Johannes 12, 34-36 (37-41)

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Johannes 12, 34-36 (37-41)

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Letzter
Sonntag nach Epiphanias, 4. Februar 2001

Predigt über Johannes 12, 34-36 (37-41), verfaßt von
Christoph Ernst


Gnade sei mit uns und Friede von Gott, unserm Vater, und dem Herrn
Jesus Christus. Amen

I

Der Predigttext für diesen Sonntag steht bei Johannes im 12.
Kapitel. Ich stelle mir die Szene so vor:

An einem sonnigen Frühlingsmorgen stand Jesus auf dem
Marktplatz von Jerusalem und diskutierte mit den Menschen, die dort Handel
trieben, über das Himmelreich.
Er sprach davon, daß er bald von
der Erde erhöht werde und dann alle zu sich ziehen wolle.
Unruhe
entstand, und eine hagere Gestalt, die die ganze Zeit an seinen Lippen gehangen
hatte, schrie in die Menge hinein: »Hört diesem Menschensohn zu,
er ist der Christus, der Messias!«

Verlesen des Predigttextes Joh 12, 34-36

Da antwortete ihm das Volk: Wir haben aus dem Gesetz gehört,
daß der Christus in Ewigkeit bleibt; wieso sagst du dann: Der
Menschensohn muß erhöht werden? Wer ist dieser Menschensohn? 35 Da
sprach Jesus zu ihnen: Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei euch.
Wandelt, solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht
überfalle. Wer in der Finsternis wandelt, der weiß nicht, wo er
hingeht. 36 Glaubt an das Licht, solange ihr’s habt, damit ihr Kinder des
Lichtes werdet. Das redete Jesus und ging weg und verbarg sich vor ihnen.

Liebe Gemeinde, der kleine Manuel, gerade fünf Jahre alt,
drückt seinen Schlafteddy fest an sich. Sein Vater singt mit ihm das
Gute-Nacht-Lied, in dem sein Name, Manuel, erklärt wird. »Wo ich
bin, hält Gott die Wacht, führt und schirmt mich Tag und
Nacht…«
Das ist Manuels Lieblingsstrophe. Noch ein kurzes:
»Gute Nacht, und schlaf schön!«, und dann macht der
Vater die Tür zu.

Da ist sie wieder, diese Stille. Wie an jedem Abend. Manuel liegt
allein in seinem dunklen Zimmer. – Von der Straßenlaterne fällt
ein blasser Schimmer durch die Jalousie, und langsam kann er etwas erkennen.

Da! Manuel sieht kleine Schatten an der Wand, direkt über
seinem Bett. Nein, vorhin, da waren die noch nicht dort! Manuel sieht noch
einmal genau hin: tatsächlich, die Schatten bewegen sich! Er zieht seinen
Teddy noch fester an sich heran. Was kann das an der Wand nur sein? Er bekommt
Angst und ruft, so laut er kann: »Papa, kannst Du bitte die Tür
offen lassen, ich kann sonst nicht einschlafen!«

Der Vater kommt ins Kinderzimmer, und Manuel erzählt ihm, was
er gesehen hat. Der Vater erklärt ihm, wie die Schatten von seinem Mobile
an die Wand über seinem Bett gelangen. Und als er wieder aus dem Zimmer
geht, läßt er die Tür einen Spalt breit offen, so daß ein
Lichtstrahl in das Kinderzimmer hineinblickt. Jetzt ist Manuel
zufrieden, denn wenn er weiß, daß dieser vertraute helle Streifen
da ist, kann er beruhigt schlafen. Ein Lichtstrahl, und die
Dunkelheit wird erträglich.

II

Liebe Gemeinde, Manuel hat ganz recht: wenn man nichts sieht, dann
spielen sich in unserer Umgebung die merkwürdigsten Dinge ab. Im Dunkeln
nimmt unsere Phantasie freien Lauf. Da hilft es auch nichts, wenn der Vater
genau erklären kann, wie ein Schatten entsteht.

Oder: was hilft es uns, wenn wir genau wissen: die Nacht
ist im Grunde doch auch nichts anderes als der Tag, nur daß die
Sonne auf der anderen Seite der Erde scheint. Nein, wenn es um uns herum
dunkel wird, dann wachen die Ängste auf.

Alte Menschen trauen sich bei Dunkelheit nicht aus dem Haus, und
das nicht nur, weil sie schlecht sehen. Sie wissen, daß sie dann eher als
am hellichten Tag zu Opfern von finsteren Gesellen werden können, die nur
im ›Schutze der Dunkelheit‹ ihr Unwesen treiben. Ein nur allzu
berechtigte Angst!

Und die meisten von uns schließen, wenn es Nacht wird, die
Haustür zu; zweimal – man kann ja nie wissen…! Und wir tun das
nicht zu unrecht, denn man hört es ja immer wieder, daß Menschen in
ihren Wohnungen überfallen werden.

Oder ich denke an euch Konfirmandinnen: könntet ihr euch etwa
vorstellen, spätabends nach dem Kino allein mit Bus und U-Bahn von
Dortmund nach Schüren zu fahren? »Das ist doch viel zu
gefährlich!«
, werdet ihr wahrscheinlich sagen. Und die Erfahrung
gibt euch recht.

Ängste sind uns bestens bekannt, auch wenn wir es nicht immer
zugeben. Und wenn ich es mir richtig überlege, dann könnte wohl jede
und jeder von uns – zumindest im übertragenen Sinne – dieser
kleine Manuel sein. Dabei hat es Manuel noch recht gut, denn wir wissen doch
auch, daß nicht immer sofort jemand kommt und uns in
unserer Nacht leuchtet.

III

In unserem Predigtwort aus dem Johannesevangelium ist es ganz
ähnlich: die Jünger ahnen schon etwas von der Dunkelheit, die
sie befallen könnte, wenn Jesus nicht mehr bei ihnen sein wird. Nur
noch eine kleine Zeit würde er bleiben können, so hatte er gesagt.
Die Jünger sind traurig, und sie fürchten sich davor, Abschied nehmen
zu müssen.

Das ist, als wenn die Ferien zu Ende gehen, oder als wenn man die
verbleibenden Tage seines Urlaubs rückwärts zählt: noch zehn,
noch acht, noch drei… – Wir wissen es ja: diese
Sonnenuntergänge im warmen Sand am Meer, oder auch dieses erhebende
Gefühl, auf dem Gipfel eines Berges zu stehen – diese wunderbaren
Momente, in denen man meint, daß das Glück zum Greifen nahe ist
– sie währen nicht bis in die Ewigkeit. Immer schwingt eine Ahnung
von Abschied schon mit – und beim Gedanken daran verspürt man dieses
flaue Gefühl in der Magengegend.

Die Jünger sind traurig, weil sie sich schon vorstellen
können, wie es bei ihnen ohne Jesus weitergeht: auf den einen wartet
wieder ein Fischerboot, auf einen anderen die Zimmermannswerkstatt…

Und wie viele
beglückende und lichte Momente hatten sie doch mit
Jesus erleben dürfen! Wie hell war es in ihrem Leben
geworden, als er ihnen mit seiner unnachahmlichen Heiterkeit
erzählte, was es mit dem Himmelreich auf sich hat! In seiner Nähe, da
war ihnen doch ein Licht aufgegangen, da wußten sie auf einmal,
was wirklich das Leben ist. – Und jetzt? Jetzt sahen sie wieder
ihren Alltagstrott vor sich.

Dieser Schmerz, diese Traurigkeit überfällt auch Petrus,
Jakobus und Johannes, als sie mit Jesus auf dem Berg sind, wie wir es vorhin im
Evangelium gehört haben. Da steht ihnen einmal im Leben der
Himmel offen – und Petrus, er würde alles dafür hergeben,
wenn er diesen einen Augenblick festhalten könnte: »Herr,
hier ist gut sein!«
Aus tiefster Seele sagt er das – doch
als er es sagt, ist es schon wieder vorbei. Das Glück währt eben nur
für einen winzigen Moment. Wie gewonnen, so zerronnen…

»Es ist das Licht noch eine kleine Zeit bei
euch… Wandelt, zieht eure Straße, solange ihr das Licht habt,
damit euch die Finsternis nicht überfalle.«

Eine Frau, mit der ich mich vor kurzem über diese Verse
unterhielt, sagte mir: »Das ist ein trauriger Text. Er verlangt,
daß Menschen verzichten, sobald sie etwas Schönes erleben. Ein Text
wie aus dem wirklichen Leben, wo alle schönen Dinge so schnell
vorbeigehen! Kann es denn nicht wenigstens bei Gott mal anders
sein?«

IV

Liebe Gemeinde, ich glaube, bei Gott ist es wie im
wirklichen Leben: »Geht auf eurem Weg, zieht eure Straße,
solange ihr das Licht habt, damit euch die Finsternis nicht
überfalle.«

Johannes schreibt diese Worte auf, als Jesus schon längst
nicht mehr leibhaftig über diese Erde geht. Und diejenigen, die das
Evangelium zuerst gelesen haben, sind Jesus auch nicht von Angesicht zu
Angesicht begegnet. Und trotzdem haben sie gelesen, trotzdem lesen
wir: »geht auf eurem Weg, solange ihr das Licht
habt

Wenn man es so betont, klingt es gleich viel
verheißungsvoller: Ihr habt doch das Licht!

Und das heißt doch auch: erst dann, wenn wir das Licht, das
in unser Leben hineinstrahlt, nicht mehr hätten, erst dann
wäre es für uns gefährlich, erst dann kann »die
Finsternis uns überfallen«
, wie Johannes schreibt.

Erst dann liefen wir Gefahr, uns wie Manuel mit den
beängstigenden Schatten an der Wand ernsthaft zu beschäftigen.
Gefährlich wird es erst dann, wenn kein Lichtstrahl mehr in
unser Leben fällt, der die nächtlichen Schatten vertreibt, und wir in
unserer Angst nicht mehr glauben können, daß Gott mit uns
ist, wie es der Name Manuel so schön sagt.

Aber – Gott sei Dank! Es gibt sie, diese lichten Momente, und
auch wir kennen erhebende Augenblicke, in denen wir mit einem Mal innehalten
müssen und denken: Hier ist gut sein! Gott ist mit uns.
Momente, die unser Leben wirklich erleuchten – so wie das des
Petrus, als er auf dem Berg erkannte, wer dieser Jesus
tatsächlich für ihn ist.

Wir können uns diese Momente vorstellen und haben sie auch
selbst schon erlebt – wenn etwa deine Nachbarin völlig überraschend
klingelt und für die Sorgen in deiner Einsamkeit ein Ohr hat. Oder wenn du
eine Prüfung gemeistert hast und danach plötzlich alles wie ein Stein
von dir abfällt. Oder wenn du im Gottesdienst oder bei der Feier
des Abendmahls das Gefühl hast, daß dir Christus wirklich
nahe ist.

Das können Momente sein, in denen wir unsere Sehnsucht nach
der Unvergänglichkeit des Glücks vielleicht ganz ähnlich
ausdrücken würden wie der Petrus. Wir könnten dann rufen:
»zum Augenblicke dürft ich sagen, verweile doch, du bist so
schön…!«

Aber zugleich wissen wir – es geht nicht. Diese
Augenblicke kann man nicht für die Ewigkeit festhalten. Unser Alltag ruft
uns zurück, wie auch Petrus, Jakobus und Johannes wieder in das Tal ihres
Alltags hinabsteigen müssen.

Offenbar kann es, wie die Frau zu unserem Predigtwort schon
richtig vermutet hat, offenbar kann es selbst bei Gott nicht anders
sein. Menschen müssen verzichten, sobald sie etwas Schönes erleben.
Also: »Geht auf eurem Weg, wandelt im Licht, solange ihr das Licht
habt

Und: Seien wir froh, daß wir uns dieses
Lichtes für unser Leben gewiß sein dürfen, denn dieses
Licht geht mit auf unserem Weg.

V

Liebe Gemeinde, bei uns in Schüren wird oft das Lied Von
guten Mächten treu und still umgeben
gesungen. Dieses Lied war ja
ursprünglich ein sehr persönliches Gedicht. Dietrich Bonhoeffer
saß am Jahresende 1944 im Gefängnis der Gestapo, als er es seiner
Mutter zum 70. Geburtstag sandte.

Bonhoeffer, der heute vor 95 Jahren geboren wurde, befand sich
damals selbst in tiefster Finsternis. Und man kann wohl davon ausgehen,
daß nicht allzu viel Licht bis in die Gestapo-Zelle
hineingelangte.

Dennoch spürte Bonhoeffer das verheißene Licht. Ja
– er wußte sich selbst als ein Kind des Lichts und konnte
dieses Licht sogar ausstrahlen. Z.B. als er seiner Mutter diese Zeilen
schrieb und versuchte, sie über die schweren Tage hinwegzutrösten.

Eine Strophe drückt dies sehr schön aus; es ist ein
Gebet, das von Trennungsschmerz, Hoffnung und Zuversicht spricht:

Laß warm und hell die Kerzen heute flammen,
die
du in unsre Dunkelheit gebracht,
führ, wenn es sein
kann, wieder uns zusammen.
Wir wissen es, dein Licht scheint
in der Nacht.

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft,
bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus, unserm Herrn.

Amen

Christoph Ernst
Niergartenstr. 7
D-44269 Dortmund

Tel.: 0231-772928
christoph.ernst@surfeu.de


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