Hebräer 13,8-9b

Hebräer 13,8-9b

 


Altjahresabend, 31. Dezember
2001
Predigt über Hebräer 13,8-9b, verfaßt von Luise Stribrny
de Estrada

Vorbemerkungen:
Beim Schreiben der Predigt bin ich davon ausgegangen, dass der Predigttext
schon vorher als Epistellesung vorgekommen ist. Das Wochenlied EG 64 „Der
du die Zeit in Händen hast“, mit dem ich die Predigt beende, sollte
auf jeden Fall im Gottesdienst vorkommen. Ich habe mich dafür entschieden,
auf eine Zuspitzung für die Gemeinde und auf einzelne ihrer Mitglieder
zu verzichten, damit die Predigt leichter in andere Gemeindesituationen
übertragbar ist. Die persönlichen Anliegen und Probleme einzelner
gehören für mich in die Fürbitte, die an diesem Abend eine
besondere Rolle spielt.
Das Thema dieses Kasual-Gottesdienstes aus Anlass des Übergangs in
ein neues Jahr ist die Zeit in all ihren Facetten: Vergänglichkeit,
Gleichbleibendes, Ewigkeit. Dass Gott bzw. Jesus Christus sich als einziger
immer gleich bleibt, wie es Hebr. 13,8 bezeugt, ist für mich nicht
uneingeschränkt positiv, da es ihn von uns der Zeitlichkeit unterworfenen
Menschen entfernt. Tröstlich bleibt aber seine gnädige Zuwendung.Liebe Schwestern und Brüder!

Heute ist Zeit, um zurückzuschauen. Zugleich Zeit, um das Neue
schon in den Blick zu nehmen. Am Silvesterabend probieren wir Rückblick
und Ausblick, und damit auch in diesen Gottesdienst. Was war im schon
fast vergangenen Jahr wichtig, was werden wir in Erinnerung behalten?
Was hat uns im politisch-gesellschaftlichen Bereich, was hat uns als Kirchengemeinde
und was uns als einzelne, im Privaten bewegt? Jede und jeder von uns hat
seine eigenen Eindrücke und Erfahrungen, die er ordnet, gewichtet
und ablegt, aus denen er selbst eine Bilanz ziehen muss.

Was diesem Jahr 2001 für uns alle einen Stempel aufgedrückt
hat, ist das Attentat am 11. September, das sich in die kollektive Erinnerung
eingegraben hat. Viele der Tausenden, die in den Zwillingstürmen,
in den Flugzeugen und bei den Rettungsarbeiten umgekommen sind, sind ohne
Grab geblieben, so dass ihre Angehörigen und Freunde keinen Ort haben,
an dem sie trauern können, zu dem sie hingehen können, um mit
ihren Verstorbenen zu reden und von dem sie wissen, dass er ihre Reste
birgt. Der Terroranschlag hat die USA in ihr Herz getroffen und die Verwundbarkeit
der Supermacht offen gelegt. In Trauer und Mitleid für die Opfer
mischen sich bei uns auch das Bewusstsein des Ausgesetztseins und für
viele der Verlust eines Grundsicherheitsgefühls.

Die Herausforderung ist nicht unbeantwortet geblieben: Die USA haben
dem internationalen Terrorismus, Osama Bin Laden und als erstem Land Afghanistan
den Krieg erklärt. Die Taliban sind inzwischen geschlagen, Bin Laden
aber hält sich weiterhin in den Bergen versteckt. Der Krieg hat trotz
sogenannter intelligenter Bomben viele Menschen das Leben gekostet und
Tausende andere zu Flüchtlingen gemacht, die jetzt in Lagern an der
Grenze hausen, Hunger und Kälte ausgesetzt. Die Zukunft des verwüsteten
Landes ist noch nicht absehbar. Wann wird dieser Krieg gegen den Terrorismus,
der sich Gerechtigkeit auf seine Fahnen geschrieben hat, ein Ende finden?

Diese Fragen begleiten uns in das beginnende neue Jahr, zusammen mit
dem, was uns im persönlichen Bereich und in unserer Gemeinde beschäftigt.
Vielleicht ist es gut, dass es durch den Jahreswechsel eine Zäsur
gibt und wir uns von bestimmten Erlebnissen befreien, sie als abgeschlossen
betrachten können: Das ist erledigt. Auf der anderen Seite macht
uns das schon wieder vergangene Jahr deutlich, dass wir im Fluss der Zeit
stehen, der sich immer weiter bewegt und den wir nicht aufhalten können.
Wir werden wieder ein Jahr älter – wo bleibt unsere Lebenszeit, was
können wir für die uns verbleibende Lebensstrecke erhoffen,
was uns vornehmen? Was haben wir überhaupt selbst in der Hand, und
was kommt über uns als Unglück oder als Geschenk? Am Abend des
alten Jahres fühlen wir, wie der Boden unter unseren Füssen
in Bewegung gerät und gewohnte Sicherheiten nicht mehr tragen. Wir
fragen uns, was hindurchträgt in das neue Jahr, worauf wir uns verlassen
können.

„The same procedure as last year“ ist der Schlüsselsatz
in der alljährlich zu Silvester gespielten englischen Komödie
„Dinner for one“. Die Wiederholung, auch wenn sie lächerlich
geworden ist, gibt Sicherheit in einer Situation, die von Abbruch und
Vergänglichkeit gekennzeichnet ist. Obwohl von den Freunden und Verehrern
der alten Dame inzwischen keiner mehr zu Besuch kommt und wahrscheinlich
auch kaum noch einer lebt, feiert sie weiterhin mit ihnen Silvester und
lässt ein hundertmal eingeübtes Schauspiel ablaufen, bei dem
ihr Butler assisitiert. Im Angesicht der Leere bewahrt die Lady die Form
– und lacht sich insgeheim in’s Fäustchen über die Fallen, die
darin für ihren alten Vertrauten versteckt liegen. – Wahrscheinlich
ist diese Komödie so beliebt, weil sie uns einen Spiegel vorhält:
Auch wir wünschen uns oft, dass alles „so wie immer“ abläuft,
weil uns das Geborgenheit gibt und uns an alte Zeiten erinnert – und dabei
merken wir oft gar nicht oder zu spät, dass die Hülle leer geworden
ist und das, was früher war, unwiderruflich vorbei ist. Wir klammern
uns an das, was gewesen ist und hindern uns selbst daran, dem Neuen ins
Auge zu sehen und darauf angemessen zu reagieren. Wir hoffen, das, was
gut war, liesse sich beliebig wiederholen, aber das Leben geht unaufhaltsam
weiter, und wir müssen uns ihm stellen, auch wenn das bedeutet, Abschied
zu nehmen.

Gibt es in all diesem Wechsel trotzdem Kontinuitäten? Woran können
wir uns festhalten angesichts der Vergänglichkeit? Im heutigen Predigttext
aus dem Hebräerbrief heisst es: „Jesus Christus, gestern und
heute und derselbe auch in Ewigkeit.“ Einer bleibt sich gleich und
verändert sich nicht, während alles andere dem Fluge der Zeiten
unterworfen ist. So wie er früher gewesen ist, erleben wir ihn auch
heute und können uns darauf verlassen, dass er sich in alle Zukunft
hinein gleich bleiben wird. Er ist wie ein sicherer Hafen, den wir jederzeit
anlaufen können, wenn die Stürme uns umtreiben. Er ist uns Zuflucht
und Sicherheit. Christus ist der ständigen Veränderung nicht
unterworfen, sondern aus ihr herausgenommen, er steht jenseits von ihr.

Einerseits ist es beruhigend, sich darauf verlassen zu können. Es
gibt aber auch eine andere Seite, die mich zum Widerspruch herausfordert.
Ist ein Gott, der sich nie verändert, nicht zu festgelegt, zu statisch,
um uns Menschen in all den Wechseln zu begleiten? Was begreift ein Gott,
der sich ewig gleich bleibt, von unserem Leben, wie kann er uns nah sein?
– Man muss sehr genau aufpassen, in welchem Kontext Sätze wie der
von dem derselbe bleibenden Christus gesagt werden und wie sie gemeint
sind, damit sie nicht zum Dogma erstarren, mit dem Menschen leicht mundtot
gemacht werden können.

Im Hebräerbrief richtet dieser Vers sich an Christen und Christinnen,
die von allen Seiten kommenden Anfragen an ihren Glauben standhalten müssen
und selbst in Gefahr sind, das Eigentliche aus den Augen zu verlieren.
Inmitten eines Nebeneinanders vieler religiöser Strömungen müssen
sie aufpassen, dass sie nicht von anderen Lehren fortgerissen werden.
Sie ringen um das, was im Zentrum des christlichen Glaubens steht, wie
sie ihn kennengelernt haben. Der Verfasser dieses Briefes stellt ihnen
Jesus Christus vor Augen, an dem sie sich ausrichten sollen: So wie ihn
die Apostel beschrieben haben, so wie man sich in den Gemeinden von ihm
immer wieder erzählt, so war er wirklich. Er hat sich Menschen zugewandt,
die in Not waren, und ihnen dadurch, dass er sie gesund gemacht und ihnen
ihre Würde wiedergegeben hat, gezeigt, dass Gott sie liebt wie eine
Mutter ihre Kinder. Er war mit Gott so eng verbunden, dass er wie er,
in seiner Vollmacht, handelte. Nach seinem Tod hat Gott ihn in den Himmel
aufgenommen und ihm die Herrschaft über die Welt übertragen,
die er bisher allein innegehabt hatte. Seine Gemeinde kann sich jetzt
voller Vertrauen an ihn wenden, genauso wie die Menschen es getan haben,
als er noch unter ihnen lebte. Das gilt auch für die Zukunft, solange
jeder einzelne lebt und und bis an’s Ende der Welt.

Der Verfasser des Hebräerbriefes weiss, dass es nicht einfach ist,
sich auf den Glauben an Christus, der sich in seinem Interesse für
uns Menschen gleich bleibt, einzulassen. Dazu bedarf es einer Sicherheit,
die man nicht aus sich selbst erreichen kann. Er sagt das so: „Es
ist gut, dass das Herz gefestigt wird, und zwar durch Gnade.“ Wir
können das Vertrauen auf Christus nicht einfach selbst herstellen,
nicht durch häufige Gebete, durch genaues Leben nach Gottes Willen
und intensives Nachdenken erreichen, sondern sind auf die Gnade angewiesen,
die uns im Innersten stärkt. Das macht es schwerer und leichter zugleich:
Schwerer, weil wir es selbst nicht in der Hand haben, uns sozusagen die
Handlungsmöglichkeiten genommen sind, und leichter, weil es nicht
von unserem Verdienst abhängt, wir also auch keine Angst zu haben
brauchen, dass wir bestimmte Anforderunge nicht erfüllen. Was wir
tun können, ist, uns für Gottes Gnade zu öffenn, mit ihr
zu rechnen, sie heineinzulassen in unser Herz, und ihr einen Raum einzuräumen.
Indem wir uns Zeit nehmen für die Begegnung mit Got und uns auf die
Suche nach ihm machen. Dabei können uns das Gebet und auch das Singen
helfen, zum Beispiel das Singen von Jochen Kleppers Neujahrslied „Der
du die Zeit in Händen hast“, in dessen letzter Strophe es heisst:

„Der du allein der Ewge heisst
und Anfang, Ziel und Mitte weisst
im Fluge unsrer Zeiten:
bleib du uns gnädig zugewandt
und führe uns an deiner Hand,
damit wir sicher schreiten.“ (EG 64,6)

Wie eine Variation auf den Predigttext klingt das und fasst gleichzeitig
das Gefühl in Worte, das uns angesichts des Jahreswechsels überfällt:
Wir erleben, dass unsere Zeit verfliegt und alles der Vergänglichkeit
unterworfen ist. Der einzige, der davon ausgenommen ist, ist Gott als
Vater, Sohn und Heiliger Geist. Damit wird zwar der Abstand deutlich,
der Gott und uns trennt, andererseits bleibt er aber unsere Zuflucht jenseits
aller Zeitlichkeit. An ihm können wir uns immer von neuem orientieren,
egal, wo wir gerade stehen. Der Glaube an ihn kann uns gerade eine Basis
dafür bieten, dass wir uns den Anforderungen des Neuen stellen und
nicht darauf angewiesen sind, immer wieder zwanghaft das gleiche zu wiederholen.
Wenn unser Leben in ihm einen Fixpunkt hat, brauchen uns die vielfältigen
Veränderungen nicht zu verunsichern.

Gott geht, wie es bei Jochen Klepper heisst, an unserer Seite und hält
unsere Hand. Trotz aller Fragen, die weiterhin bleiben, können wir
darauf vertrauen, dass Gott uns jederzeit nahe ist. Wir kennen ihn, er
hat sich nicht verändert, seitdem er in Jesus Christus Mensch geworden
ist. So wie damals will er uns auch heute zu Menschen machen, die im Bewusstsein
leben, dass sie Gottes geliebte Kinder sind und daraus ihre Kraft beziehen,
die auf andere ausstrahlt.

Damit unser Herz in diesem Glauben gestärkt werde, bleibe er uns
gnädig zugewandt.
Darum bitten wir ihn in der heutigen Nacht und für das neue Jahr.
Amen.

Luise Stribrny de Estrada,
Pastorin in der ev.-luther. Gemeinde deutscher Sprache in Mexiko.
E-Mail: marclui@prodigy.net.mx

 

de_DEDeutsch