Jesaja 29, 17-24

Home / Kasus / 12. So. n. Trinitatis / Jesaja 29, 17-24
Jesaja 29, 17-24

Göttinger
Predigten im Internet,

hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


12. Sonntag nach Trinitatis
22. August 1999
Predigttext: Jesaja 29, 17-24
Verfasser: Harald Welge

Die Ewigkeit fasziniert uns, weil sie vor uns liegt.
Der Augenblick des Geschehens ist tragisch, weil mit
seiner Erfüllung die Vergangenheit, die Vergänglichkeit
uns erfaßt hat.
Also: Gott sei Dank für jene Worte, die er vor über
2000 Jahren Jesaja in den Mund gelegt hat von einer neuen
Welt, in der die Tyrannen ausgerottet, die Spötter
verschwunden, die Fallensteller entfallen, die Irrenden
zur Einsicht gekommen sind – und gar karge Berg- und Wüstenlandschaften
zum paradiesischen Fruchtgarten verwandelt haben. Soll
niemand behaupten, es gäbe keine Visionen mehr – die
biblischen Schriften sind reich davon – und die Zeit
sieht danach aus, daß sie noch lange als Visionen
Bestand haben werden;
gut gelagert im Traum der Ewigkeit.
Was also soll die Ankündigung des Propheten „eine
kurze Zeit“ nur noch – und die große Wandlung bräche
hervor und realisiere die Prophezeiung? Will der Seher
der Zukunft uns der Vision, der Zukunft berauben und – um
des kurzen Augenblicks der Erfüllung – uns der Vergänglichkeit
überlassen, die eine Welt darstellt, die doch nicht von
Dauer sein kann.
Ein Glück, daß wir TheologenInnen haben, die mich
zurechtrücken in meinem Zeit- und Textverständnis
dieser veränderten Jesajawelt und es einzuordnen wissen
in den geschichtlichen Kontext jener Jahre, in denen
Israel, durch die Macht Assur unterdrückt, nach
Befreiung sich sehnte und aus dem Exil, der Okkupation,
herausgeführt werden sollte.
Doch führen die historischen Erklärungen solch
biblischer Zukunftsworte nicht zum Bankrott unseres
Gottesdienstes, wenn er doch mehr sein will als
Geschichtskunde.
Und ich frage Jesaja, was soll das heißen „nicht
mehr soll Jakob sich nun schämen und sein Gesicht nicht
mehr erbleichen“ angesichts der gekommenen Zeiten
von Auschwitz, mittelalterlichen Judenverfolgungen,
Antisemitismus gestern wie heute, Massenvernichtungen und
Unfriede im Heiligen Lande. Ach, Jesaja, dein enges
Korsett der Zeit, deine klaren Bilder der Zukunft wirken
lächerlich gegenüber den Erfahrungen der Menschen,
deren futuristische Erwartungen gipfeln in ausgefeilten
technokratischen Diktaturen – alles überschauend; was für
Visionen!
Nichts gegen Zukunftsvisionen: Fernsehen und Kino wissen,
daß sie magnetisch die Menschen an sich ziehen.
Zukunftsbilder, ob optimistisch oder pessimistisch,
werden akzeptiert aber eben nur in ihrer Zukünftigkeit;
unglaubwürdig erscheinen sie erst in ihrem Anspruch auf
Gegenwärtigkeit. Darin Jesaja, machst du dich unglaubwürdig
mit deinen Sätzen der „kurzen Zeit“, die nun
schon über zwei Jahrtausende anhält – und uns in Atem hält.
Denn deine Worte, Jesaja, atmen den Hauch der Ewigkeit,
die über unsere Zeiten hinwegzieht, sich immer wieder
neu vor uns setzt – uns vorwegzieht wie einst die Feuers„ule
beim Auszug Israels aus Ägypten. Deine Worte zeigen uns
an, daß wir noch lange nicht am Ziel sind, weder am Ziel
unserer Träume noch unseres Lebens. Wir brauchen eine
Zukunft, die nicht durch uns erfüllbar ist, eine
Vollkommenheit, die menschlicher Zerbrochenheit gegenübersteht.
Das muß nicht Illusion heißen, so es einen Standpunkt,
einen Standort auf der Welt unseres Lebens hat. Ist Jakob
Israel nicht solch ein Standpunkt dieser
Hoffnungszukunftswelt: zwar nicht im politisch
territorialen Sinne heutiger Auseinandersetzung mit Palästina,
sondern allein in der Existenz eines Glaubens von
Menschen – überlebt die Vernichtungen der Zeiten.
Und ist nicht ein Standpunkt, ein Standort auf der Welt
unseres Lebens der Messias, den wir Christus Jesus
nennen, als die Zukunft der Geschichte, die mit ihm für
alle Welt damals in Galiläa, in Jerusalem begonnen hat:
eine Zukunft, die visionär den Einbruch einer anderen
Geschichte auf diese verkrustete Erde bekundet.
Die beiden anderen Lesungen des heutigen Gottesdienstes,
die Heilung des Taubstummen (MK 7) – Taube werden hören
und Stumme werden reden -, der Wandel des Saulus zum
Paulus: das Ende der Verfolger -, sehend werden und zur
wahren Erkenntnis kommend – sind das nicht Aufnahmen der
Vision Jesajas in unsere Wirklichkeit des Lebens – ohne
dabei schon vollendet zu sein?
Die Endgültigkeit bleibt der kommenden Zeit vorbehalten;
um so wichtiger, von der Zeit abzusehen und hinzusehen
auf die Worte, auf den Inhalt, auf die Bilder, auf das
Geschehen, das Jesaja und das der von Nazareth uns
offeriert: ein anderes Bild der Welt; eine andere
Anschauung, eine andere Perspektive: Gegensätze!
Sehend werden: zur Erkenntnis kommen, daß die
vorfindliche, soziologisch beschriebene und
tiefenpsychologisch analysierte und ökonomisch
strukturierte
Welt nur je ein Blickwinkel ist – ohne mein Leben
insgesamt damit begriffen und verstanden und erfahren zu
haben.
Jesajas Worte sind Sprechübungen für eine Lebenswelt,
die nicht aufgeht in der Verrechenbarkeit unserer
„humankapitalisierten“ Sprachpotenz. Jesajas
Worte wollen die Gefangenschaft der Gegenwart und ihrer
Vergänglichkeit aufheben und eine Zukunft öffnen, die
anspricht die Elenden und Ärmsten, anspricht mich in
meinem elenden und ärmsten Dasein: die Trauer im
Menschen, die Leere, die Stumpfheit in der
Sehnsuchtslosigkeit, da alles scheinbar befriedigt werden
kann. Ansprechen, d. h. anspruchsvoll sein gegen das
Einerlei, das nun auch den Sonntag zum Verkauf anbieten möchte,
auf daß der Ruhetag zum Tag wie jede andere werde.
Ansprechen heißt dann widersprechen.
Doch es wird keine Anordnung der Zukunft geben. Mit der
Vision Jesajas betritt die Freiheit der Menschen die Bühne
des Lebens.
Jubeln dürfen, nicht sollen; heiligen können, nicht müssen
– „trotz alledem“: so lauten die Sprechübungen,
die gegenwärtig in die Ewigkeit sich strecken.
Die Worte des Propheten sind nicht aufgebraucht; sie
heilen eine Menschenwelt, die im Unheil sich verfangen
hat; denn sie brechen Erstarrtes und Liebloses auf und
ermutigen, den Standort zu verlassen, der im Wahn der
eigenen Machbarkeit sich aufgegeben hat. Nicht der
Moment, der sogleich verfliegt; nicht die schnelle Erfüllung
des begehrten Wunsches heilt den Menschen und befriedigt
ihn in seiner unvollkommenen Existenz.
Gegen die Atemnot der Welt sprechen die Bilder des langen
Atem jenes Gottes, der da ist, der da war und der da
kommt. Amen.

Harald Welge
Kirchstraße 12
38120 Braunschweig
Tel.: 0531-842208
Fax: 0531-842205

de_DEDeutsch