Hebräer 12,12-25a

Hebräer 12,12-25a

Eine Vision als Ressource | 2. Sonntag nach Epiphanias | 14.01.2024 | Hebr 12,12-25a | Manfred Mielke |

Liebe Gemeinde,

ein guter Freund musste sich beruflich neu orientieren. Trotz der Kündigung vertraute er seinem Talent und erarbeitete sich eine neue Perspektive. Er war ausgebildeter Kirchen-Organist und wollte Profi-Sänger in einem renommierten Rundfunkchor werden. Die Stelle bekam er sogar zugesagt, vorausgesetzt, er absolviere die Eingangsprüfung. Dafür nahm er teuren und langwierigen Unterricht in Kauf. Doch erst im vierten Anlauf bestand er die Prüfung, mit großer Erleichterung. Über den Stress und die vielen Sorgen unterhielten wir uns, auch darüber, ob ihm die ursprüngliche Vision weiterhin Kraft spendet.

Verluste und Krisen bestehen wir besser, wenn wir uns auf Gewissheiten verlassen können. Wir bewältigen Risiken leichter, wenn wir dazu in Gott Ressourcen anzapfen können. Der Hebräerbrief schreibt dazu seiner krisengeschüttelten Christengemeinde: „Stärkt die kraftlosen Hände! Lasst die zitternden Knie wieder fest werden! Bleibt auf dem geraden Weg, damit die Schwachen nicht fallen, sondern neuen Mut fassen und wieder gesund werden. Setzt alles daran, mit jedem Menschen Frieden zu haben und so zu leben, wie es Gott gefällt. Sonst werdet ihr den Herrn niemals sehen. Achtet darauf, dass keiner von euch an Gottes Gnade gleichgültig vorübergeht, damit sich das Böse nicht bei euch breitmacht und die ganze Gemeinde vergiftet.“ (Hebr 12, 12-15 Hoffnung für alle)

Zitternde Knie zu stabilisieren, hilft uns auf der Langstrecke und bei Bergwanderungen. Für zittrige Stimmbänder und flattrige Atmung brauchen wir eventuell professionelle Hilfe. Von Gott erfahren wir verlässliche Hilfen in sozialen Situationen – und wir hoffen, auch für kriegsführende Nachbarn. Wenn sich in einer Christen-Community das Böse breitmacht und alles vergiftet, dann braucht es den Mut, „darauf zu achten, dass keiner an Gottes Gnade gleichgültig vorübergeht“. Kurzgefasst: Wenn das Gift zu wirken beginnt, bleibt dagegen Gottes Gnade heilsam. Ebenso beim Unfrieden. Da hilft nicht „Stirn gegen Stirn“, sondern eher, dass sich beide umwenden zu einer Friedensquelle in Gott. Wenn zwei sich so entzweien, entsteht ein freier Raum für Gottes Initiative.

Frieden zu stiften gelingt uns oft nicht im ersten Anlauf, trotz achtsamer Vorgehensweise. Der erste Versuch des Moses z.B., seinem Volk die 10 Gebote Gottes auszuhändigen, scheiterte krachend. Angesichts des Tanzes um das Goldene Kalb zerschlug er die Steintafeln. Doch Gott bestellte ihn wieder ein und er musste – oder durfte – die Steintafeln nun als „Zweitausfertigung“ selbst gravieren. Damit kamen er und die Israeliten quer durch die Wüste wohlbehalten bis ins Gelobte Land. Dabei achteten sie als Community füreinander, „dass keiner gleichgültig an Gottes Geboten vorbeistolperte“. – Die Steintafeln, übergeben am Sinai mit Wolken und Beben, Blitz und Donner halfen vorbildlich beim Herumirren. Doch im Kulturland wurden die Gottesgebote zunehmend lästig angesichts neuer Verlockungen. Aus der Neugier wurde ein Übermut, der von den Priestern als Frevel gegen Gott interpretiert wurde. Dagegen brauchte es eine starke Drohpredigt. Das Exempel an Esau erinnert der Hebräerschreiber für seine Zeit dann so: “Keiner von euch soll ein sexuell unmoralisches Leben führen wie Esau, der Gott den Rücken gekehrt hatte. Für ein Linsengericht verschleuderte er das Vorrecht, als ältester Sohn das Erbe und den besonderen Segen seines Vaters zu erhalten. Später wollte er alles wieder rückgängig machen und flehte seinen Vater unter Tränen um diesen Segen an. Doch da war es zu spät.“ (V. 16f)

Was für eine Tragödie! Der sprichwörtliche Teller Linsensuppe vergiftete das Segensdreieck zwischen Erzvater Isaak und seinen Zwillingssöhnen Esau und Jakob. Der verschleuderte Segen verkehrte sich zu einem Fluch, der dem Esau für immer und ewig angelastet wurde. So eine Ausgrenzung träfe uns schlimmer als ein temporärer Job-Verlust. Wenn wir ins Bodenlose stürzen, bleibt uns dann der Segen Gottes dennoch als Ressource? Kommt zu unserm Scheitern noch so ein Verlust hinzu und sind beide eine Strafe Gottes?

Falls uns ein ähnliches Schicksal droht, steht uns der Werkzeugkasten des Reformators Martin Luther parat. Sein erstes Werkzeug ist das Motto: Die Bibel mit sich selbst auslegen. Wenn wir aber das Alte Testament zu Esau befragen, beschreibt es zwar seine Tölpelhaftigkeit, aber keinerlei Unmoral. Umso mehr aber die frommen Schreiber der Folgezeit, sie pressen ihn „in die Rolle eines aussichtslosen Sünders, die er in Wahrheit nie gespielt hat“. (1) – Luthers zweites Werkzeug ist der Abstand Jesu Christi von dieser Story. Wo ist der Jesus, der von der väterlichen Umarmung des bußfertigen Sohnes erzählt? Und der sterbend dem Schächer am Kreuz zusagt: „Heute noch wirst Du mit mir im Paradies ankommen!“ Diesen Christus vermissen wir in der Esau-Verurteilung. – Wir kennen noch ein drittes Werkzeug. Es lautet: „Es ist die Güte Gottes, die dich zur Umkehr treibt!“ Auch wenn seine Güte uns zu selten antreibt, treibt uns dann sein Zorn besser an? „Streng ist seine Güte, gnädig sein Gericht!“ Solche Verheißungen helfen uns gegen die Zweifel, ob die Umkehr uns gelingen wird.

Zur angeblichen Unmoral des Esau verweigert sich also das Alte Testament, und die Moral des Jesus verweigert sich zu seiner ewigen Verwerfung. Also dient die Drohung mit Esau wohl eher einer einschüchternden Pädagogik. Sie hat viel zu Viele weg vom „Evangelium der Gewissheit“ (2) vergrault oder hat sie melancholisch resignieren (3) lassen. Dabei ist es doch vielmehr unsere Aufgabe, religiösen und moralischen Opfern beizustehen. Uns motivieren eher biblische Beispiele, die davon erzählen, wie Menschen Krisen bewältigten und andere ihnen dabei beistanden. So wie von Petrus, der nach dreimaliger Verleugnung bitterlich weinend rausrannte und dennoch von Jesus wie ein Fels stabilisiert wurde. So wie von Saulus, der abstürzte und erblindete. Der dann von mutigen Christen Zugang zu einer Taufgewißheit bekam, die ihm die Augen öffnete. Saulus wurde von seiner Steinigungslust befreit und klärte sich hin zum Paulus, dem Marathon-Mann der Glaubenslust. Wenn wir uns ähnlich für Menschen in Krisen öffnen, können Räume entstehen, in denen Gott sogar schlimmste Prägungen heilen kann.

Wie schafft der Hebräerschreiber wieder die Kurve zu uns zurück und zu unserm Bedarf an Resilienz? Er hatte begonnen mit der Verlässlichkeit Gottes, die uns in Katastrophen wieder aufbaut und die wir im Beistandsfall mit anderen teilen. Dann fügte er eine Drohpredigt ein, die wir von drei Seiten einschränken konnten. Nun entwickelt er für uns eine großartige Perspektive. Über das Sinai-Ereignis hinaus hat er eine Vision, die er so beschreibt: „Der Berg Sinai, zu dem sie gekommen waren, war ein irdischer Berg. Das Feuer loderte, ein Sturm brach los, sogar Mose bekannte später: „Ich zittere vor Angst und Schrecken!“  Ihr dagegen seid zum himmlischen Berg Zion gekommen, zum himmlischen Jerusalem, wo ihr Gott zusammen mit seinen vielen tausend Engeln bei einem großen Fest anbetet… Ja, ihr seid zu Jesus selbst gekommen, der als Vermittler zwischen Gott und uns Menschen den neuen Bund in Kraft gesetzt hat.“ (V. 18-24 i.A.)

Diese Vision ist eine erstaunlich ergiebige Ressource. Sie hilft uns, wenn wir vor Angst und Schrecken schlottern und uns der Atem flattert. Die Alleinstellung des himmlischen Berges Gottes macht unsern Horizont frei und stellt unsere Füße auf weiten Raum. Sie ist eine unwiderstehliche Einladung in einen Festsaal voller Engel, starker Ästhetik, wunderbarer Klänge und viel freier Sitzplätze.

Noch sind wir skeptisch, aber gibt es dazu mutmachende Beispiele? Ich denke an das von meinem Bekannten. Die Vision vom Singen in einem Profi-Chor gab ihm die Kraft, am Job-Verlust nicht zu verbittern und die Verursacher nicht zu dämonisieren. Einige Monate nach seinem Job-Antritt lud er mich ein zu einem Flashmob ins größte Einkaufszentrum der Stadt – an einem belebten Samstag. Einzelne Männer, unscheinbar in Alltagskleidung, tauchten auf und stimmten eine Melodie mit italienischem Text an. Frauen, die wie zufällig hinzutraten, verstärkten sie, bis aus über 50 Kehlen ein fulminanter Opernchor anschwoll. Wie von Zauberhand dirigiert, sangen alle den Gefangenenchor aus der Oper „Nabucco“. (4) Dabei ist Nabuccos biblischer Name ja Nebukadnezar, also singen bei Verdi die inhaftierten Hebräer ihrem babylonischen Unterdrücker mutig entgegen: „Flieg, Gedanke, flieg davon, auf goldenen Schwingen!“

Ich entdeckte alsbald meinen Bekannten, der auf einer Rolltreppe fahrend mit verschmitztem Lächeln kräftig mitsang. Die ganze Last war von ihm abgefallen, und er hatte weit über sein utopisches Ziel etwas erreicht. Er sang diesmal keine romantische Arie zwischen schweren Samtvorhängen, sondern ein souveränes Befreiungslied in einem geschäftigen Einkaufszentrum. Zu dieser Freiheit hatte ihn die Vision gebracht, nachdem sie ihn aus der Blockade herausgelockt hatte.

Wir heutigen Gottesdienstbesucher werden wohl nicht so schnell einen ähnlichen Flashmob in einem Konsumtempel singen. Doch wer weiß, wohin uns der Psalm 23 noch bringen wird, der uns schon jetzt mutmachende Worte leiht. „Im langen, finstern Tälern fürchte ich kein Unglück; denn du, Gott, bist bei mir, dein Stecken und Stab trösten mich. Du bereitest vor mir einen Tisch, obwohl mich noch Sorgen einschüchtern. Mir wird nichts mangeln, bis ich Platz nehmen darf, gestärkt durch deinen Schutz.“ Amen

Anm. 1: EKK/Erich Grässer; Anm. 2: BdNT/Christian Rose; Anm. 3: vgl “Gottesvergiftung”/Tilman Moser; Anm. 4: Nabucco, Flashmob des WDR-Rundfunkchores, Köln Arcaden 2013 – https://youtu.be/LXZMRTmaAAQ

 

Liedvorschläge:

Herr, stärke mich, dein Leiden zu bedenken; EG 91

Wenn das rote Meer grüne Welle hat; tvd Nr 304

Ich seh‘ empor zu den Bergen; freitöne Nr 42

Herr, unser Herr, wie bist du zugegen; WortLaute Nr 67

 

Fürbitte:

Du Gott, Quelle unserer Zuversicht,

spende unsern verzagten Herzen das Heil, für das du uns geschaffen hast.

Du Gott, Hort unserer Hoffnung,

kräftige unsere ramponierten Ideale mit dem Heil, das du für uns entwickelt hast.

Du Gott, Zielort unserer Mühen,

zeig unsern erschöpften Seelen das Heil, für das du uns begabt hast.

Du Gott, Krug unserer Traurigkeit,

eröffne unserm missbrauchten Ego das Heil, das du für uns bereinigt hast.

Du Gott, Heimat der Völker,

zeig unsern zerstrittenen Nachbarn den Schalom, zu dem du sie berufen hast.

Du Gott, Rastplatz unserer Wege,

navigiere uns hin zum Segen, mit dem du uns anlockst.

Du Gott, Mutter des Kosmos,

spende unsrer geschundenen Natur die Heilung, die du ihr mitgegeben hast.

Du Gott, Mitte der Ewigkeit,

gib unsrer aufgescheuchten Seele den Ort, den du für sie vorbereitet hast.

Du Gott, Maßstab der Versöhnung,

stärke in uns Verzagten den Glauben, den du in uns verankert hast. Amen

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geb. 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit bei Christival und Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn (1988- 2011) und Ruanda (2001-2019). Musiker und Arrangeur.

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