Jesaja 54,7-10

Jesaja 54,7-10

Gottes Mutterschoss | 19. März 2023 | Lätare | Jesaja 54,7-10 | Thomas Muggli-Stokholm |

Nick hat seit Jahren kaum mehr einen Bezug zur Familie. Nach allem, was vorgefallen ist, bleibt er das schwarze Schaf. Niemand sucht seine Nähe, auch heute nicht, beim Abschied von seiner Mutter. Es gibt keine Abdankung, nur eine Beisetzung im engsten Familienkreis. Seine Geschwister mit ihren Familien stehen im Kreis um die Urne, die auf einem Tischchen steht. Nick steht abseits, wie gewohnt.

Dabei sah sein Leben einmal ganz anders aus: Er hatte einen super Job als Informatiker, eine attraktive Ehefrau, zwei wunderbare Kinder, ein tolles Haus mit Umschwung und Aussicht. Dann starb sein Vater viel zu früh, ganz plötzlich und unerwartet. Nick hing sehr an ihm. Er konnte nicht umgehen mit diesem Verlust und begann zu trinken. Gelegenheit hatte er genug dazu: Geschäftsessen, Apéros, Firmenfeste, Familienfeiern. Was zuerst willkommene Ablenkung und Entspannung war, wurde zur Sucht. Bald ergaben sich Probleme beim Job, Spannungen in der Ehe, eine Abwärtsspirale die in der Scheidung und dem Verlust der Stelle endete.

Weil Nick gewalttätig wurde, durfte er seine Kinder am Ende nicht einmal mehr besuchen. Seit Jahren lebt er nun von der Sozialhilfe und haust in einer schäbigen Wohnung an einer Durchgangsstrasse.

Mittlerweile ist die Pfarrerin eingetroffen und der Trauerzug bewegt sich zum Grab. Hier redet die Pfarrerin von Trauer, Trost, Liebe und österlicher Hoffnung, das Übliche halt. Nick ist das nicht fremd. Er wuchs in einem kirchlichen Elternhaus auf und engagierte sich als Freiwilliger. Doch in allem, was das Schicksal ihm in den vergangenen Jahren zumutete, verlor er seinen Glauben. Klar: Nick ist sich bewusst, dass er nicht unschuldig ist an seiner Lage. Aber wer ist schon ohne Schuld? Und wo blieb der rettende, liebende und erlösende Gott, als ihm Schritt für Schritt alles genommen wurde?

Nick hängt so seinen bitteren Gedanken und Gefühlen nach, dass er beinahe die Beisetzung verpasst. Schon ist der Gärtner daran, die Urne ins Grab zu senken. Erde zu Erde, Staub zu Staub. Nach einem Moment des Schweigens sagt die Pfarrerin: Bei diesem Abschied finden wir Trost und Kraft in den Worten des Propheten Jesaja: Die Berge werden weichen und die Hügel wanken, meine Gnade aber wird nicht von dir weichen und mein Friedensbund nicht wanken, spricht, der sich deiner erbarmt, der EWIGE (Jes 54,10).

Nick wird unvermittelt hellhörig. Diese Worte berühren ihn ganz unverhofft. Vielleicht liegt das an seiner Beziehung zu den Bergen. Sie ist widersprüchlich. Früher war er ein begeisterter Bergsteiger und Kletterer. Die Berge waren für ihn der Inbegriff von Schönheit, Grösse und Erhabenheit. Nun ist das vorbei. Nick wäre körperlich gar nicht mehr imstande für solche Touren. Berge sind für ihn unterdessen eher das Bild von Bedrohung und Bedrückung: Wie Berge türmen sich seine Probleme um ihn auf, seine Bitterkeit, sein Schmerz über das Verlorene.

Berge werden weichen … die Logik und der Verstand sagen Nick, dass diese Worte nichts ändern an seiner Situation. Trauernden und Alten vermitteln sie vielleicht Trost für ein besseres Jenseits. Um die Berge, welche ihn umgeben, weichen zu lassen, bräuchte es drastischere Mittel als schöne Bibelworte. Und doch wecken sie eine tiefe Sehnsucht in Nick: Gnade, Vergebung erfahren, jemandem begegnen, der Erbarmen hat mit ihm, Frieden finden. Ist es nicht genau das, was ihm so schmerzhaft fehlt?

Mittlerweile hat die Pfarrerin den Segen gesprochen. Für Nick ist es Zeit zu gehen. Am Leidmahl ist er unerwünscht.  Zurück in seiner trostlosen Wohnung muss er einmal mehr ankämpfen gegen den Drang, die Not und Frustration im Alkohol zu ersäufen. Dass er widersteht, ist für ihn ein kleiner Lichtblick.

Nick kann sich nicht erklären, warum er am Sonntag nach der Beisetzung den Gottesdienst besucht, in welchem seine Mutter abgekündigt wird. Und dann wird erst noch das Abendmahl gefeiert. Mit diesem Ritus konnte er noch nie etwas anfangen. Doch nun sitzt er da, ganz zuhinterst, damit er sich gegebenenfalls aus dem Staub machen kann.

Zu Beginn ist Nick gedanklich nicht dabei. Dann aber liest die Pfarrerin den Predigttext aus dem Jesajabuch:

Eine kleine Weile habe ich dich verlassen, mit grossem Erbarmen aber werde ich dich sammeln. Im Auffluten der Wut habe ich mein Angesicht eine kleine Weile vor dir verborgen, mit immerwährender Güte aber habe ich mich deiner erbarmt, spricht dein Erlöser, der EWIGE. Denn dies ist für mich wie die Wasser Noahs: Wie ich geschworen habe, dass die Wasser Noahs nicht mehr über die Erde kommen, so habe ich geschworen, dir nicht zu zürnen und dich nicht zu schelten. Denn die Berge werden weichen und die Hügel wanken, meine Gnade aber wird nicht von dir weichen und mein Friedensbund wird nicht wanken, spricht, der sich deiner erbarmt, der EWIGE. (Jes 54,7-10)

Nun ist Nick hellwach. Was wird die Pfarrerin zu den Worten sagen, die seine Sehnsucht weckten?

Sie erklärt, dieser Text sei im Exil entstanden, in einer Krisenzeit, als Israel von Babylon erobert wurde. Die Menschen wohnen in der Fremde und trauern um ihre Angehörigen, die ihnen der Krieg nahm, um den Tempel, die Stadt Jerusalem und ihre schönen Häuser, die allesamt zerstört und verloren sind.

Die Verbannten sind traurig und verzweifelt. Doch sie resignieren nicht und verharren nicht in der Opferrolle. Sie erkennen, dass sie mitverantwortlich sind für die Katastrophe. Als es dem Land gut ging, verfielen die Israeliten dem Götzendienst. Sie vergassen Gott und seine Weisungen und ordneten Recht und Gerechtigkeit ihrer Habgier unter. Dass Gott Israel untergehen liess, ist die Strafe dafür. Ein solches Eingeständnis der Schuld ist ein wichtiger Schritt aus der Opferrolle.

Nick überlegt: Wie steht es mit mir? Eigentlich bin ich in genau dieser Opferrolle gefangen. Ich bemitleide mich selbst. Ich klage darüber, wie alle gegen mich sind, sogar Gott selbst. So entziehe ich mich der Verantwortung. Schliesslich war ich es, der das Leben nicht mehr im Griff hatte. Doch trifft es zu, dass alles Übel eine Strafe Gottes ist? Der frühe Tod meines Vaters – verursacht durch das Auffluten der Wut Gottes? Das kann doch nicht sein!

Unterdessen stellt die Pfarrerin ähnliche Fragen. Sie nimmt Anstoss an den Wassern Noahs, an der Sintflut, an welche der Jesajatext erinnert. Eigentlich eine brutale Geschichte: Gott ist zornig über die Bosheit der Menschen. Darum will er sie und alle Landtiere in der grossen Flut vernichten. Nur Noah, seine Familie und je ein Paar aller Tierarten finden Zuflucht in der Arche und überleben. Doch ist das gerecht? Wie viele Unschuldige ertrinken jämmerlich mit den Bösen zusammen!

Eigentlich geht es bis heute so: Es leiden nicht die Menschen, welche für Unrecht, Krieg und Gewalt verantwortlich sind, sondern die Wehrlosen und Schwachen. Das zeigt sich bei den Kriegen und Krisen in der Ukraine, im Iran, in Äthiopien und vielen anderen Ländern.

Nun ist Nick gespannt, wie die Pfarrerin das mit dem guten und gerechten Gott zusammenbringt. Sie erklärt, dass wir uns von gängigen Gottesbildern befreien müssen. Gott ist kein Aufpasser und Oberpolizist, der sofort eingreift, straft und Ordnung schafft, wenn Menschen sich nicht an die Regeln halten. Dem trägt die Bibel Rechnung. Ein Beispiel ist die Geschichte von Hiob, dem Paradebeispiel eines guten und gerechten Menschen, der völlig unschuldig alles verliert, was er hat und unfassbares Leid durchstehen muss. Der Text von Jesaja ist in diesem Licht zu lesen: Nicht jedes Unglück, nicht jede Verlorenheit und Verlassenheit ist die Strafe für menschliches Fehlverhalten.

Dazu kommt, dass Jesaja die Zeit der Not begrenzt. Zweimal betont er, dass sie nur «eine kleine Weile» währt. Mehrmals hebt er dementgegen die immerwährende Güte, die Gnade und das Erbarmen Gottes hervor.

Nun gerät die Pfarrerin ins Feuer. Sie erklärt, dass der hebräische Begriff für Erbarmen wörtlich übersetzt Mutterschoss bedeutet. Dem Auffluten der Wut, dem Zorn und der Schelte stellt unser Text die weibliche Seite Gottes entgegen: Wie eine gute Mutter nimmt er die Seinen auf seinen Schoss, behütet sie, tröstet sie und richtet sie auf.

Nick wird es warm ums Herz. Es ist ihm, wie wenn in ihm Berge zu weichen begännen. Was sich um ihn auftürmt, versteinerte Gefühle und Urteile, Abwehr und Misstrauen, Selbstmitleid und Selbstabwertung, beginnt zu wanken. Wenn es stimmt, was Jesaja verheisst: Könnte Nick auf Gottes mütterlichem Schoss Trost finden, Hoffnung und Mut, sein Leben neu an die Hand zu nehmen?

Während des Orgelspiels nach der Predigt arbeitet es weiter in ihm. Angenommen, er fasst sich ein Herz und ergreift die Hand, welche Gott ihm entgegensteckt. Kann sich dann sein Alltag verändern?  Wann hat er es eigentlich aufgegeben, sich zu bewerben? Wann hat er die letzten seiner Freunde so versetzt, dass sie aufhörten, nach ihm zu fragen?

Nun steht die Pfarrerin beim Abendmahlstisch mit dem Brot und den Kelchen mit dem Traubensaft. Sie lädt alle zur Feier ein. Nick überlegt, ob jetzt der Moment gekommen ist, sich davonzustehlen.

Doch da hört er, wie die Pfarrerin davon spricht, dass Jesus den Weg des Erbarmens zu Ende geht. Er, der Sohn Gottes, hält die Verlorenheit für uns und mit uns Menschen aus, bis zum Ende, bis in den Tod am Kreuz. So gibt es für jene, die ihm vertrauen, keinen Ort der totalen Verlassenheit mehr. Auch da, wo wir verzweifelt sind und alles, sogar unseren Glauben, verlieren, auch da bleibt der Gekreuzigte bei uns und schreit mit uns: Mein Gott, mein Gott, warum hast Du mich verlassen?

Nick kennt diese totale Verzweiflung. Auch er hat alles verloren, seinen Besitz, seine Familie, seine Freunde, seine Selbstachtung und seinen Glauben. Was, wenn es stimmt, dass einer bei ihm bleibt, Jesus, der seine Dunkelheit und Trostlosigkeit mit ihm teilt, Jesus, in welchem Gottes Gnade und Erbarmen Mensch geworden sind?

Noch nagen Zweifel in Nick. Jesus ist seit 2000 Jahren tot. Sicher, die Christinnen und Christen glauben an seine Auferstehung. Doch ist ihm seit seiner Auffahrt in den Himmel je ein Mensch begegnet? Was ist Ostern – nur eine schöne Idee, oder doch mehr?

Nun liest die Pfarrerin die Einsetzungsworte:

Jesus nahm das Brot, dankte, brach es und sagte: Nehmt und esst! Das ist mein Leib für euch, das tut zu meinem Gedächtnis.

Dann nahm er den Kelch und sagte: Dieser Kelch ist der neue Bund in meinem Blut, das für euch vergossen wird zur Vergebung der Sünden. Das tut, sooft ihr daraus trinkt, zu meinem Gedächtnis.

Nick beginnt zu ahnen, was das Abendmahl bedeutet, welches Geheimnis im Brot und im Traubensaft liegt. Er geht nach vorne und empfängt die Zeichen der Gegenwart des Auferstandenen. Er schmeckt die Gnade und das Erbarmen von Christus im Brot und kostet seinen Frieden im Traubensaft.

Und er nimmt wahr, dass die Auferstehung von Jesus mehr ist als eine schöne Idee. Im Brot des Lebens, im Kelch des Friedens wird sie spürbar und erfahrbar als Hoffnung, als Kraft, die beflügelt, sich den Herausforderungen des Alltags zu stellen.

Nick will es wagen, dieser Kraft zu trauen und aus ihr sein Leben anzupacken. Er ist sich bewusst, dass dies ein Weg kleiner Schritte sein wird. Doch viele Menschen sind diesen Weg vor ihm gegangen. Andere gehen ihn mit ihm zusammen. Gott selbst geht mit, gütig, geduldig, voll Erbarmen, wie eine gute Mutter. Und er sagt den Seinen zu:

Die Berge werden weichen und die Hügel wanken, meine Gnade aber wird nicht von dir weichen und mein Friedensbund nicht wanken, spricht, der sich deiner erbarmt, der EWIGE.

Amen.

de_DEDeutsch