Jesaja 29,17-24

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Jesaja 29,17-24

Auf dem Scheitelpunkt einer Brücke | 12. Sonntag nach Trinitatis| 27.08.2023 | Jes 29,17-24 |Manfred Mielke |

Liebe Gemeinde,

verweilen Sie auch gerne auf historischen Brücken? Mögen sie es, bei einer Stadtbesichtigung eine Pause einzulegen z.B. auf einer Brücke aus der Römerzeit? Ich bewundere deren Haltbarkeit, denke über die vielen Benutzer nach und habe Respekt für den Fluss, der drunter her fließt. Bei einer Fahrradtour (in Ungarn) überquerte ich eine Flussmündung über einen schmalen Holzsteg; ich machte Pause und schaute hinüber zur zweispurigen Betonbrücke. Was für ein Unterschied! Mit diesen beiden Bildern einer Brücke – von der Haltbarkeit und der Erweiterung – werden wir dem Predigttext entlangschreiten. Der Prophet Jesaja sagt in seinem 29. Kapitel:

„Ist es nicht nur noch eine kurze Zeit, dann wandelt sich der Libanon in einen Baumgarten und das Karmel-Gebirge wird als Wald gelten? Die Tauben werden an jenem Tag die Worte des Buches hören und aus Dunkel und Finsternis heraus werden die Augen der Blinden sehen. Die Gedemütigten freuen sich wieder am HERRN und die Armen unter den Menschen jubeln über den Heiligen Israels. Denn der Unterdrücker ist nicht mehr da, der Spötter ist am Ende, ausgerottet sind alle, die auf Böses bedacht sind, die durch ein Wort Menschen zur Sünde verleiten, die dem, der im Stadttor entscheidet, Fallen stellen und den Gerechten mit haltlosen Gründen wegdrängen. Darum – so spricht der HERR zum Haus Jakob, der HERR, der Abraham losgekauft hat: Nun braucht sich Jakob nicht mehr zu schämen, sein Gesicht muss nicht mehr erbleichen. Denn wenn er seine Kinder, das Werk meiner Hände, in seiner Mitte sieht, werden sie meinen Namen heilig halten. Sie werden den Heiligen Jakobs heilig halten und den Gott Israels werden sie fürchten. Dann werden, die verwirrten Geistes waren, Einsicht erkennen, und die murrten, nehmen Belehrung an.“ (Jesaja 29,17-24, überwiegend Einheitsübersetzung)

Wenn der Prophet von einer kurzen Zeit spricht, dann ist sie wie das Verweilen auf einer hochgewölbten Brücke. Der Anmarsch war anstrengend, schon die nächsten Schritte werden entspannt bergab gehen. Oben wollen wir gerne verschnaufen und Zeit haben für einen Rundumblick – zu beiden Ufern und zum Panorama. – Dabei scheint die Vergangenheit wie ein festes Ufer zu sein, das wir verließen. Ähnlich erinnert der Prophet an die Ereignisse rund um Abraham. Ihm hatte Gott Bündnis und Treue zugesagt, Segen und Nachkommen, Bewahrung und Zumutung. Aber die Nachbarvölker waren zunehmend frecher geworden, was das Volk Gottes, genannt „Haus Jakob“, zunehmend mutlos machte. Dagegen zitiert Jesaja: „Darum spricht Gott, der Abraham losgekauft hat, nun zu uns: Jakob braucht sich nicht mehr zu schämen, sein Gesicht muss nicht mehr erbleichen.“ – Wenn aus unseren Gesichtern die Scham weicht und die gesunde Farbe zurückkehrt, werden wir weitergehen mit neuem Mut. Auf Gott bezogen, wächst unser Zutrauen ja im Zugehen auf seine Zusagen. So, wie er Abraham versprach: „Geh in das Land, dass ich dir zeigen werde. Ich werde dir über den Scheitelpunkt hinweghelfen!“

Das Panorama zeigt das Land Kanaan, den Libanon und das Karmel-Gebirge. Jesaja prognostiziert dort zukünftig wieder Getreideanbau und Holzgewinnung: „Sehr bald wandelt sich der Libanon in einen Garten und das Karmel-Gebirge in ein Waldgebiet!“ Mit bloßem Auge ist erkennbar, dass die Talgründe des Libanon ganzjährig fruchtbar sind, aber auf dem Karmelgebirge in jedem Sommer die Vegetation abstirbt. Beides ist als Bild dafür gemeint, dass nach Gottes Willen seine Gebote sowohl durchgängig als auch bei wiederkehrenden Krisen angewandt werden. Jesaja bemängelt jedoch, dass die Prägekraft des Glaubens so verspottet wird, als wenn ein Tonkrug über seinen Töpfer sagt: „Mich hat er nicht gemacht!“ (29,16) Weil aber Gott den großen Umschwung bereits vorbereitet, fragt der Prophet sein Israelvolk: „Ist es bis dahin nicht nur noch eine kleine Weile?“ Gott will mit der großen Umwälzung beginnen und fragt nach unserer inneren Zustimmung, so, wie wir sie im Vater-Unser aussprechen: „Ja, dein Wille geschehe, dein Reich komme, es komme bald!“

Gott will alsbald handeln. Um seiner Zeitverkürzung entgegenzustreben, brauchen wir Bodenhaftung und Tragkraft. Dafür sind bei einer Brücke die Pfeiler zuständig. Oft sind es mehrere Säulen, die im Grund verankert sind und die das gesamte Gewicht tragen. So hilft Israels Bundesgott bevorzugt den Überlasteten, er wird sie alsbald unterfangen und ihre Füße auf weiten Raum stellen. Jesaja kündigt ihnen Gottes Aktionen an, die zugleich auch unsre Hoffnungen aufgreifen: „Die Tauben werden hören und aus Dunkel und Finsternis heraus werden die Augen der Blinden sehen. Die Gedemütigten freuen sich wieder an Gott und die Ärmsten jubeln über seine Hilfe.“

Ein anderer junger Prophet, Jesus aus Nazareth, liest dann in seiner Synagoge Ähnliches vor: „Der Geist des Herrn treibt mich an, zu predigen den Gefangenen und Gefolterten, dass sie frei sein sollen, und den Blinden, dass sie sehen sollen!“ Dann aber verzichtet er auf eine Wartezeit und erklärt: „Heute wird das erfüllt vor euren Ohren!“ Jesus sieht bereits, dass Neues aufkeimt und mit Macht wachsen wird bis hin zur Ernte. Er ist der Brückenbauer zwischen Altem und Neuem Testament, er ist der Wegbereiter zu Gottes neuer Welt, er verdichtet die Zeit und verbreitert die Zugänge. Dazu erwartet er eine innere Zustimmung. Als sie ihm aber den Weg verstellen, geht er durch ihren Hass hindurch wie auf einem sicheren Steg.

„Heute ist deinem Haus Heil wiederfahren!“ sagt Jesus zu Zachäus, als der einen Lebenswandel vollzogen hat. Ihn nimmt er als Einzelperson wahr, spricht ihm Heil zu, tagesaktuell und mit Auswirkungen für seinen Hausstand und seinen Job. Doch draußen vor seiner Tür rotten sich die Wutbürger zusammen. Gegen Gottes Heilshandeln gab und gibt es Gegenkräfte. Im Bild einer Brücke sind es die Fluten, die eine Gefahr darstellen. Sie können jede Brücke unterspülen oder überfluten. Jesaja sieht voraus, dass Gott diesen Querkräften schon die Kraft genommen haben wird: „Denn der Unterdrücker ist nicht mehr da, der Spötter ist am Ende, ausgerottet sind alle, die auf Böses bedacht sind, die durch ein Wort Menschen zur Sünde verleiten, die dem, der im Stadttor entscheidet, Fallen stellen und den Gerechten mit haltlosen Gründen wegdrängen.“

Wir spüren: Jesaja lebt in einer Zeit großer Ungerechtigkeiten und aufziehender Katastrophen. Es ist nur noch eine Frage der Zeit, dann werden die Babylonier Stadt und Land verwüsten und die Überlebenden  verschleppen. Doch selbst dann gilt Gottes Zusage, die Zeit zu verkürzen, bis er seinem geschundenen Volk beispringen wird. Dabei dient seine Hilfe bevorzugt den Ausgegrenzten, den ins Elend Gestoßenen und den ins Prekariat Abgedrängten. Dagegen wird er zum Abbruch zwingen die Tyrannen, die im Parlament sitzenden Spötter, die Strategen des Unheils und die Denunzianten mutiger Whistleblower. Sie haben alle Brücken zu Gott abgerissen. Er allein wird diejenigen ausrotten, die sich einig wurden in der Mißachtung seines Gottes-Wohl, seiner Gottes-Ethik, seines Gottes-Shalom.

Dagegen stellt Gott seine Propheten auf, auf dem Scheitelpunkt der Geschichte. Dazu gestaltet er Saat und Ernte, Finsternis und Licht, politische Strukturen und Einzelschicksale, Herzensmut und Gesichtsfarbe. Es geht ihm um den Austausch der inneren Beweggründe, entsprechend der ersten beiden Mose-Gebote: „Ich bin euer Erlöser, ihr braucht keine anderen Ziele und Normen. Haltet meinen Namen und meinen Anspruch heilig, so wird euch alles andere zufallen!“ – „Und die, die verwirrten Geistes waren, werden einsichtig und resilient. Und die, die murrten, nehmen Belehrung und Zuversicht an!“

Liebe Gemeinde,

diese Rede des Jesaja tut uns gut. Er zwingt uns nicht, die Umwälzungen selber durchzuführen, er spricht in unsre gestressten Seelen hinein uns eine große Gelassenheit zu. Aber die Realität spricht dagegen und viele Parolen schreien dazwischen. Macht das lange Ausbleiben der heilsamen Umwälzungen uns nicht müde und mürbe? Haben die Kritiker nicht recht, die früher spotteten: „Wo bleibt euer Gott?“ Die dann schimpften: „Religion ist Opium für Versager!“ Und die nun den großen Austausch des jüdisch-christlichen Glaubens herbeischreien. – Aber wenn die Verhältnisse gegen den Gotteswillen stehen, dann haben sich doch eher die Verhältnisse zu ändern. Und mit ihnen auch wir. Dann gilt für alle Beteiligten Gottes Eingreifen, zur Zeit und zur Unzeit.

Jesaja legt uns mehrere Werkzeuge in die Hand, um heutigen Verschwörungstheorien zu widerstehen. So sieht Gott die Unterdrückung nicht als mainstream an und die Täter nicht als geheime Weltregierung. Er trennt akkurat. Die Opfer unterstützt er und die Täter brandmarkt er. Der Gott Israels betreibt angesichts der Multikrisen auch nicht den großen „reset“, also das apokalyptische Zerstören, um weltfremde Ideale durchzusetzen. Er bleibt seinem Abrahams-Bund treu und baut seinen Segen weiter aus, gegen zyklische Krisen und als stetige Grundlage. Er behält die stabilen Holzstege bei, und schafft für uns nebenbei neue Zugänge. Er fördert als Schöpfer zudem die Entwicklung der Natur, damit alle satt zu essen haben und genug Holz für ein neues Dach. Unser Appetit wächst auf mehr gerechtes Brot und auf das Salz des Friedens – dagegen schwindet unser Appetit auf verächtlich-machende Mythen.

Weil wir an Gottes Visionen festhalten, werden wir unsere Zustimmung auch in Taten zeigen. Wir werden die Schönfärberei der Populisten entlarven und uns durch das Alte Testament die Augen öffnen lassen. Dann werden wir einfacher von abendländischen Vorurteilen lösen, die einem negativen, geschlossenen Weltbild entsprungen sind. Dass Gott sein Heil noch immer in der Schwebe hält, macht uns unsicher und mürrisch, aber nicht aggressiv. Ein wenig hilft uns die Verheißung: „Wer aber beharret bis ans Ende, der wird selig“ – selig als Individuum, und mit uns unser Sozialraum auch und unsere Communtiy auch. „Wer diesen Gott zum Beistand hat, findet am besten Rat – und Tat!“

So stehen wir als Christen weiterhin auf der Brücke zwischen dem „Schon-Jetzt“ und dem „Noch-nicht“ des Reiches Gottes. Wir machen eine Verschnaufpause auf dem Scheitelpunkt und nehmen uns die Zeit für einen Rundumblick – zu beiden Ufern und zum Panorama. Dazu helfen uns die Vergewisserungen des Jesaja über Gottes Zuständigkeit und für unsre Beharrlichkeit. In der Nachfolge Jesu bekommen wir neue Widerstandskräfte für unsere Seele, vermehrte Durchblutung gegen Verzagtheit und Blässe und pfiffige Ideen, um die Zeit auszukaufen und die verbleibende Zeit zu nutzen. Die Frage nach der Ewigkeit und der kurzen Weile davor können wir gut beantworten wir mit einem Gebet des Jochen Klepper: „Der du allein der Ewge heißt und Anfang, Ziel und Mitte weißt im Fluge unsrer Zeiten: bleib du uns gnädig zugewandt und führe uns an deiner Hand, damit wir sicher schreiten.“ Amen

Lieder:

EG 064 Der Du die Zeit in Händen hast

EG 007 O Heiland, reiß die Himmel auf

EG 669 Herr, gib mir Mut zum Brückenbauen

EG 560 (HN) Es kommt die Zeit, in der die Träume sich erfüllen

EG 289 Nun lob, mein Seel, den Herren

Christen sind das Salz der Erde (P. Spangenberg, Mel EG 325)

Als Chanson im Kirchen-Cafe:

Es führt über den Main eine Brücke aus Stein

(Totentanz aus dem Mittelalter; Melodie: Felicitas Cohnheim/Kukuck)

Als Zwischenruf/Schuldbekenntnis/Klagelied:

  1. Wir Reichen, sehr von Dir verwöhnt, Herr, die dein Wort seit je besaßen –

hast du uns schließlich, taub und blind, mit unserm Reichtum fallen lassen?

  1. Noch reden wir von dir, und viel geschieht, dein Wort ans Licht zu heben.

Wie, wenn du unser schönes Spiel nun störst, weil wir nicht danach leben?

3.Wie, wenn du plötzlich sagst: Zeigt her! Was tatet ihr mit meinen Gaben?

Der Glaube stolz, die Liebe leer, das Reich im Herzen tief vergraben.

4.Der reiche Jüngling sah dein Joch und ist betrübt davongegangen.

Er ging ins Leere. Dräng uns doch, auf deinem Weg neu anzufangen.

(Holländischer Text: Ad den Besten 1965; deutsch: Jürgen Henkys; Melodie: Tera de Marez Oyens; Lied Nr 89 in: „Wo wir dich loben, wachsen neue Lieder“ plus)

Manfred Mielke, Pfarrer der EKiR im Ruhestand, geboren 1953, verheiratet, 2 Söhne. Sozialisation im Ruhrgebiet und in Freikirchen. Studium in Wuppertal und Bonn (auch Soziologie). Mitarbeit beim Christival und bei Kirchentagen. Partnerschaftsprojekte in Ungarn (1988- 2011) und Ruanda (2001-2019). Musiker und Arrangeur.

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