Hebräer 11, 8-10

Hebräer 11, 8-10

 


Reminiscere, 24. Februar 2002
Predigt über Hebräer 11, 8-10, verfaßt von Wilhelm v.
der Recke

Liebe Gemeinde, manche Lebensläufe heute hören sich so an:

Geboren in Schlesien, nach Flucht und Vertreibung in Niedersachsen eingeschult,
später in Bayern aufgewachsen, wo der Vater in der Zwischenzeit Arbeit
gefunden hatte. Die Ausbildung, erst recht Beruf und eigene Familie führten
in wieder andere Orte, manchmal über die Grenzen des eigenen Landes
hinaus. Und wo bleibt man im Ruhestand? Es gibt kein heimatliches Dorf,
in das man zurückkehren könnte. Also geht man dorthin, wo es
schön und sonnig ist, vielleicht nach Mallorca. – So oder so ähnlich
hört man es oft.

Um ein Leben auf der Wanderschaft geht es auch in dem Bibelabschnitt,
über den wir heute nachdenken: Ein Leben ohne Heimat, in die man
zurückkehren könnte. Ein Leben ohne feste Bleibe, die zu einer
neuen Heimat werden könnte. Und doch ist es kein entwurzeltes Leben.
Denn Abraham – von dem die Rede ist – hat so etwas wie eine innere Heimat,
eine Heimat im Herzen. Und diese Heimat ist ausgerichtet auf die Heimat
im Himmel, die ihn erwartet. – Hören Sie selbst, was im Hebräerbrief
Kapitel 11 von Abraham gesagt wird. Ich lese den Text in einer Übersetzung
vor, die sich an die Gute Nachricht anlehnt:

(8.) Abraham glaubte Gott und deshalb hörte er auf seinen Ruf. Er
brach auf in das Land, das er als Erbbesitz erhalten sollte. Er zog los
ohne zu wissen, wohin er kommen würde.
(9.) Abraham glaubte Gott und deshalb lebte er als ein Fremder in dem
Land, das ihm versprochen war. Er wohnte in Zelten – er wie auch seine
Nachkommen Isaak und Jakob, die dieselbe Zusage bekommen hatten.
(10.) Denn Abraham wartete auf die Stadt, die auf festen Fundamenten ruht
und von Gott selbst entworfen und gebaut ist.

Von der Heimat im Herzen war vorhin die Rede. Wie wir aus dem Hebräerbrief
hören ist sie kein Traumbild, das sich jemand zurechtgelegt und in
das er sich versponnen hat. Es gibt ja viele schöne Illusionen, in
denen Menschen Zuflucht suchen, um der trostlosen Wirklichkeit zu entkommen.

Denn Abraham hat sich das nicht ausgedacht. Ein anderer hat ihm diese
Vision nahegelegt, fast muß man sagen: aufgedrängt. Eigentlich
war das nicht sein Lebenstraum gewesen. Im 1. Buch Moses wird davon berichtet,
wie er aus allen festen Bindungen herausgerufen wird – weg von Haus und
Hof, weg von der Verwandtschaft und der Sippe. Herausgerufen von Gott,
der ihm eine neues Land in Aussicht stellt; der ihm seine freundschaftliche
Begleitung zusagt; der ihm, dem Kinderlosen, eine zahlreiche Nachkommenschaft
verspricht: Ich will dich segnen, und du sollst für andere zum Segen
werden (12,3).

Und Abraham lässt sich darauf ein, er hört auf Gott. In der
Bibel wird das ganz undramatisch berichtet: Der Ruf ergeht, und Abraham
tut, was ihm gesagt wird. Man kann sich gut vorstellen, wie schwer ihm
dieser Schritt tatsächlich geworden ist, was sich in seinem Inneren
abgespielt hat: Habe ich das richtig gehört oder habe ich mir
das nur eingebildet? Kann das Gott wirklich von mir erwarten und nicht
nur von mir, auch von meiner Frau, der Sara, und ihren alten Eltern.

Und nicht nur Abraham werden solche Gedanken zu schaffen gemacht haben,
die ganze Sippe wird heftig auf ihn eingeredet haben und von religiöser
Spinnerei, von Realitätsfremdheit und Verantwortungslosigkeit gesprochen
haben.

Abraham lässt sich nicht beirren. Er weiß, was er gehört
hat. Er geht darauf ein und lässt alles stehen und liegen. – Wie
nennt man eine solche Haltung? Die Bibel spricht von Glauben. Abraham
glaubte Gott, und der rechnete ihm das hoch an (1. Moses 15,6). Abraham
glaube Gott, er höre auf seinen Ruf. Er vertraue Gott. Er hält
ihn für zuverlässig, und natürlich hält er ihn auch
für so mächtig, dass er einhalten kann, was er verspricht.

Das ganze 11. Kapitel des Hebräerbriefes spricht von so einem beispielhaften
Glauben. Viele Menschen werden genannt, die Gott Glauben schenkten und
die nicht enttäuscht wurden, obwohl sie keinerlei Sicherheit in Händen
hielten. Von Abel ist die Rede, von Noah, von Moses und von vielen anderen.
Dieser Glaube ist aber nicht nur Vertrauen auf Gott. Neben dieser persönlichen
Seite hat der Glaube auch eine sachliche Seite: Er nimmt das für
real, was er nicht sieht und was auch noch nicht eingetreten ist. So heißt
es in der Einleitung zu unserem Kapitel: Der Glaube nimmt das als sicher
gegeben, was er erhofft. Der Glaube ist wie eine Bürgschaft für
Dinge, die bei Gott schon jetzt existieren, die wir aber noch nicht sehen
können (11,1). Gott sagt das zu und der Mensch nimmt ihm das ab,
er lässt sich darauf ein. Das ist Glaube.

Eigentlich ist so ein Ruf nichts Besonderes. Er ergeht nicht nur an wenige
Auserwählte. Er trifft viele, die meisten, eigentlich müsste
man sagen alle Christen. Alle, die aufgerufen werden, sich an Jesus ein
Beispiel zu nehmen. Das ganze Neue Testament ist voll von solchen Berufungen,
die Menschen auf einen neuen Weg bringen:

Der Fischer Petrus lässt alles stehen und liegen, als Jesus ihn
dazu auffordert.
Der Pharisäer Saulus fällt buchstäblich vom Pferde, als
hätte ihn der Schlag getroffen.
Der Zöllner Zachäus ist von der Begegnung mit Jesus so beeindruckt,
dass es ihm zur Herzensangelegenheit wird, begangenes Unrecht wieder gut
zu machen. Der äthiopische Finanzminister liest unterwegs in seinem
Reisewagen die Bibel. Als der Apostel Philippus aufsteigt und ihm die
Augen für die schwer verständlichen Worte öffnet, lässt
er sich auf der Stelle taufen. Und so weiter und so fort. Das griechische
Wort für Kirche, ekklesia, heißt übersetzt die Herausgerufene.
Alle, die den Ruf Jesu gehört haben und ihm gefolgt sind, sind solche
Herausgerufene und gehören nun zum wandernden Gottesvolk.

Wie sieht das bei uns aus? Wo wird es konkret? Wenn ausdrücklich
von diesem Ruf Jesu die Rede ist, z.B. bei der Konfirmation, können
wir meistens die Tragweite noch nicht übersehen. Oft spötteln
wir darüber, wenn jemand von seiner Bekehrung oder Wiedergeburt spricht.
Und man kann ja durchaus verschiedener Meinung sein, wann, wo und wie
dieser Ruf uns normalerweise erreicht; ob das für alle Menschen nach
dem selben Schema ablaufen muß; ob es immer dieselbe Durchschlagkraft
hat. Nur eines ist sicher: Ein Christ ist man nicht, so wie man
Frau oder Mann, Deutscher oder Franzose ist. Sondern Christ wird
man und zwar jeder für sich. In irgend einer Form werden wir angeredet
– jeder für sich. Es trifft uns, es beunruhigt uns. Oft ist zunächst
gar nicht deutlich, was es ist, das uns zu schaffen macht, und wer vielleicht
dahinter steckt. Aber es lässt uns nicht los. Und wenn uns dann nach
und nach die Augen aufgehen, dann müssen wir reagieren. Dann müssen
wir vielleicht Konsequenzen daraus ziehen. Das kann zur Folge haben, dass
unser ganzes Leben umgekrempelt wird

Häufig geht es zunächst um eine moralische, eine ethische Frage.
Eine Frage, die uns schwer zu schaffen macht, die uns schwanken läßt,
die uns umzuwerfen droht. Dann suchen wir nach irgendetwas Zuverlässigem.
Etwas, an das wir uns halten können; an dem wir uns orientieren können.
Wir suchen nach einem festen Grund unter unseren Füßen. Vielleicht
erinnern wir uns an den christlichen Glauben. Plötzlich ist er nicht
nur eine fromme Tradition, eben die Weltanschauung, in der wir zufällig
aufgewachsen sind. Plötzlich stellt sich die Frage, wie tragfähig
dieser Glaube ist. Ob er uns so viel Rückhalt gibt, dass wir tatsächlich
unserem Gewissen, unserem besseren Wissen folgen können. Ob wir uns
mit diesem Glauben im Rücken auch gegen die Mehrheit stellen können,
gegen alle sogenannten Sachzwänge, gegen alle faulen Kompromisse.

Aus den totalitären Gesellschaften im 20. Jahrhundert, den faschistischen
und kommunistischen, kennt man viele Beispiele für Situationen, in
denen Menschen haben Farbe bekennen müssen und wo sie sich fragten,
woher nehme ich die Kraft dafür. Im selben Maße, wie sie Widerstand
leisteten, suchten viele Vergewisserung im Glauben. Der Glaube wurde ihnen
lebendig. Weil sie in ihm ein Zuhause fanden, konnten sie es aushalten,
wenn sie sich der eigenen Gesellschaft entfremdeten. So etwas geschieht
nicht nur unter extremen politischen Umständen. In jeder Gesellschaft
und in jedem Leben gibt es solche Situationen. Situationen, in denen es
darum geht, nicht wegzuhören, nicht wegzusehen und nicht die Hände
in den Schoß zu legen.

Eine Herausforderung für uns heute ist zum Beispiel die Frage, wie
wir uns gerade solchen Menschen gegenüber verhalten, die ihre Heimat
verlassen haben. Menschen, die als Flüchtlinge, als Vertriebene,
als russlanddeutsche Rücksiedler, als politisches Asyl-, als Brot-
und Arbeitsuchende zu uns kommen. Was für Gründe sie auch immer
dafür haben, – gute oder weniger gute, wer will das wirklich beurteilen,
– in jedem Fall haben auch sie alles stehen und liegen gelassen und sind
auf vielen Umwegen und bedroht durch viele Gefahren zu uns nach Westeuropa
gekommen. Wir können nicht die halbe Welt zu uns einladen. Aber wir
müssen uns immer wieder daran erinnern lassen, dass auch sie Menschen
sind. Menschen, die genauso empfinden wie wir und die genauso wie wir
das Beste für sich und ihre Kinder suchen.

Und wenn wir uns in so einer Situation wirklich dazu durchgerungen haben,
bei der Wahrheit zu bleiben oder einfach das zu tun, was die Vernunft
oder das Herz uns zu tun gebieten? Dann kann man eben nicht damit rechnen,
immer Verständnis oder gar Dank zu finden. Eher stößt
man auf Widerstand oder sieht sich missverstanden und verleumdet. Und
doch kann es zu einer befreienden Erfahrung werden, befreiend, weil wir
unserem besseren Ich gefolgt sind. Dieses bessere Ich weiß sich
gehalten von Gott. Wir sind nicht solche Menschen, die feige zurückweichen
und seelisch zugrunde gehen, sondern solche, die Gott Glauben schenken
und deren Leben auf diese Weise eine bessere Qualität gewonnen hat,
heißt es am Ende des vorhergehenden Kapitels.

Der Preis für so einen Glauben, der dem Ruf Gottes folgt, ist oft
die Heimatlosigkeit. Man entfremdet sich den anderen. Von Abraham wird
in unserem Predigtabschnitt gesagt, dass er sein Leben lang ein Fremder
blieb, einer, der unstet herumzog und in Zelten wohnte. Und an einer anderen
Stelle im Hebräerbrief wird gesagt: Wir haben hier auf Erden keine
bleibende Stadt. – Nur, liebe Gemeinde, die haben wir doch so und so nicht.
Wir können uns noch so gut in diesem Leben etablieren und alles erreichen,
wovon das Herz träumt, irgendwann endet die irdische Wanderschaft
für jeden, und was bleibt dann?

Wir haben hier keine bleibende Stadt, aber die zukünftige suchen
wir (13,14). Diese Stadt der Zukunft ist keine Fata Morgana. Es ist die
Heimstatt, die uns Gott verspricht, wenn er uns aus unseren eigenen festen
Mauern herausruft; wenn er uns durch die Steppen und Wüsten dieses
Lebens irren lässt; wenn er uns all den Risiken aussetzt, die manchmal
verbunden sind mit der Beachtung seiner Gebote. Ein bequemes Leben ist
niemandem versprochen! Zugesagt aber ist uns ein fürsorgliches Geleit
hin zu dem Ort, den die Bibel als Himmlisches Jerusalem beschreibt: Ein
fester, ein sicherer, ein guter Ort. Ein Platz für immer, ein Platz
bei Gott.

Und wer sagt uns, ob das so auch stimmt? Niemand, außer Gott. –
Und wer weiß, ob das alles auch zutrifft? Keiner, außer dem
Glauben. Der Glaube, der sich auf diese Zusage verlässt. Der darf
zuversichtlich vorwegnehmen, was erst die Zukunft enthüllen wird.

Wilhelm v. der Recke, Cuxhaven, Pastor im Lektorendienst
eMail: Wilhelm.v.der.Recke@t-online.de

 

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