Johannes 15

Johannes 15

In einer neuerbauten Kirche an einem Ort hier in Dänemark gibt
es ein sehr großes Fenster über dem Altar. In der ersten Zeit
nach der Einweihung der Kirche hatte diese Kirche klare Fenster, so daß man
in der Kirche sitzen konnte und den Vögeln und den Wolken am Himmel
und den Blättern und Zweigen der Bäume folgen konnte. Aber
mit der Zeit sammelte die Gemeinde Geld für das, was schon immer
beabsichtigt war: Ein großes Glasmosaik in diesen großen
Fenstern.

Das große Glasmosaik wurde angebracht. Und es war sehr modern.
Da waren keine Formen, die man wiedererkennen konnte, alles war nonfigurativ,
mit vielen unterschiedlichen Farben und Formen. Als es fertig war, trafen
sich der Künstler und die Gemeinde, um über das Werk zu sprechen.
Ein Mann aus der Gemeinde sagte bei dieser Gelegenheit:

„Ich gehöre zu den Unzufriedenen. Was ich gegen das Fenster
habe, ist nicht dies, daß es nichts ‚ähnelt‘. Ganz im Gegenteil:
Es ähnelt viel zu sehr, es gleicht der Zeit, in der wir leben. Ich
habe die ganze Gegenwart vor Augen, wenn ich jetzt in der Kirche sitze.
Das Bild ist flimmernd, gespalten und gesprengt, so wie es die heutige
Zeit ist, etwas, was vereint, findet sich nicht, die Harmonie fehlt in
dem Bild, so wie sie auch der heutigen Zeit fehlt. Deshalb finde ich
das Bild verfehlt, weil es all das hineinnimmt, was wir doch lieber draußen
lassen und vergessen sollten, wenn wir in der Kirche sind. In einer Kirche
soll Frieden herrschen; dieses Fenster schafft Unruhe. In einer Kirche
hören wir auf das Wort vom alten Jerusalem, um an das neue Jerusalem
zu denken, in einer Kirche wollen wir den heutigen Tag vergessen und
gehalten werden von der Botschaft von dem kommenden Reich. Deshalb!“

So weit dieser Mann.

„Und laßt uns geh’n mit stillem Sinn
Mit Hirten auch zur Krippe
hin,
Mit Freudentränen danken Gott
Froh für sein Gnadenangebot“
(Aus Grundtvigs Weihnachtslied „Det kimer nu til julefest“)

So haben wir gesungen. Deshalb kommen wir heute in die Kirche. Nicht
um von all dem zu hören, was uns verwirrt und beunruhigt und wovon
die Welt so voll ist, sondern um vom Frieden zu hören und dem Heil,
das in die Welt kam. Denn unsere Zeit ist so verworren aus einem einzigen
Grund: Weil wir nicht Glauben und Vertrauen haben. Weil der Mensch sein
eigener Gott geworden ist. Und deshalb feiern wir Weihnachten erst in
der Kirche und dann zu hause um den Weihnachtsbaum, weil wir das brauchen,
etwas was rein und warm ist. Etwas, was zu uns von außen kommt.
Das nicht an unserer Verworrenheit teilhat.

Und das ist der Kern der Weihnachtsbotschaft: Daß Gott zu uns
das Beste sandte, das er hat, seinen eigenen Sohn. Euch ist heute ein
Heiland geboren in der Stadt Davids, in Bethlehem. Er ist Christus, der
Herr. So sprachen die Engel zu den Hirten auf dem Felde. Ein Heiland?
Was bedeutet das? Das ist ein Wort, das so unhandlich und fern von unserem
alltäglichen Leben zu sein scheint. Wir denken oft anders vom Heil
und verwenden das Wort über unsere eigenen kleinen Anliegen. Wie
ein Graffiti, das ich einmal an einer Mauer in Århus gesehen habe: „Was
würden wir tun, wenn Jesus morgen wiederkäme?“ Die Antwort
stand gleich darunter: „Ebbe Sand auf den Flügel stellen“.

Daß Jesus zu uns als unser Heiland gekommen ist, bedeutet für
mich zweierlei. Erstens, daß Gott sich zu dir und mir bekennt,
so wie wir sind. Er sandte sicherlich nicht Jesus in die Welt, weil sich
die Menschen der Erde gut aufgeführt hatten und es sich verdient
hatten, daß Jesus kam. Jesus wurde geboren, weil Gott in der denkbar
deutlichsten und klaren Sprache sagen wollte, daß er sich zu uns
bekennt. Er bekennt sich so sehr zu uns, daß sein eigener Sohn
einer von uns wird.

Und deshalb bekennt er sich nicht nur zu uns, er kennt auch unser Leben
durch und durch. All das, worüber wir seufzen, was schwer zu ertragen
ist. Worüber wir vielleicht weinen, wenn wir allein sind. Die schweren
Gedanken, die zu dir kommen. Alles kennt er. Alles kennt er durch und
durch, weil er Mensch wurde. Er bekennt sich zu uns so wie wir sind,
auch wenn er und kennt, so wie wir sind. Das ist das Wunderbare an der
Weihnachtsbotschaft. Daran wird nicht gerüttelt. Wir können
uns von Gott abwenden. Aber er hält an uns fest.

Daß Jesus Heiland wurde, bedeutet zweitens, daß uns eine
Hoffnung geschenkt wird. Hoffnung hat nichts zu tun mit Optimismus oder
Pessimismus. Hoffnung ist etwas, was wir haben oder nicht haben, ganz
unabhängig von den äußeren Umständen. Hoffnung ist
Gottes Gabe an uns. Die Hoffnung kam in der Weihnacht auf die Welt. Und
das bedeutet: Wenn alle unsere Möglichkeiten erschöpft sind,
wenn wir an die Grenze dessen gelangt sind, was wir können, dann
bleibt noch die Hoffnung.

Wenn der Arzt gesagt hat: Wir können leider nichts mehr für
Dich tun. Wir haben keine Behandlungsmöglichkeiten mehr. Dann bleibt
noch immer die Hoffnung, nicht als Optimismus, denn es gibt vielleicht
nicht sehr viel, worauf man den Optimismus begründen könnte.
Sondern als Hoffnung, weil Hoffnung Vertrauen ist auf ihn, der über
alles bestimmt, deine und meine Zukunft und die der ganzen Welt. Hoffnung
kommt zu uns, auch und vielleicht besonders, wenn es am finstersten
aussieht. Und da können wir die Nähe Gottes in einer wunderbar
starken Weise erfahren. Ihn in unser Herz flüstern hören: ich
lasse dich nicht los, ich verlasse dich nicht. Du und ich gehören
zusammen.

Wir brauchen nicht etwas Bestimmtes zu tun oder besonders barmherzig
und gut zu sein, um erlöst zu werden. Wir können und sollen
nur eines: Gott vertrauen. Dem vertrauen, der zu uns in der Weihnacht
kam. Die Erde ist noch warm von seinem Körper. Er ist unser Heiland.
Es geht nicht darum, genug Karma zu sammeln in einer Reihe von Leben
nach einander, um sich schließlich sein eigenes Heil zu verdienen.
Es geht nicht darum, selbst göttlich zu werden. Es geht nur um dieses
eine: Gott zu vertrauen. Am Vertrauen zu ihm festzuhalten. Ihn die Nummer
eins in unserem Leben sein zu lassen. Und ist Gott für uns, wer
kann da gegen uns sein. Komme, was da wolle. Die Hoffnung verlieren wir
nicht.

Es gibt einige, denen ich heute abend besonders eine frohe Weihnacht
wünschen möchte. Das seid Ihr, die an diesem Weihnachtsfest
jemanden vermissen, jemanden, den Ihr seit dem letzten Weihnachtsfest
verloren habt. Wen da so viel ist, was Ihr gerne mit demjenigen oder
derjenigen teilen möchtet, die nun weg sind. Vergeßt nicht
die Hoffnung! Daß Christus unser Heiland ist, bedeutet auch, daß der
Tod uns nicht scheiden kann von Gott. Ihm gehören wir im Leben und
im sterben. Und wir dürfen einfach und echt zu einander sagen: Unsere
Toten haben es gut bei Gott. Und wir werden sie einmal wiedersehen.

Das ist die Ruhe, die wir brauchen und die wir hier in der Kirche finden.
Es gibt so viel, das uns verwirrt und angst macht vor der Zukunft. Merkwürdig,
daß dies so ist. Nie ging es uns besser als in diesen Jahren. Wir
sind eines der reichsten Länder der Welt, und wir haben uns an einen
Lebensstandard gewöhnt, der zu den allerhöchsten in der
Welt zählt. Abgesehen von gelegentlichen Orkanen sind wir verschont
von großen Naturkatastrophen, die andere Teile der Welt zerstören.

Wir leben in Frieden mit unseren Nachbarn. Wir brauchen keine Angriffe
von außen zu fürchten. Wir haben trotz aller Kritik eines
der am besten funktionierenden Gesundheitswesen mit Ärzten, Krankenhäusern
und Kliniken. Wir haben eine Sozialgesetzgebung, um die uns viele Länder
beneiden. Kurz: Wir leben fast unbeschreiblich guten und gesicherten
Verhältnissen.

Dennoch haben wir Angst. Dennoch sind wir verwirrt. Dennoch liegt die
Furcht vor einer künftigen Katastrophe dicht unter der Oberfläche
in unsere gut funktionierenden Gesellschaft. Das Weihnachtsevangelium
sagt uns, daß wir ohne Furcht leben sollen. „Fürchtet
euch nicht“, sagten die Engel. Lebe dein Leben ohne Furcht. Die
Vergangenheit kannst du unter die Vergebung Gottes legen. Die Zukunft
kannst du unter die Hoffnung legen. Der Gegenwart kannst du dich öffnen.
Fürchte dich nicht. Gesegnete Weihnachten. Amen.

Bischof Karsten Nissen
Domkirkestræde 1
DK-8800 Viborg
Tel.: ++ 45 – 86 62 09 11
E-mail: kn@km.dk

de_DEDeutsch