Jakobus 5,13-16

Home / Kasus / 19. So. n. Trinitatis / Jakobus 5,13-16
Jakobus 5,13-16

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


19. Sonntag
nach Trinitatis, 29. Oktober 2000

Predigt über Jakobus 5,13-16,
verfaßt von Hans Joachim Schliep


Vorbemerkung zur
Predigt

„Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand
guten Mutes, der singe Psalmen. Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich
die Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit
Öl in dem Namen des Herrn. Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken
helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat,
wird ihm vergeben werden. Bekennt also einander eure Sünden und betet
füreinander, dass ihr gesund werdet. Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn
es ernstlich ist.“

Liebe Gemeinde!

Besuch im Krankenhaus. Die Frau hatte Krebs. Die
Lunge. Schon als junges Mädchen hatte sie geraucht. Damals, nach dem
Krieg, in der Besatzungszeit, die amerikanischen Zigaretten ohne Filter, den
Ami-Soldaten abgeluchst, wenn es sein musste, für ein paar Küsse (wie
ich später von jemandem erfuhr, der sie gut und lange kannte). „Herr
Pastor“, sagt sie und quält ihren Körper, bis auf die Knochen
abgemagert, aus dem Bett, „beten kann ich nicht, habe ich nie gekonnt. Tun
Sie’s jetzt auch nicht, bitte nicht. Geben Sie mir ihren Arm. Bringen Sie mich
auf den Flur. Und rauchen Sie mit mir eine Zigarette.“ Und dann standen wir
hinten im Flur, am Fenster – und „qualmten eine“. Sie in tiefen
Lungenzügen. Seit einem Jahr Nichtraucher konnte ich es noch, mit kleinen
Hustenanfällen. Eine Woche nach diesem Krankenbesuch habe ich die Frau
beerdigt.

Beten ist anders – beten, wie es im Jakobus-Brief
gemeint ist. Und wohltuende, lindernde Salbe riecht anders – anders als
Zigarettenqualm. Hatte das gemeinsame Rauchen dieser Zigarette doch etwas mit
beten zu tun? Ich war dieser Frau, die ich gerade erst kennengelernt, die mich
beim Besuch ihrer Zimmernachbarin an ihr Bett gerufen hatte, sehr nahe. Jeder
mühsame, schlurfende Schritt zum Fenster hin, jeder Sog an der Zigarette
war wie ein gemeinsamer Gang durch Lust und Schmerz – durch diese seltsame
Lust, die Menschen auch in widersinnigem Handeln spüren können, und
durch den tiefen Schmerz, den das unausgesprochene, aber klare Wissen erzeugt:
Dieses Leben ist verbraucht, verraucht. Hier berührt sich etwas. Denn mit
jemandem beten heißt, mit diesem Menschen in die Tiefe gehen, dem Schmerz
eine Stimme geben. Nicht auf schnelle Lösungen setzen, aber den Sorgen
eine Adresse geben, ebenso den Erfahrungen und Einsichten, die man im Kranksein
gewinnen kann.

In die Tiefe gehen – und hoch hinaus. „Leidet
jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes, der singe Psalmen.“ Das
klingt wie eine Gebrauchsanweisung – quadratisch, praktisch, gut. Es ist aber
mehr. Es ist eine Ortsbestimmung: Wo ich ganz unten bin und wo ich ganz oben
bin, habe ich mich nicht mehr selbst in der Hand. Wo ich die Schwerkraft einer
dunklen Erde und wo ich die Leichtigkeit eines lichten Himmels spüre,
wirken Kräfte an mir, die mir über sind. Wie beim Beten, diesem
elementaren Lebensausdruck, der mit dem Einatmen beginnt. Wie beim Singen, der
Schwester des Betens. Gott begegnet, wo wir Glück und Leid, Lust und
Schmerz, Mut und Verzweiflung wahrnehmen. Und im Beten und Singen sind wir
beteiligt an den Erfahrungen, die uns ergreifen und überwältigen. Wir
verstummen nicht. „Leidet jemand unter euch, der bete; ist jemand guten Mutes,
der singe Psalmen.“ Ein guter Rat.

Seit gut einem Jahr bin ich Pastor in einem
Neubaugebiet. Nach sieben Jahren Pfarramt und siebzehn Jahren Leitungsaufgaben
in der Landeskirche wieder Pastor in einer Gemeinde, die sich erst noch bildet:
Was fällt mir auf im Vergleich zur Zeit des ersten Pfarramts? Keineswegs
nur, aber auch dieses: Menschen wollen Menschen, die zu ihnen kommen und mit
ihnen gehen. In der letzten Woche habe ich die Frage dreimal gehört, nicht
von alten, sondern von Menschen in der Lebensmitte: „Haben Sie jemanden,
der/die zu mir kommen, der/die mich begleiten kann? Ich traue mich nicht aus
dem Haus. Ich kann nicht allein in der Straßenbahn fahren. Kann mich
jemand zum Arzt bringen?“ Brauchen wir, über die Besuchsdienste hinaus, in
unseren Gemeinden spezielle Begleitdienste? Und wer übernimmt, außer
in der Fürbitte im Gottesdienst, den Dienst des Betens für andere?

In der Gemeinde des Jakobus gab es offenbar solche
Dienste. Sie wurden von den Ältesten wahrgenommen. Andere zu besuchen, mit
ihnen und für sie zu beten, gehört von Anfang an zu den besonderen,
aber selbstverständlichen und unverzichtbaren Aufgaben in einer Gemeinde,
wurzelnd in alter jüdischer Praxis. Die Gemeinde als der Ort, „an dem der
kranken Glieder gedacht, der Umgang mit ihnen vorbereitet und das Gebet
für sie geübt wird.“ (Jürgen Ziemer) Das kann auch so geschehen,
dass für die Kranken in der Gemeinde eine Kerze in der Kirche
entzündet wird.

„Ist jemand unter euch krank, der rufe zu sich die
Ältesten der Gemeinde, dass sie über ihm beten und ihn salben mit
Öl in dem Namen des Herrn.“ Das ist keine Anweisung, erst auf einen Ruf zu
warten, bis man jemanden besucht. Es ist der Rat an eine/n Kranke/n, von sich
aus um einen Besuch zu bitten, von sich aus es Jesus nachzumachen: Komm‘ doch –
und bleibe hier und wache mit mir. Auch bei einem kranken Menschen wird mit
Kräften gerechnet, die rufen lassen. Wer krank ist, braucht Hilfe, ist
aber nicht hilflos, wird nicht wie ein/e Hilflose/r behandelt. Der Wille, die
Würde, die Selbstständigkeit eine/s Kranke/n werden geachtet.

Und die Lebenskräfte des/der Kranken werden
gestärkt. Wo im Kranksein das Leben aus dem Blick zu geraten, ja, wo Gott,
die Quelle und Kraft allen Lebens, zu entschwinden droht, bekommt ein/eine
Kranke/r wieder zu spüren, was Leben ist. Beten heißt: Lebensworte
sprechen, Lebensworte hören. Keine Medizin, die da einfach verabreicht
wird, sondern eine Erinnerung an die Lebenskräfte, die bisher gewirkt
haben, und eine Appellation an den, in dem so unendlich viel Leben ist, dass er
allein über Leben und Tod verfügen kann. Der „Name des Herrn“, dieses
unverwechselbare, unüberbietbare Wort des Lebens, wird aufgeboten gegen
alles, was das Leben gefährdet und beeinträchtigt. Beten heißt:
die Gegenwart Gottes wahrnehmen – auch da, wo die Wasser tief sind und die
schweren Ruder gehen.

Das Salböl ist spürbarer, fühlbarer
Trost, weniger zum Heilen als viel mehr zum Lindern der Schmerzen, kein
Wundermittel, sondern Ausdruck der persönlichen Zuwendung. Es tut einfach
gut, gesalbt zu werden: Der erfrischende Duft bringt den Geruch des Lebens
zurück. Wo zuviel Hitze ist, wird es kühler. Wo schrundige,
absterbende Haut gefühllos wird, wird sie berührt und belebt. Da
denke niemand an eine „letzte Ölung“. Es geht nicht um Bereitung zum
Sterben, sondern um Heilung und Leben! Die Ölsalbung in der frühen
Christenheit ist kein Sterbesakrament, sondern ein Lebenszeichen! Schon im
Judentum symbolisiert „Lebensöl“ wie „Lebenswasser“ die Erhaltung des
Lebens. Mag jede Krankheit auch schon eine Art „Höflichkeitsbesuch des
Todes“ sein, im Lebenswort und im Lebensöl sagt ein Mensch zu einem
anderen Menschen: „Du sollst leben. Und was ich vermag, will ich tun,
damit du leben kannst. Im Namen Gottes, der alles Leben schuf.“ So bleibt ein
Mensch, auch wenn er/sie krank ist, verbunden mit Gottes Lebensmacht.

Zuerst, liebe Gemeinde, wirkten die Worte des
Jakobus-Briefs etwas trocken und sperrig auf mich. Wenn ich mir aber das
freundliche, wohltuende Geschehen, von dem die Rede ist, vor Augen führe,
dann gewinnen diese Worte selbst an Leben. Ich schließe daraus:
Krankenseelsorge ist Sorge für den Leib und das Leben selbst. Bei dem, was
nun folgt, gilt es aber, besonders genau hinzuhören. Sonst stellen sich
verheerende Mißverständnisse ein.

„Und das Gebet des Glaubens wird dem Kranken
helfen, und der Herr wird ihn aufrichten; und wenn er Sünden getan hat,
wird ihm vergeben werden.“ Hier wird aus dem Glauben keine „schwarze
Pädagogik“ gemacht. Es ist nämlich keine Rede davon, dass Not eben
beten lehre. Es ist auch keine Rede davon, dass nur kräftig genug gebetet
werden müsse, damit eine/r wieder gesund werde. Und es ist keine Rede
davon, dass nicht genug gebetet oder geglaubt habe, wer krank wird oder bleibt.
Ja, so habe ich es doch tatsächlich von einer Kanzel in einem Urlaubs- und
Kurort gehört. Es gibt immer noch Christen, die dieser Irrlehre verfallen
sind. Aber ein Beten, das hilft, das wirklich Gespräch mit Gott ist, in
dem ich alles von Gott erwarte, kann kein Beten mit Erfolgsgarantie oder als
Leistungsnachweis sein.

Im Jakobus-Brief heißt es ja nicht, dass das
„Gebet des Glaubens“ heilt, sondern dass es hilft. Das zielt auf
erhoffte Heilung, ist aber noch etwas anderes. Es hilft so, wie schon
angedeutet: Einem kranken Menschen, der sich leicht von allen verlassen
fühlt, wird persönliche Zuwendung zuteil, andere nehmen an
seinem/ihrem Leben teil, ja, ringen sogar mit ihm und für ihn mit Gott.
Menschliche Beziehungen werden neu gespürt und, wo sie zerbrochen sind,
erneuert. Vor allem steht nirgendwo, dass der/die Kranke eine Sünde
begangen hat, sondern wenn er/sie gesündigt hat, wird ihm/ihr
vergeben.

Es ist es schwer, Krankheit und Sünde
voneinander strikt getrennt zu halten, ohne ihren Zusammenhang zu leugnen. Ich
versuche es heute so: Jesus hat es abgelehnt, eine Krankheit auf eine
Sünde zurückzuführen, sie gar als Strafe zu bezeichnen. Aber er
hat den Kranken den Glauben nahegebracht, ihre Beziehung zu Gott erneuert. Denn
nicht dieser Kranke ist ein Sünder, sondern Krankheit ist Zeichen
der Gottesferne und der Todesverfallenheit des Menschen diesseits von Eden, der
zwar frei, aber endlich ist. Da ist keine/r besser dran als der/die andere. Das
ist allen gemeinsam und immer schon ein guter Grund für persönliche
Zuwendung und für Zusammenhalt. Darum haben alle es nötig, darum tut
es allen gut, seien sie jetzt „gesund“ oder „krank“, dass die Beziehung zu
Gott, zum Grund des Lebens, erneuert wird. Und wirklich gesund werden kann ein
Mensch nur, wenn sein Leib nicht immer wieder durch eine belastete Seele
beunruhigt, bedrückt und beeinträchtigt wird.

Wir wissen heute viel genauer, wie sehr Seele und
Leib, wie sehr das Psychische und das Physische aufeinander Einfluss nehmen.
Darum gehört Vergebung zur Gesundung dazu. Denn wirkliches Gesundwerden
schließt Leib und Seele ein. Im Jakobus-Brief sind mir Krankheit und
Sünde viel zu eng aneinander gerückt. Aber in diesem Sinn kann ich
verstehen, was da steht: „Bekennt also einander eure Sünden und betet
füreinander, dass ihr gesund werdet.“ Mit anderen Worten: Deckt einander
eure Lebenssituation auf, tretet füreinander ein, damit ihre eure
gemeinsame Situation wahrnehmt und kein quälender Rest bleibt, der zum
„Pfahl im Fleisch“ wird! Übrigens: Vom Beichten, vor allem nicht von einem
Ausbreiten geheimster Gedanken und Regungen vor einer Amtsperson, die dann
Bußauflagen und -übungen anordnet, kein Sterbenswort!

Das Gebet des Glaubens hilft – in einem noch ganz
anderen Sinn. Glaube ist kein Zauberschlüssel, mit dem ich alle
Lebensprobleme wegschließen, kein Wundermittel, mit dem ich alle Sorgen
beseitigen kann. Aber Glaube, der auf das Kreuz blickt, eröffnet einen
Zugang zu der Wahrheit, dass Leben mehr ist als gesund und stark sein und Heil
mehr ist als Heilung. „Es gibt erfülltes Leben im unerfüllten“ (Helge
Adolphsen). Auch ein Mensch, völlig verkrümmt, kann „aufgerichtet“
sein. Die Würde des Menschen besteht in seiner Unvollkommenheit und nicht
im Wahn eines perfektionistischen Menschenbildes. Auf diese angemessene
Beziehung zum Leben und zum Lebensgrund in Gott, darauf kommt es an. Sie
bezeichnet die Bibel als „gerecht“. Wer in ihr lebt, ist ein/e „Gerechte/r“.
Deshalb kann es am Schluss heißen:

„Des Gerechten Gebet vermag viel, wenn es
ernstlich ist.“ Eine ungewöhnliche Aussage. Mit einem Ohr höre ich
sie so: Trau‘ dem Gebet viel zu, trau‘ ihm mehr zu an Wirkung auf Seele und
Leib, als dein eindimensionales Weltbild zuläßt! Mit dem anderen
Ohr höre ich zugleich: Das Viele, das des „Gerechten Gebet … vermag“,
ist die Beziehung zu Gott. Sören Kierkegaard sagt sogar, Gott nötig
zu haben, sei des Menschen höchste Vollkommenheit. In dieser Beziehung zu
leben – in der Gewissheit, dass nichts mich scheiden kann von der Liebe Gottes
in Jesus Christus – bedeutet dann auch: Jedes meiner Gebete ist
erhört. Nur was dem Gebet folgt: wie es erhört ist, steht
in eines anderen Macht.

Ich denke noch einmal an die Frau, mit der ich im
Krankenhaus eine Zigarette geraucht habe. Sie wollte nicht beten, weil sie
meinte, sie könne es nicht. Vielleicht hatte sie noch andere, mir
unbekannte Gründe. Denn richtig kennengelernt habe ich sie ja nicht. Ich
hatte mich ihr und sie hatte sich mir nur kurz vorgestellt. Dann kam gleich ihr
Wunsch, der mich so überraschte, dass ich ihm nicht widerstehen konnte.
Vielleicht wäre ihr das Beten viel zu nahe gegangen. Oder ist wichtig nur
dieses: Ich habe angefangen zu beten – für sie, mit der Zigarette. Die hat
uns so nahe gebracht, dass ich sie nicht vergessen – und noch nach so vielen
Jahren immer einmal wieder an sie denken und für sie beten kann. Ihr
Lebensweg ist längst zu Ende, von ihrer Lebensspur ist noch etwas da in
meiner Erinnerung.

Geht es denn anders zu in unserer Beziehung zu
Gott, der Mensch geworden ist, der in Jesus Christus mittendrin ist in unserem
Leben und dem nun nichts Menschliches fremd ist, der auch das Unvollkommene
annimmt, das Widersinnige erträgt und uns im Gedächtnis behält?

Amen.

Hans Joachim Schliep
Pastor am Ev.
Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
Fon/Fax: 0511 –
52 75 99
E-Mail:
Hans-Joachim.Schliep@evlka.de

Vorbemerkung: Der
Jakobusbrief bezieht weisheitliche Tradition des Judentums auf das
Christusgeschehen. Es geht ihm um erkennbaren christlichen Lebensstil in einem
nicht-christlichen Umfeld. Findet man ein völlig ethisiertes Christentum
vor, wird man Paulus gegen Jakobus stark machen. Umgekehrt muss man Jakobus
gegen Paulus anführen, wenn Glaube ohne praktische Konsequenzen bleibt.
Jakobus ist also keine „stroherne Epistel“. Gerade wo es um das Beten geht –
wie in 5,13-16 – geht es um die Praxis des Rechtfertigungsglaubens: alles von
Gott zu erwarten. Vers 15 ist besonders sorgfältig auszulegen, damit weder
der Eindruck einer Automatik: „Wer nur genug betet, wird geheilt.“ (mit dem
falschen Rückschluss: „Wer krank bleibt, hat nicht genug gebetet.“) noch
das fatale Missverständnis: „Wer krank ist, hat gesündigt.“ entsteht.
Weil gröbste und äußerst schädliche Missverständnisse
schnell entstehen können, muss der Text erklärt und hier und da gegen
den Strich gebürstet werden. Besonders hilfreich ist die Predigtmeditation
von Jürgen Ziemer in GPM 8/1994, S. 385-391. Eine Alternatividee: die
Predigt als Brief heute an eine Gemeinde oder einen einzelnen Christen zu
formulieren.


de_DEDeutsch