen Staat, in ihrer bisherigen Heimat, gründen
wollen.
Eine zwiespältige Situation, die wieder seit Monaten täglich
Menschenopfer fordert und zu eskalieren droht! In beiden Völkern
streiten religiöse Fanatiker dem jeweils anderen Volk das politische
Existenzrecht ab. Menschlicher Wille und Verstand müßten Lösungen
finden. Pläne liegen vor, wie zwei unterschiedliche Staaten das Zusammenleben
regeln könnten. Aber politisches Wollen und menschlicher Verstand
reichen bisher nicht aus, den Konflikt zu lösen.
Trotz der alten Zusage Gottes ist ein dauerhaftes und ruhiges Leben für
Abrahams Nachkommen in diesem Land umstritten.

Bleiben die Glaubenden als die Erben Gottes gegenüber allem Besitz
zugleich auch Fremde, so wie sich Abraham damals im Land verstand? Er
teilte sein Heimatrecht mit anderen, lebte in Provisorien – nicht aus
Not und Schwäche, sondern aus Glaubensstärke!
Warum nahm er eigentlich das Erbe nicht als Eigentümer in Besitz?
Weil er auf ein anderes zukünftiges Erbe im Glauben wartete. Das
hatte für ihn einen höheren Stellenwert.

Der Hebräerbrief bringt dieses Lebensgefühl von Glaubenden
in die Worte: „Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die
zukünftige suchen wir.“ (Hebr. 13,14). Die zukünftige Stadt,
auf die nun auch wir warten können, ist Bild für ein heiles,
friedvolles Leben.

Dieses zweite verheißene Erbe steht noch aus.
Es wird keine irdische, sondern eine himmlische Stadt sein, in der alle
ein Lebensrecht haben, die sie erben. Dort gibt es keine Machtkämpfe,
keine Tränen, keine Besitzansprüche gegen andere, sondern alle
gemeinsam werden lachende Erben sein. Manchmal leuchtet diese Stadt auf,
wenn wir sagen: Das ist der Himmel auf Erden! Da reicht die Zukunft schon
in die Gegenwart hinein! Wie aber die himmlische Stadt aussehen wird,
das bleibt zunächst einer genaueren Vorstellung entzogen, allein
dass Gott ihr Architekt und Baumeister ist, läßt Vollendetes
erahnen.

Für uns als Christen ist wichtig: Jesus Christus selbst ist aus
den Nachkommen Abrahams als Erbe über alles (Hebr.1,2) von Gott eingesetzt
worden, und er gibt diese Erbberechtigung an die Kinder, die Gott ihm
gegeben hat, weiter. Als Christen sind wir Miterben der Verheißungen
Gottes!

Bei einer Erbschaft ist es möglich, das Erbe auch auszuschlagen.
Das sieht der Hebräerbrief in aller Schärfe, weil damals viele
Christen der Gemeinde den Rücken zukehrten und meinten, wir leben
problemloser ohne den unsichtbaren Gott und ein von ihm verheißenes
zukünftiges Erbe.
Wer Gott ablehnt und sein Herz hart macht gegenüber seinem Wort,
für den gibt es ein Zu-spät. Aus dem Erbrecht ist uns das bekannt,
wenn jemand erklärt, ich will die Erbschaft nicht antreten, der kann
diesen Entschluß im Erbfall nicht rückgängig machen. So
wirbt und mahnt der Hebräerbrief (3,7.8 u.ö.) mit dem Psalmwort:
„Heute, wenn ihr seine Stimme hört, so verstockt euer Herz nicht“-
ihr verspielt sonst endgültig die Chancen für eure Zukunft!
Eine zweite Buße, eine erneute Umkehr gibt es nicht!

Wie wird man zum Erben Gottes?
In unserem Erbrecht gibt es eine gesetzliche Erbfolge und den Vorgang
der Benennung eines Erben durch ein Testament.. Für Erben Jesu Christi
fällt eine gesetzliche, natürliche Erbfolge aus. Es gilt der
Vorgang der Benennung. Gott benennt durch Jesus Christus den einzelnen
Menschen mit seinem Namen und redet ihn an. Das geschieht in der Taufe.
Wie damals bei Abraham gilt es, auf Gottes Stimme zu hören und seinem
Wort zu gehorchen. Dabei machen wir – wie Abraham – Gottes Wort zur eigenen
Sache und nehmen es mit hinein in unser alltägliches Tun und Entscheiden.
Wir erfahren, Gott schafft sich in unserem Innersten Gehör, vertreibt
das Mißtrauen und die Unsicherheiten und ermöglicht uns mit
Vertrauen und Gewißheit unseren Weg zu gehen. Dieser Weg endet nicht
im „Dunkel“ oder „Nichts“, sondern bei ihm, in seiner
Gegenwart. Bei ihm werden wir aufgehoben sein in der zukünftigen,
fest gegründeten Stadt.

Ist dieses Erbe heute attraktiv?
Für viele Menschen nicht.
– Auf Gott zu hören paßt nicht zu dem Anspruch auf alleinige
Selbstbestimmung.
– Auf ein Erbe in späterer Zukunft zuzugehen steht dem Bestreben
entgegen, allein das Heute mit einem „Kick“ zu genießen.

– Das allgemeine Sicherheitsbedürfnis widerspricht dem Mut zum Provisorium
und dem Teilen des Besitzes mit anderen.
– Die Wirklichkeit des Unsichtbaren hat keine Realität für Menschen,
die nur gelten lassen, was sie sehen, um es zu zählen, zu messen
und zu wiegen.
Ein Erbe, das nicht sofort verfügbar ist und nicht materielle oder
kulturelle Vorteile bringt, sondern in der Dimension des Glaubens Wirklichkeit
wird – das hat wenig Attraktivität für Menschen in unserem Land.
Doch wer sich auf Gott eingelassen hat und mit ihm in Beziehung steht,
wird trotz aller Unverfügbarkeit fröhlich und hoffnungsvoll
leben und an seine Lebensaufgaben gehen.

Wer rechnet sich heute selbst zu den Erben Abrahams?
Nicht nur wir Christen, sondern ebenso die Juden verstehen sich als die
Erben Abrahams. Hinzu kommen die Muslime. Auch sie berufen sich auf Abraham.
In der 2. Sure des Koran heißt es 125 ff: „Als sein Herr zu
ihm (Abraham) sprach: „Werde Muslim“, sprach er: „Ich ergebe
mich völlig dem Herrn der Welten.“ Und Abraham legte es seinen
Kindern ans Herz, und Jakob (sprach:) „O meine Kinder, siehe Allah
hat euch eine Religion erwählt; so sterbt nicht, ohne Muslime geworden
zu sein“….Sie sprachen: „Anbeten werden wir deinen Gott und
den Gott deiner Väter Abraham und Ismael und Isaak, einen einigen
Gott, und ihm sind wir völlig ergeben.“ Jenes Volk ist nun dahingefahren;
ihm ward nach seinem Verdienst, und euch wird nach eurem Verdienst.“

Wegen der gemeinsamen Wurzeln im Glauben Abrahams müßten die
Religionen trotz der Unterschiede von Juden, Christen und Moslems daran
arbeiten, ein friedliches Miteinander und Nebeneinander in Palästina
und auf der Erde zu erreichen. Das erfordert harte Arbeit politisch, wirtschaftlich,
pädagogisch. Auch das fürbittende Gebet für das Gelingen
benötigt Kräfte und innerstes Engagement. Arbeit und Erbe gehören
vom Wortstamm her zusammen. Es erfordert aber erstlich und letztlich Glauben,
ein Vertrauen darauf, dass es der eine Gott ist, der auch seine Verheißungen
gegenüber allen Menschen einlöst, ihnen Leben und Lebensraum
zu geben. Ich denke, Gott erwartet von uns Glaubenden diese Arbeit durch
„die feste Zuversicht auf das, was man hofft, und ein Nichtzweifeln
an dem, was man nicht sieht“ (11,1) – durch den Glauben an das zukünftige
Erbe.

Charlotte Hoenen, Superintendentin i.R.
06120 Lieskau
E-Mail via: rhoenen@t-online.de

 

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