Jesaja 11,1-9

Jesaja 11,1-9

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Christfest II,
26. Dezember 2000

Predigt
über Jesaja 11,1-9, verfaßt von Paul Kluge


Liebe Gemeinde, Schwestern und Brüder,

Jesaja hat eine Welt von morgen, für morgen
beschrieben, eine Welt, von der er träumte und an die er glaubte. Rund 500
Jahre später schrieb ein anderer, „Prediger“ genannt: „Das
Auge wird nicht satt zu sehen, das Ohr wird nicht voll vom Hören. Was
gewesen ist, wird wieder sein, und was geschehen ist, wird geschehen. Es gibt
nichts Neues unter der Sonne.“

Der diese Gedanken aufschrieb, zog Bilanz, und er
bilanzierte nicht nur sein eigenes Leben. In alten Schriften hatte er
geforscht, hatte bei den Alten erfragt, wie es früher war, von Menschen
aus fernen und fremden Ländern hatte er wissen wollen, wie es dort zuging.
Wo immer er an Nachrichten kommen konnte, hatte er sie gierig aufgenommen. Doch
was er sah, was er hörte, was er erfuhr: Es ähnelte sich, und das oft
so sehr, daß ihm schien: Überall auf der Welt das gleiche Schema,
nach dem alles ablief. Gewiß, Einzelschicksale unterschieden sich,
jedenfalls manchmal. Und so schwer Einzelne auch an ihrem Los zu tragen hatten:
Dahinter stand immer das gleiche Schema, ob zwischen einzelnen Menschen oder
zwischen Völkern: In Ängsten die einen, und die anderen lebten gar
nicht schlecht. Nichts Neues unter der Sonne.

Der Schreiber lehnte sich zurück, er
mußte noch einmal nachdenken, ob dieser Satz so stehenbleiben konnte.
Schließlich sollte, was er aufschrieb, anderen zur Lehre dienen. Seine
Erfahrungen sollten anderen, jüngeren helfen, mit ihrem Leben besser
fertig zu werden, in einer besseren Welt zu leben.

Ja, als er noch jung war: Wie hatte er sich da
eingesetzt! Für Gerechtigkeit zum Beispiel. Unter den Geschwistern, in der
Clique, später auch in der Öffentlichkeit. Je mehr er sah und
hörte, um so mehr sah und hörte er von Ungerechtigkeit und Unrecht.
Menschen wurden ihre Rechte vorenthalten, sie wurden um ihr Recht betrogen. Er
wurde nicht müde, dies anzuprangern, und daß es offensichtlich nur
das Recht des Stärkeren gäbe, niemand aber das Recht des
Schwächeren verteidige. Dabei gab es doch so viele von den
Schwächeren und eigentlich recht wenige Starke.

Die Starken aber verbreiteten Angst und Schrecken,
übten Gewalt aus, stifteten Unfrieden. Unfrieden zwischen Menschen,
Unfrieden zwischen Völkern. Auch für Frieden hatte er sich vehement
eingesetzt, hatte – obwohl kein Schwächling – schon als Kind jede Rauferei
vermieden, hatte mutig manchen Streit geschlichtet, auch niemals zur Waffe
gegriffen. In öffentlichen Reden, mit Briefen und Aufrufen hatte er sich
für Frieden stark gemacht, für Frieden in den Häusern, unter
Menschen, zwischen Völkern und Staaten. Doch die Starken hörten
nicht, die Machthaber machten, was sie wollten – ohne Rücksicht auf die
Schwachen. Und die ließen mit sich machen, denn sie hatten Angst. Sie
fürchteten um ihr karges tägliches Brot und waren dankbar für
die paar Krümel, die von den Tischen der reichen herabfielen. Merkten
nicht, daß sie durch Hunger schwach gehalten wurden. Und durch Unwissen.

Sie wußten etwa nicht, daß sie das
Land verwüsteten, wenn sie für Hungerlohn den Wald abholzten für
die Häuser der Reichen – und daß ihre Kinder dort nichts mehr zum
Leben haben würden. Auch darauf hatte er immer wieder hingewiesen und
daß man Gottes Schöpfung pflegen mußte für kommende
Generationen. Doch die Armen wollten jetzt satt werden, die Reichen jetzt
prassen, und an diesem Jetzt würde die Welt noch zu Grunde gehen.

Ja, so hatte er geredet, hatte er geschrieben, als
er jung war. Als er älter wurde, stellte er fest: Nichts hat sich
geändert, aber die Welt dreht sich noch immer; Menschen, Tiere und
Pflanzen leben noch immer in ihr. Doch Ungerechtigkeit, Unfrieden,
Zerstörung der Natur empörten ihn nach wie vor. Nur, daß er
nicht mehr anprangerte, sondern an Vernunft und Einsicht appellierte.
Allerdings schien ihm, daß nicht nur die Schwachen in der Mehrheit waren,
sondern auch die Uneinsichtigen. Nun war er alt und müde geworden,
bilanzierte sein Leben, damit andere daraus lernten. Nichts Neues unter der
Sonne? Jedenfalls, solange Menschen über Menschen herrschten, Starke
über Schwache.

Er erinnerte sich an einen Text, den er
früher immer und immer wieder gelesen, den er auswendig gekonnt hatte, und
der für ihn so etwas wie ein Glaubensbekenntnis gewesen war. Gewesen war?

Er versuchte, sich den Text aufzusagen, doch
einige Sätze fielen ihm nicht mehr ein. Er schlug nach, und las: Jes 11,
1-9.

Er seufzte. Das war nun ein paar hundert Jahre
her, daß Jesaja dies verheißen hatte. Nichts dergleichen war
seitdem geschehen. Nichts Neues unter der Sonne. Ob das daran lag, daß
immer noch Menschen über Menschen herrschten, Starke über Schwache?
Wahrscheinlich. Denn was Jesaja beschrieb, war die Königsherrschaft
Gottes. Die aber bedeutete das Ende aller Herrschaft von Menschen über
Menschen. Anarchie, würden die Machthaber rufen, und Gottes Herrschaft zu
verhindern trachten. Und die Unterdrückten würden sich nach Befehlen
und Anordnungen sehnen.

Dennoch: Visionen braucht das Land, dachte er, und
Jesaja hatte eine: Weisheit und Einsicht, Recht und Gerechtigkeit zeichnen
Gottes Volk aus, Schluß ist mit aller Gewaltherrschaft, Friede herrscht
zwischen den Völkern (er wußte nicht mehr genau, welches Tier
für welches Volk stand, aber das war auch egal), Gott der Herr regiert,
ihm allein gebührt Ehre, Macht und Reich.

Er spürte wieder etwas von seiner alten
Begeisterung für diese Worte Jesajas. Zugleich erinnerte er sich,
daß seit Jesaja mancher Herrscher diese Worte auf sich bezogen, ihnen
aber mit seinen Taten widersprochen hatte. War überhaupt eine einzelne
Person gemeint, oder sprach Jesaja hier von denen, die nach dem Gericht Gottes
übrigbleiben würden und mit denen Gott sein Reich errichten wollte?
Wohl eher dies, dachte er, denn ein einzelner Mensch wird das – auch mit Gottes
Hilfe – kaum schaffen. Da müssen viele, da müssen alle Menschen das
Gleiche wollen: Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung. Am Abend
wollte er seinen Enkelkindern den Text vorlesen und hören, was sie dazu
sagten. „Eigentlich,“ gestand er sich ein, „eigentlich will ich
sie mit diesem Text infizieren, will ihnen die Vision Jesajas weitergeben.
Damit sie nicht in jungen Jahren schon resignieren, weil sie keine Zukunft
sehen. Damit sie an den erstarrten Formen rütteln, gegen Ungerechtigkeit
rebellieren, für Frieden auf die Straße gehen, die Schöpfung
bewahren lernen. Sie sollen weitermachen, was ich nicht zu Ende bringen werde.
Einmal muß es doch anders, besser werden!“

Er stand auf, reckte sich und sah nach
draußen, von wo er Gekreische hörte. Sein jüngster Enkel
prügelte sich gerade mit der kleinen Tochter des Nachbarn.
„Vielleicht aber geht das mit diesen Menschen überhaupt nicht,“
zweifelte er an seinen eigenen Gedanken, „Menschen sind einfach keine
Friedensengel. Wird man sie je dazu machen können? Oder muß Gott
selbst eingreifen, daß die Welt so wird, wie er sie wollte?“

Er rief seinen Enkel zu sich. „Hör
mal,“ mahnte er, „ihr sollt euch vertragen.“ – „Die hat
aber angefangen,“ verteidigte sich der Kleine und bekam zur Antwort:
„Dann sei du so stark, nicht zurückzuschlagen!“ Sein Enkel
blickte etwas verwundert und lief wieder hinaus, er aber dachte an Jesajas
Vision, und daß sie wohl immer Vision bliebe. Daß Visionen von
einer besseren Welt, in der Gerechtigkeit und Friede sich küssen und in
der die Schöpfung bewahrt wird, aber unbedingt nötig seien – sonst
würde die Welt vollends in Ungerechtigkeit, Unfriede und zerstörter
Schöpfung versinken. „Vielleicht,“ murmelte er vor sich hin,
kommt ja mal einer und bringt, wovon Jesaja gesagt hat. Wer weiß!“
Amen

Gebet:

Liturg: Ewigvater, Friedefürst, wir haben
Grund zu klagen

Chor: Unfriede herrscht auf der Erde, Kriege und
Streit bei den Völkern, und Unterdrückung und Fesseln bringen so
viele zum Schweigen (EG RWL 671,1)

Gemeinde: Friede soll mit euch sein, Friede
für alle Zeit, nicht so, wie ihn die Welt euch gibt, Gott selber wird es
sein (Refrain)

Liturg: Ewigvater, Friedefürst, wir haben
Grund zu bitten:

Chor: In jedem Menschen selbst herrschen Unrast
und Unruh ohn End, selbst, wenn wir ständig versuchen, Frieden für
alle zu schaffen (EG RWL 671, 2)

Gemeinde: Friede soll mit euch sein, Friede
für alle Zeit, nicht so, wie ihn die Welt euch gibt, Gott selber wird es
sein (Refrain)

Liturg: Ewigvater, Friedefürst, wir haben
Grund zu danken:

Chor: Laß uns in deiner Hand finden, was du
für alle verheißen. Herr, fülle unser Verlangen, gib du uns
selber den Frieden (EG RWL 671, 3)

Gemeinde: Friede soll mit euch sein, Friede
für alle Zeit, nicht so, wie ihn die Welt euch gibt, Gott selber wird es
sein (Refrain)

Liedvorschlag

Es ist ein Ros’ entsprungen, EG 30;
Freu’ dich, Erd und Sternenzelt, EG 47; Singt, singt dem Herren neue
Lieder, EG 286 (oder 287); Lobt und preist die herrlichen Taten, EG 429; Gott,
der Herr regiert, EG RWL 625

Paul Kluge, Provinzialpfarrer im

Diakonischen Werk der Kirchenprovinz Sachsen, Magdeburg
E-Mail: Paul.Kluge@t-online.de


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