Johannes 3,31-36

Johannes 3,31-36

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch

Christfest,
25. Dezember 2000

Predigt
über Johannes 3,31-36, verfaßt von Georg Kretschmar, St.
Petersburg


Liebe Gemeinde,

wir feiern Weihnachten, das Fest der Geburt Christi. Vor unsere
Augen tritt die alte Weihnachtsgeschichte. Wir denken an das Kind in der Krippe
und hören vom Gesang der Engel in der Heiligen Nacht: „Euch ist heute
der Heiland geboren, welcher ist Christus der Herr in der Stadt Davids…
Ehre sei Gott in der Höhe und Frieden auf Erden bei den Menschen Seines
Wohlgefallens“ (Lk. 2, 11.14). Das ist eine wundersame Geschichte, weil
sie ja von dem Wunder aller Wunder erzählt, dass in einem kleinen Kind
damals, vor 2000 Jahren, Gottes Sohn und damit Gott selbst zu uns gekommen ist.
Es war der Anfang eines Menschenlebens, von der Geburt zum Tode am Schandpfahl
des Kreuzes und dann zur Auferstehung. Es war ein Menschenleben, wie wir es
leben, von der Geburt zum Tod. Er hatte eine Mutter, wie wir alle eine Mutter
haben. Es ist heute eine gebräuchliche Redensart geworden, Jesus unseren
Bruder zu nennen. Das ist wahr, obgleich es besser wäre zu sagen: er hat
sich uns zum Bruder gemacht.

Aber neben dieser Linie gibt es eine andere, die im Apostolischen
Glaubensbekenntnis so klingt: „ich glaube… an Jesus Christus, Gottes
Sohn, unseren Herrn, der geboren ist von der Jungfrau Maria…“.
Dazwischen steht noch „empfangen durch den Heiligen Geist“. Das ist
dann integraler Teil der Weihnachtsgeschichte in den Evangelien nach Lukas und
Matthäus, aber das Johannesevangelium greift dieses Stück der
Weihnachtsüberlieferung nicht auf; er redet überhaupt nicht von der
menschlichen Geburt Jesu. Der Apostel Paulus schreibt: „als die Zeit
erfüllt war, sandte Gott Seinen Sohn, geboren von einer Frau…“
(Gal. 4,4). Jesus Christus ist Gottes und Marien Sohn. Das weiß
natürlich auch der Evangelist Johannes. Aber im Vordergrund steht für
ihn, dass unser Herr Gottes Sohn ist und vom Verhältnis des Sohnes zum
Vater und des Vaters zum Sohn handelt auch unser Evangeliumtext. Das Interesse
liegt nicht zu sehr daran, dass diese Sohnschaft der Geburt aus Maria vorangeht
und über den Tod hinaus bleibt, so wahr das ist. Aber das Gewicht des
Evangeliums liegt darauf, dass dieser Mann Jesus von Nazareth in allem, was er
lehrte, handelte und erlitt, aus der Gemeinschaft mit Gott lebte und handelte,
dass im Sohn der Vater begegnet.

Ich war vor wenigen Wochen zu einem kirchlichen Treffen in
Damaskus, zum ersten Mal wieder nach 33 Jahren. Wie viel hatte sich in dieser
Stadt verändert! Vor allem fiel mir auf, dass überall in der Stadt,
in den Schaufenstern, an den öffentlichen Gebäuden Bilder hingen von
Hafis Assad, dem jüngst verstorbenen Staatspräsidenten, und dem Sohn,
der sein Nachfolger wurde und heute die Arabische Republik Syrien leitet. So
hatte es der Vater gewünscht, und alle zuständigen staatlichen Organe
hatten zugestimmt. Das Ziel der Botschaft dieses Doppelbildnisses ist klar: der
noch junge, relativ unerfahrene neue Staatspräsident wird durch den Vater
legitimiert. Sehet, unser Staatsoberhaupt hatte den vollen Segen seines
allseits verehrten Vaters und er wird unsere Nation in diesen schwierigen
Zeiten weiter im Sinne des Vaters führen.

Das mag eine Hilfe zum Verstehen der Worte des Johannesevangeliums
sein. Der Vater, das ist der Gott Abrahams, Isaaks und Jakobs. Und Er
legitimiert den Wanderlehrer und Wundertäter Jesus, so wie es die
Geschichten von der Taufe Jesu und seiner Verklärung festhalten: Du bist
mein Sohn.

Was das heißt, legt das Johannesevangelium aus. Es geht
dabei um die letzte gültige Wahrheit für Himmel und Erde und unser
Leben, unser ewiges Leben. Die Möglichkeiten unserer Sprache, ja unseres
Denkens werden dabei gesprengt. Deshalb redet der Evangelist wieder in Bildern:
Er kommt von „oben“ und bezeugt, was Er doch wohl „oben“
gesehen hat. Die Botschaft Jesu, sein Ruf zur Umkehr in die Gemeinschaft mit
Ihm, dem Sohn und damit dem himmlischen Vater ist nicht ein Ausplaudern
himmlischer Geheimnisse, wie es der Stil mancher damaliger, sich als Prophetie
verstehender Schriften war. Jesu ruft zum Leben, seine Einladung an alle ist
Gottes Angebot an die von Ihm geschaffene Welt zur Heimkehr. „Leben“
ist die johannäische Zusammenfassung dessen, was die Engel in der
Weihnachtsgeschichte nach Lukas sangen: „Euch ist heute der Heiland, der
Retter geboren – Friede auf Erden für alle, an denen Gott Wohlgefallen
hat“.

Wir alle verstehen, dass ein relativ junger in höchste
Verantwortung berufener Staatsmann Bestätigung, Beglaubigung seiner
Autorität braucht. Aber der Weg Jesu war anders. Er endete dem Anschein
nach mit der Ausstoßung durch sein eigenes Volk und die Hinrichtung durch
die Römer. Aber eben von diesem Mann und dem ganzen Weg, der zu diesem
Ende führte, gilt: „Der Vater hat den Sohn lieb und hat Ihm alles in
Seine Hand gegeben“ (3,35). Seine Worte, die ihm – menschlich
gesprochen – zum Verhängnis wurden, sind Gottes Worte. Es ist der Ruf
zur Vergebung, zur Menschlichkeit, zur Umkehr der Gelüste: nicht die
Reichen werden selig gepriesen, sondern die Armen.

Aber von diesem Zeugnis des Willens Gottes wird gesagt: niemand
nimmt es an. Gemeint ist: die Mehrheit der Menschen hört es nicht; wer
aber doch umkehrt, tritt damit an die Seite der Wahrhaftigkeit und Treue
Gottes, denn er glaubt ihm und nicht dem, was sonst als Wünsche und Werte
verbreitet sind.

Wenn das so ist, was ist das dann für eine Welt, in der wir
leben? Hier werden dann viele zustimmen. Früher zogen fahrende Leute,
„Bänkelsänger“ nannte man sie, von Stadt zu Stadt, von Dorf
zu Dorf und berichteten, was es alles an Gutem und an Schlimmem in der Welt
gab. Heute können wir jeden Tag durch das Fernsehen mit eigenen Augen das
Elend von Menschen rund um den Erdball verfolgen. Manchmal sind es
Naturkatastrophen, die schreckliche Nöte zur Folge haben. Meist ist es
menschliche Feindschaft, Neid, sind es falsche Ansprüche, gottlose
Missbrauch mit religiösen Überlieferungen, die zu Krieg, Mord,
Zerstörung führen. Damit sind wir doch wieder bei Weihnachten. Die
Krippe in Bethlehem steht für den ganzen Weg Jesu und seine Botschaft,
seine Heilungskraft, die hier ihren Ausgang hatten, ja noch haben. Die Krippe
stand in einem armen Winkel unserer Welt und doch ging von ihr ein Leuchten
auf, das durch den Glanz der Auferstehung von Ostern bestätigt und
verstärkt wird.

Das älteste Weihnachtslied der abendländischen Kirche
stammt aus dem vierten Jahrhundert und wurde nach der Überlieferung von
Bischof Ambrosius von Mailand, dem Lehrer Augustins geschrieben. Darin besingt
er das Licht, das von der Krippe ausgeht. Martin Luther hat seinen Hymnus ins
Deutsche übertragen. Hier lautet der vierte Vers:

„Das ewig Licht geht da herein, gibt der Welt ein´
neuen Schein.
Es leucht wohl mitten in der Nacht und uns des Lichtes Kinder
macht. Kyrieeleis“.

Das ist mehr, als Ambrosius zu schreiben wagte. Er hat den letzten
Satz nur als Wunsch formuliert. Ein Zeitgenosse Luthers, ein früherer
Schüler, der gegen seinen Lehre glaubte, die Erneuerung von Kirche und
Gesellschaft mit Gewalt erzwingen zu können und dabei umkam, Thomas
Müntzer hat den Hymnus des Ambrosius gleichfalls ins Deutsche
übersetzt aber die vierte Strophe ausgelassen: das Licht der Krippe
leuchtet eben nicht mehr in unserer Welt, erst eine neue künftige
Gesellschaft wird wieder von Licht und Leben sprechen können.

Solche Rede von der erst revolutionär zu erzwingender Zukunft
hat sich unter uns längst als Illusion, als Lüge enthüllt. Wir
sehen das Dunkel und wir dürfen das Licht sehen. Das ist nichts anderes,
als das, was der Evangelist Johannes schreibt: „wer an den Sohn glaubt,
der hat das ewige Leben“ (3, 36). Das ist die Entscheidung zwischen Licht
und Finsternis, zwischen ewigem Leben und Gottes Zorn. Die Krippe von Bethlehem
ist für uns Wegweiser zum Leben.

Gott sei gelobt, der uns Seinen Sohn gesandt hat, den Retter der
Welt, als Kind in der Krippe.

Amen.

D. Georg Kretschmar
Erzbischof der ELKRAS (Ev.-luth. Kirche
in Rußland, der Ukraine, in Kasachstan und Mittelasien)
St. Petersburg

Fax-Nr.: 007 812 3 10 26 65
E-Mail:
kanzlei@elkras.convey.ru


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