Johannes 15, 5

Johannes 15, 5

Mitten in der Welt steht ein Baum. Ein Baum mit Wurzeln,
die weit in die Erde reichen, und mit Zweigen, die sich zum Himmel hinstrecken.
Ein Baum, der Himmel und Erde verbindet. Es gibt viele Erzählungen
von diesem Baum. Man hört von ihm im Alten Testament, wo wir ihn
aus dem Garten des Paradies kennen, dann in der Offenbarung des Johannes
als Baum des Lebens, der am Fluß des Lebens steht. Wir kennen ihn
aber auch aus der nordischen Mythologie als „Ask Ygdrasil“,
ja er ist auch in vielen anderen sowohl nahöstlichen als auch indianischen
Religionen bekannt, wo der Baum das ist, was Himmel und Erde verbindet.

Der Baum kann auch ein Bild für die Geschichte der Familie sein.
Der Baum mit seiner weitverzweigten Krone kann ganze Generationen mit
zahlreichen Gliedern enthalten und ihre Verbundenheit miteinander demonstrieren,
wobei jeder einzelne nur ein kleiner Teil eines größeren Zusammenhanges
ist, ein kleiner Teil der großen Familie.

Ein Baum kann also ein Bild sein, das etwas von der Geschichte erzählt,
von der Zeit, aber zugleich zeigt er auch, wie die Zeit in der Ewigkeit
verankert ist.

„Ich bin der Weinstock, ihr seid die Reben“, sagt Jesus zu
seinen Jüngern, und er sagt dies hier zwischen Ostern und Pfingsten,
wo es ihm wichtig ist, ihnen zu sagen, wie tief er und die Jünger
verbunden sind, auch wenn er sie bald verlassen wird.

Das Bild vom Weinstock als Jesus und den Jüngern als den Reben
enthält außerordentlich viel. Es liegt etwas unglaublich Schönes
und Frohes in diesem Bild. Aber in den Worten Jesu liegt auch eine Schärfe: „Ohne
mich könnt ihr nichts tun“. Eine Schärfe, die in unseren
Ohren merkwürdig klingen mag. Denn hier glaubten wir gerade, Jesus
sei der, der von sich selbst wegweist und uns statt dessen an unseren
Mitmenschen verweist als den Menschen, dem wir helfen sollen. Ist nicht
gerade das Leben mit unserem Nächsten das wichtigste Anliegen des
Christentums? Warum dann solche harten Worte?

Wir leben in einer Kultur, in der das Christentum viele Spuren hinterlassen
hat und wo vieles von dem, was Jesus gesagt und getan hat, nun sein eigenes
Leben führt. Ohne ihn, möchte man meinen.

Denn es handelt sich um eine Kultur, wo mitmenschliche Fürsorge
eine Sache ist, der sich die Wohlfahrtsgesellschaft annimmt. Hoffen wir
wenigstens. Wo der Not des Nächsten durch die öffentlichen
Steuern abgeholfen wird. Denken wir. Wo die Würde eines Menschen
Bestandteil unserer grundlegenden juristischen rechte ist. Meinen wir
wohl.

Ja, wir haben gehört, was das war, was Jesus gesagt hat. Wir haben
es voll verstanden. Seht nur, wie praktisch und weise wir uns eingerichtet
haben.

Aber ist es nun auch sicher, daß wir das auch verstanden haben?
Man kann sehr wohl ins Zweifeln geraten, denn es ist als hätten
wir vergessen, wo wir unserer Nahrung herholen sollen. Wir glauben, die
Zweige könnten ihr eigenes Leben leben und Frucht bringen, auch
wenn sie vom Baum getrennt sind.

Aber indem wir die Bande zum christlichen Glauben gelöst haben,
indem wir die Worte Jesu nur hören als einen schwachen Nachklang
in dem was wir tun, und in dem Leben, das wir leben, verlieren wir rasch
die Perspektive. Der Raum wird so unendlich eng um uns. Wir verlieren
die Demut gegenüber dem, womit wir es zu tun haben. Wir werden eine
selbstgenügsame, selbstgerechte und sentimentale Kultur. Wir vergessen,
daß die Liebe etwas ist, das von außen kommt und nicht etwas
ist, das wir aus unserem eigenen Gefühlsleben entnehmen können.
Wir werden beeindruckt von dem, was wir erreichen, und scheitern an dem,
was uns nicht gelingt – denn was ist man dann wert? Nicht sehr viel,
ist die gnadenlose Antwort, wenn wir nicht irgendwo gemeinsam die Erinnerung
daran bewahren, daß wir das Gesicht Jesu in dem Gesicht jedes Menschen
sehen sollen.

Was wir im Lebens eines Menschen für wahr halten, muß deshalb
seinen Ursprung in etwas kennen, was göttlich ist, damit es in uns
Frucht bringen kann. Sonst wird es zu klein, zu rechthaberisch oder zu
unbarmherzig.

Denn von diesem Baum, dem Weinstock, der auch der Baum des Kreuzes
ist, in den wir durch die Taufe eingepfropft sind, erhalten wir Nahrung.
Dort sollen wir Hoffnung, Trost und Lebensmut finden, indem wir seine
Erzählung vom Leben, dem Tod und der Auferstehung Jesu hören
und dies zu einem Teil unserer eigenen Lebensgeschichte machen. Von diesem
Baum sollen wir den Mut und den Willen holen, unserem Mitmenschen zu
helfen. Das ist der Baum, der uns frei macht, indem er uns an sich bindet.
Amen.

Pfarrer Asta Gyldenkærne
Skovkirkevej 21
DK-3630 Jægerspris
Tel: ++ 45 – 47 53 00 33
E-mail: agy@km.dk

 

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