Jesaja 60,1-5

Jesaja 60,1-5

Ein Neuanfang | 4. Advent und Heiligabend | 24.12.2023 | Jes 60,1-5 | Nadja Papis |

Liebe Gemeinde,

dieses Jahr fallen Heiligabend und 4. Advent zusammen. Die vierte Kerze wird gleichzeitig mit den Christbaumkerzen angezündet. Kein Warten mehr, keine Vorfreude unmittelbar vor den Festtagen, denn die sind schon da.

Auch nicht schlimm, sagt die alte Frau im Altersheim. Diese Festtage sind schrecklich. Alle kommen zu Besuch, auch diejenigen, die sonst nie kommen…

Weihnachten ist so ein Stress, jammert der Vater eines Untikindes (d.h. ein eher jüngeres Kind, das am kirchlichen Unterrichtsangebot teilnimmt). All die Geschenke besorgen, all die Gäste bewirten…

Mir bedeutet dieser ganze Trubel nichts, meint die junge Erwachsene. Ich geh irgendwohin in die Ferien und hab meine Ruhe…

Mit Religion habe ich gar nichts am Hut, aber wenigstens kommt die Familie zusammen, gesteht der Senior im besten Alter. Und Jesus gab´s doch gar nicht…

Ich habe ein Herz für Weihnachtsmuffel, Skeptikerinnen und besonders auch für diejenigen, denen Weihnachten mehr Einsamkeit, Trauer und Wut bringt als Freude. Obwohl mich Weihnachten verzaubert, kenne ich auch die anderen Gefühlslagen, welche dieses Freudenfest den Menschen bescheren kann. Nicht alle teilen das Glitzern und Glänzen, das Üppige und Überschwängliche, das Lebhafte und Lautstarke der Weihnachtsfeiern. Während die einen die vollen und fröhlichen Gottesdienste geniessen, schleichen sich andere lieber abseits des Trubels in die stille Kirche, sitzen eine Weile vor der Krippe und zünden eine Kerze an. Während viele die Gemeinschaft in der Familie oder mit Freundinnen geniessen, erfahren andere in diesen Tagen den Verlust eines geliebten Menschen oder auch die Einsamkeit als besonders schmerzlich. Und der Friede lässt sich auch nicht einfach so herstellen, weder im Kleinen zuhause noch im Grossen in der Welt.

Die Kriegsbilder erschüttern mich immer wieder, egal wo in der Welt, es geht mir nahe: die Gewalttätigkeit, die Zerstörung, das Leiden der Zivilbevölkerung, die weitreichenden Folgen. Warum ich diese Bilder und die grausame Realität, die dahintersteckt, am 4. Advent und Heiligabend heraufbeschwöre und nicht wenigstens einmal verschweige? Weil ich nicht kann. Genauso wenig wie ich diejenigen ignorieren kann, die Weihnachten als eine schreckliche, grausame, schmerzhafte Zeit erleben. Der Blick auf das Leiden und die Not in der Welt gehört für mich zur Weihnachtsbotschaft dazu. Ja, ohne diesen ehrlichen Blick kann die Weihnachtsbotschaft gar keine Frohe Botschaft sein.

Um das genauer zu erläutern, gehe ich vom heutigen Predigttext aus:

Jes 62, 1-5: Um Zions willen werde ich nicht schweigen und um Jerusalems willen nicht still sein, bis seine Gerechtigkeit hervorbricht wie ein Lichtglanz und sein Heil wie eine brennende Fackel. Dann werden die Nationen deine Gerechtigkeit sehen und alle Könige deine Herrlichkeit, du wirst mit einem neuen Namen benannt werden, den der Mund des Göttlichen bestimmt. Du wirst eine wunderschöne Krone sein in der Hand des Göttlichen und ein königliches Diadem in der Hand deines Gottes. Von dir wird nicht mehr gesagt werden: eine Verlassene, und von deinem Land nicht mehr: verwüstet!. Sondern «Mein Gefallen an ihr» wirst du genannt werden und dein Land «In Besitz genommen, denn das Göttliche hat Gefallen an dir und dein Land wird in Besitz genommen werden. Wie ein junger Mann eine junge Frau in Besitz nimmt, so werden deine Söhne dich in Besitz nehmen. Wie der Bräutigam sich an der Braut freut, so freut sich Gott an dir.

Unser Predigttext bildet den Abschluss einer Textreihe, in der die Stadt Jerusalem mit verschiedenen Frauenbildern gleichgesetzt wird. Die Verbindung von Städten mit Frauenbildern und dem weiblichen sozialen Geschlecht war im alten Israel häufig und rührt wahrscheinlich von uralten Stadtgöttinnen-Kulten her. Biblisch wird allerdings nie von Göttinnen gesprochen, die Städte sind wie alles Geschöpfe und nicht gleichrangig mit dem Göttlichen. Sie vermitteln Geborgenheit durch die Schutzmauern, ernähren die Bewohnenden, ihre Bauten schmücken sie mit Schönheit und Glanz und sie sind oft den Feinden ausgeliefert.

Unser Predigttext richtet sich an ein Jerusalem, das viel Not erlitten hat: Die Stadt wurde zerstört, viele Bewohnenden mussten fliehen oder wurden deportiert. Verwüstet, leer, irgendwie erstarrt.

Überschwänglich zeichnet der prophetische Text eine neue Perspektive für die Stadt, beschreibt hoffnungsvoll und vorfreudig die nahende Zukunft und will so aus der Erstarrung befreien. Die Gerechtigkeit wird hervorbrechen wie ein Lichtglanz! Und das Heil wie eine brennende Fackel! Ein neuer Name beschreibt den Neuanfang und die damit verbundene Veränderung: «Gefallen an dir» wirst du heissen, eine wunderschöne Krone sein und ein wertvolles Diadem tragen. Und das Göttliche wird zu dir kommen wie der Bräutigam zur Braut. Das patriarchale Bild der In-Besitznahme der Braut mag uns stören, meint aber nichts anderes als die Verheissung von Gottes Gegenwart im Hier und Jetzt, auf Erden, unter allen Völkern.

Wenn ich die heutige Situation in Israel, dem Gaza und auch in Jerusalem anschaue, bin ich schnell wieder bei den Weihnachtsmuffeln, den Skeptikerinnen und denen, die an Weihnachten leiden. Auch wir sind überschwänglich im Feiern, Schmücken, Essen und Singen. Vorfreude, Erwartungen, Hoffnungen türmen sich auf. Aber die Welt scheint nicht mitzumachen. Ja, wir verkünden die wunderbare Botschaft der Befreiung, Erlösung, des Friedens und der Hoffnung. Und gleichzeitig geht das Leiden weiter, der Krieg wütet, die Braut Jerusalem ist politisch und religiös umkämpft. Nichts da von glänzender Gerechtigkeit und leuchtendem Heil. Verfahren, verwüstet, erstarrt – so wirkt die Realität.

Es braucht einen Neuanfang. Immer wieder. Im Leben einzelner Menschen und auch im Miteinander der Völker.

Die trauernde Witwe muss Weihnachten neu denken – ohne ihren Mann, der ihr schmerzlich fehlt. Erstarrt wird sie die Festfreude rundherum knapp überleben. Wenn es gut geht, werden die Tränen fliessen können an einem geschützten Ort. Gewisse Traditionen wird sie beibehalten zum Gedenken, andere wird sie aufgeben müssen oder neu gestalten. Ich wünsche ihr die nötige Kraft für diese neuen Weihnachten.

Der Einsame muss sich entscheiden, ob er aus seiner Einsamkeit aufbricht, sich einen Ort sucht, wo er mit anderen gemeinsam feiern kann, oder ob er für sich bleibt und das Alleinsein aushält. Ich wünsche ihm die nötige Kraft für diese Entscheidung und ihre Folgen.

Die Skeptikerin muss sich damit auseinandersetzen, was Weihnachten für sie heissen kann, ob es überhaupt noch irgendeine Bedeutung darin gibt, ob sie einfach mitmacht, weil alle mitmachen, oder ob sie sich rausnimmt. Ich wünsche ihr den nötigen Mut zur Ehrlichkeit.

Die Menschen im Krieg haben keine Chance auf die Weihnachtsfreude. Zerstörung, Gewalt, existentielle Not zwingen sie zum Überlebenskampf. Ich wünsche Ihnen die nötige Hoffnung darauf, dass es einen Neuanfang geben wird.

Mit Jesus Christus kam für mich die Chance auf Neuanfänge in die Welt, die Hoffnung darauf, dass wir immer wieder neu anfangen können, und die Verheissung, dass wir dafür auch die nötige Kraft bekommen. Weil wir nicht alleine sind in diesen Neuanfängen: Das Göttliche ist in uns und mit uns. Weil es an Weihnachten in die Welt hineingeboren wurde und das Menschliche auf sich genommen hat mit allem, was dazu gehört.

Seht Ihr den Lichtglanz der Gerechtigkeit? Das Heil wie eine brennende Fackel? Das königliche Diadem? Den vorfreudigen Bräutigam? Gott kommt zur Welt – nicht bald, sondern schon heute an Heiligabend. Wir müssen kein bisschen warten, nicht mal vom 4. Advent bis an Weihnachten.

Amen

Pfrn. Nadja Papis

Langnau am Albis

nadja.papis@refsihltal.ch

Nadja Papis, geb. 1975, Pfarrerin in der ev.-reformierten Landeskirche des Kantons Zürich/Schweiz. Seit 2003 tätig im Gemeindepfarramt der Kirchgemeinde Sihltal.

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