Jesaja 43, 1-7

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Jesaja 43, 1-7

Jesaja 43, 1-7:
So spricht der Herr, der dich geschaffen hat. Jakob, und dich gemacht
hat, Israel: Fürchte dich nicht, denn ich habe dich erlöst;
ich habe dich bei deinem Namen gerufen; du bist mein! Wenn du durch
Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die Ströme nicht
ersäufen sollen; und wenn du ins Feuer gehst, sollst du nicht brennen,
und die Flamme soll dich nicht versengen. Denn ich bin der HERR, dein
Gott, der Heilige Israels, dein Heiland. Ich habe Ägypten für
dich als Lösegeld gegeben, Kusch und Seba an deiner Statt, weil
du ich meinen Augen so wert geachtet und auch herrlich bist und weil
ich dich lieb habe. Ich gebe Menschen an deiner Statt und Völker
für dein Leben. So fürchte dich nun nicht, denn ich bin bei
dir. Ich will vom Osten deine Kinder bringen und dich vom Westen her
sammeln, ich will sagen zum Norden: Gib her! und zum Süden: Halte
nicht zurück! Bring her meine Söhne von ferne und meine Töchter
vom Ende der Erde, alle, die mit meinem Namen genannt sind, die ich
zu meiner Ehre geschaffen und zubereitet und gemacht habe.

Anmerkung zur Predigt

Liebe Gemeinde,

„Heute lernen wir die Sprache, in der Gott das Leben geschaffen
hat“. Mit diesen Worten trat vor einem Jahr der damalige Präsident
der Vereinigten Staaten, Bill Clinton, vor die Weltpresse, um das amerikanische
Forschungsprojekt zur Entschlüsselung des menschlichen Erbgutes
vorzustellen. Inzwischen redet alle Welt von der Gentechnologie. Die
einen preisen sie im Hochgefühl des Triumphes, die letzten Geheimnisse
der Schöpfung zu enträtseln und kommenden Generationen ein
Leben in Gesundheit und Selbstbestimmung zu ermöglichen. Die anderen
warnen vor einem Missbrauch der Forschungsergebnisse und haben Angst
vor der Möglichkeit, dass künftig Leben gezüchtet, manipuliert
und verwertet werden kann.

Eigentlich sollte sich niemand dem Gedanken verschließen, die
Gentechnologie zum rechtzeitigen Erkennen und Therapieren von Erbkrankheiten
zu nutzen. Leiden und Leid können gemildert, Gesundheit kann gestärkt,
menschliches Leben kann lebenswerter werden.

Aber müssen nicht auch die Kritiker gehört werden? Darf man
wirklich die unverwechselbare Identität eines Menschen mit Hilfe
der Gentechnologie bestimmen? Immerhin zeigte schon auf der EXPO im
Themenpark „Der Mensch“ ein Film, wie Eltern die Eigenschaften
ihres künftigen Kindes mit Hilfe der Gentechnik selbst festlegen.
Der Regisseur Stephen Spielberg – bekannt durch Filme wie „Jurassic
Park“ oder „Schindlers Liste“ – hat mit einem neuen Film
das Schicksal eines solchen Designer-Kindes beleuchtet. In Amerika läuft
er schon unter dem Titel A.I. – Artificial Intelligence – Künstliche
Intelligenz.

Es ist die Geschichte eines Wunschkindes mit ganz bestimmten, im Voraus
festgelegten Eigenschaften. Dieses Kind soll nach dem Willen seiner
Eltern sie einmal über den möglichen Verlust ihres ersten
Kindes hinwegtrösten, das ernsthaft erkrankt ist. Das künstliche
gezeugte Wunschkind wächst heran und bezaubert Eltern und Umwelt
mit den gewünschten und gezüchteten Eigenschaften und mit
seiner gesteuerten Intelligenz. Aber das Kind, das es ersetzen soll,
bleibt wunderbarerweise am Leben und beansprucht weiterhin den ersten
Platz in der Familie. Es verdrängt auf Dauer in der Gunst der Eltern
das ja schließlich nur als „Ersatz“ künstlich erzeugte
Geschwisterkind. Dieses aber fühlt sich ausgegrenzt und diskriminiert
– ein Menschenkind, das an sich selbst verzweifelt. „Wer bin ich“,
fragt es. „Ich bin doch Ich“, klagt es, „ich bin doch
einmalig, bin doch unverwechselbar“.

Die Bestimmung der Eigenschaften eines kleinen Menschenkindes durch
Eingriffe in das Erbgut ist – technisch gesehen – keineswegs mehr unmöglich.
Wollen wir auf diese Weise die Sprache lernen, in der Gott das Leben
geschaffen hat? Bestimmen w i r jetzt die Identität eines Menschen?
Entscheiden w i r, was ihn zu diesem einen unverwechselbaren, einzigartigen
Menschen macht? Bleibt er dann wirklich noch einzigartig oder ist er
austauschbar?

Unsere Gesellschaft tut ja schon alles, um die Einzigartigkeit eines
Menschen zu nivellieren und seine Unverwechselbarkeit nur noch durch
Zahlen auf einer Chip-Karte auszudrücken.

„Ihre Patientennummer, bitte“, heißt es am Empfangstresen
vieler Arztpraxen. „Geben Sie Ihre Pin ein“, lesen wir, wenn
wir unser Handy einschalten. Und am Geldautomaten wird erst einmal unsere
Geheimnummer abgefragt, ehe wir unser eigenes Geld abheben können.
Unser Passbild allein tut es auch nicht mehr. Die eingestanzte Nummer
erst verhilft uns zu unserer wahren Identität auf Ämtern und
Behörden.

Anonym in der Masse, nur eine Nummer in den Lebensvollzügen der
Gesellschaft! Dann ist man doch auch austauschbar. In der Wirtschaft,
in der industriellen Arbeitswelt ist das so. Eine Managerin gibt offen
zu, „die neuen Produktionsweisen kalkulieren mit der austauschbaren
Verwertbarkeit des Menschen.“

Anonymität, Austauschbarkeit – das kann Menschen krank machen,
die sich wie das Wunschkind in Spielbergs Film fragen müssen: Wer
bin ich eigentlich für meine Umwelt, bin ich überhaupt noch
eine Person, die geachtet und geliebt wird oder bin ich überflüssig,
bin ich für unsere Gesellschaft letzen Endes nur ein Kostenfaktor,
ein Verwertungsobjekt, eine Nummer? Selbstzweifel und Minderwertigkeitsgefühle
aber – das wissen wir doch – sind eine Quelle von Konflikten und Gewalt.

Da hilft dann auch eine Verbesserung des Erbgutes nicht entscheidend,
wenn wir letzten Endes doch nur dazu bestimmt sind, als Nummern zu existieren.
Eine Gesellschaft von anonymen Einzelwesen, die sich nur noch mit einer
genormten Plastikkarte zu Wort melden oder als Nummern aufgerufen werden,
hat doch keine Zukunft. In einer solchen Gesellschaft werden Einsatz
für andere und Engagement für das Gemeinwohl immer mehr verkümmern.
Düstere Zukunftsaussichten! Sie machen uns Angst.

Wer bin ich in Wahrheit und wer bestimmt meine Identität als ein
unverwechselbarer, besonderer Mensch – Biowissenschaftler, Gentechniker
oder anonyme Verwaltungsapparate, die mich zur Nummer degradieren? Wer
bestimmt meine Identität, mein Menschsein?

Die Frage ist nicht neu. Der Prophet, den wir Deuterojesaja, den zweiten
Jesaja, nennen, hat im Exil in Babylon Menschen vor sich, die seit zwei
Generationen fern ihrer Heimat, abgeschnitten von ihren besonderen kulturellen
Wurzeln und ihrer Geschichte leben müssen. Für ihre Umwelt
sind sie eine Masse anonymer Fremder, Gefangene. Und Gefangene sind
eben nur Nummern. Sie leiden darunter. Sie meinen, austauschbar zu sein,
vergessen selbst von ihrem Gott.

Aber wie sie damals sehnen wir uns doch alle danach, nicht vergessen
zu werden, nicht nur als anonyme, austauschbare Nummern zu leben. Jemand
sein, eine unverwechselbare, einzigartige Person – das ist doch ein
menschliches Urbedürfnis. Wir alle spüren es – die damals
und wir heute. Unser Leben muss doch so etwas wie einen „Mehrwert“
haben, mehr als nur die biologischen Abläufe zwischen Geburt und
Tod, mehr als nur die austauschbare Verwertbarkeit, die namenlose Existenz
als Nummer in einer anonymen Gesellschaft.

Von diesem Mehrwert spricht der Prophet, wenn er die Zusage Gottes
weitergibt: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst,
ich habe dich bei deinem Namen gerufen, du bist mein.“ Diese Zusage
ist keine Beschwichtigung nach der Melodie: Es ist doch alles halb so
schlimm, es wird schon werden. Sie ist auch kein Versprechen eines Lebens
ohne Gefahren, ohne bedrängende Probleme. Versprochen wird nicht
die Bewahrung v o r Gefahren und Problemen, sondern i n all den Situationen,
die uns Angst machen. „Fürchte dich nicht“, sagt Gott,
„wenn du durch Wasser gehst, will ich bei dir sein, dass dich die
Ströme nicht ersäufen sollen, und wenn du ins Feuer gehst,
sollst du nicht brennen, und die Flamme soll dich nicht versengen“.
Das ist nicht wörtlich zu verstehen. Die Elemente Feuer und Wasser
sind Symbole für die elementaren Gefährdungen des Lebens,
für alles, was uns zu schaffen macht, uns bedrängt und uns
entmutigt. „Lass dich nicht entmutigen, fürchte dich nicht“,
sagt Gott. „Ich will bei dir sein“.

Der Prophet erinnert daran, dass Gott, der seine Nähe und seine
Begleitung auf dem Weg in die Zukunft verspricht, uns nicht unbekannt
ist. „So spricht der Herr, der dich geschaffen hat“, sagt
er. Er redet vom Schöpfer des Lebens, von Gott, der alles Leben
schenkt – immer noch, auch wenn manche meinen, ausschließlich
der Gentechnologie und menschlichem Forscherdrang neues Leben zu verdanken.

Wer die Geburt eines kleinen Menschenkindes noch als ein wirkliches
Wunder bestaunen kann, der ist doch ansprechbar für diese Erinnerung
des Propheten, dass unser Leben ein Werk des Schöpfers, ein Geschenk
Gottes ist. Und dann ist er auch ansprechbar für seine Zusage:
„Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst, ich habe dich
bei deinem Namen gerufen, du bist mein“.

Erfahrbar wird diese Zusage schon in der Taufe des neu geborenen kleinen
Menschenkindes. Da wird sein Name genannt, seinem Leben im Auftrag Gottes
eine nur ihm eigene Bedeutung und ein einzigartiger Wert zugesprochen.
Ehe dieser Mensch sich selbst und anderen beweisen kann, wer er ist,
ehe er irgendeine Leistung erbringen, einen Erfolg vorweisen kann, sagt
Gott ihm: „Ich habe dich aus der Anonymität herausgerufen,
bei deinem Namen genannt. Du gehörst mir.“ Und das gilt auch,
wenn die Gesellschaft ihn nur als eine Nummer wahrnehmen will – eine
unter unzähligen anderen. „Du bist nicht austauschbar“,
sagt Gott. „Du bist unersetzbar, weil ich dich liebe. In meinen
Augen hat dein Leben einen einzigartigen Wert und eine unzerstörbare
Würde. Deshalb fürchte dich nicht vor der Zukunft, auch nicht
vor den Gefahren und Problemen, die auf dich zukommen. Ich gehe mit
auf deinem Weg, in deiner Nähe“.

Gottes Zusage gilt weiter. Gerade wenn wir meinen, in anonymen Strukturen
gefangen zu sein, abhängig und unfrei, erinnert uns Gott: „Ich
habe dich erlöst, gewissermaßen aus solchen Zwängen
freigekauft, wie die Mächtigen früher einen Sklaven freigekauft
haben. Diese Freiheit kannst du nutzen. Die Gaben und Fähigkeiten,
die ich dir mit deinem Leben mitgegeben haben, kannst du sinnvoll einsetzen
für dich, für andere und für die Gemeinschaft, in der
du lebst. Lass dich nicht entmutigen, du bist nicht bedeutungslos. Wo
du dich für andere einsetzt, wo du dich für die Gemeinschaft
engagierst, für Mitmenschlichkeit und für das Leben, da bist
du jemand und da hat dein Leben einen Sinn. Scheue dich nicht, diesen
Weg der Freiheit, den ich dir eröffnet habe, nun auch entschlossen
zu gehen. Ich gehe mit, in deiner Nähe“.

Das ist eine Sprache, die jeder versteht, die aber viele wieder vergessen
haben, die Sprache Gottes, die unsere Seele anspricht und die unser
Leben lebenswert macht. Menschen arbeiten daran, die Sprache zu lernen,
in der – wie Präsident Clinton es ausgedrückt hat – Gott das
Leben geschaffen hat, die Sprache, durch die alle körperlichen
Merkmale und Eigenschaften eines Menschenlebens angelegt werden. Vielleicht
ist es für unsere Zukunft und für die Zukunft unserer Gesellschaft
noch wichtiger, sich an die andere Sprache Gottes zu erinnern, die durch
den Propheten Deuterojesaja zum ersten Mal für entmutigte, von
Anonymität bedrängte und von Angst gelähmte Menschen
laut geworden ist: „Fürchte dich nicht, ich habe dich erlöst,
ich habe dich bei deinem Namen gerufen. Du bist mein“.

Diese Sprache Gottes bezieht alle Menschen ein. Sie spricht jeden Einzelnen
an. Sie richtet sich dann aber auch an die Gemeinschaft aller, die Gottes
Zusage hören. „Alle, die mit meinem Namen genannt sind, die
ich zu meiner Ehre geschaffen habe“, sagt er, „will ich in
einer Gemeinschaft zusammenführen, zu der Menschen aus Ost und
West ebenso gehören wie die vom Norden und vom Süden der Welt“.
Wir reden von der Gemeinschaft der Kinder Gottes, die seine Sprache
über alle Grenzen hinweg öffentlich und vernehmbar nachsprechen
soll – Gottes Sprache, die die Menschen damals wie heute das Hoffen
lehrt.

Amen

Anmerkung zur Predigt:

Nach der liturgischen Ordnung unserer Kirche stehen an diesem Sonntag
Taufe und Tauferinnerung im Vordergrund. Der erste Vers des Predigttextes
– gleichzeitig der Wochenspruch – ist schon zu Beginn der Kirchengeschichte
auf die Taufe und die Getauften bezogen worden. Gottes Zusage an sein
Volk im Exil in Babylon gilt weiter – seit Jesus Christus ohne Einschränkung
für alle, „die mit meinem (Gottes) Namen genannt sind“
(Vers 7). Sie gilt dem Einzelnen ebenso wie der Gemeinschaft der Kinder
Gottes.

Die Predigt konzentriert sich auf diese Zusage und versucht, sie im
Umfeld angstmachender Erfahrungen und problematischer Tendenzen in unserer
Gesellschaft als „Erlösung“ (Vers 11) und ermutigende
Hoffnung zu konkretisieren.

Walter Meyer-Roscher
Landessuperintendent i.R.
Adelogstr. 1
31141 Hildesheim

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