Johannes 7,28-29

Johannes 7,28-29

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Heiliger Abend
– Christvesper, 24. Dezember 2000

Predigt über Johannes 7,28-29, verfaßt von Margot
Käßmann


Gnade sei mit euch und Friede von Gott und dem Herrn Jesus
Christus. Amen!

Liebe Gemeinde,

da ist sie nun, die Heilige Nacht. Wie haben wir gewartet, wie uns
vorbereitet! Jedes Jahr neu erwarten wir die Geburt dieses Kindes. Das ist
schon spannend! Bei anderen würden wir vielleicht ein Gedenken des
Geburtstages durchführen: 50 Jahre, 150 Jahre, 200 Jahre, 250 Jahre. Bei
Christus feiern wir die Geburt neu, jedes Jahr, seit 2000 Jahren. Unsere
Sehnsucht nach erfülltem Leben, nach Sinn, unsere Sehnsucht nach dem
Geheimnis Gottes wartet Jahr für Jahr in dieser Heiligen Nacht auf
Erfüllung.

Wir haben uns vorbereitet auf dieses Kommen des Gotteskindes,
nichts anderes meint Advent. Ehrlich gesagt ist die Vorbereitung für mich
durchaus getrübt gewesen in diesem Jahr. Weihnachten steht in der Gefahr,
dem Druck der Kommerzialisierung zum Opfer zu fallen. Da sind die viel zu
früh eröffneten Weihnachtsmärkte und Schaufensterdekorationen.
Manche können nur noch zynisch lächeln, wenn im August die
Spekulatius-Saison eröffnet und der Weihnachtsmarkt vor Totensonntag. Oder
die Firma, die in diesem Jahr ganz wunderbar eine Weihnachtsfrau namens Nikola
und einen Weihnachtsmann namens Niklas auf den Markt gebracht hat. In der
Beschreibung heißt es man habe versucht, dem Wunsch nachzukommen, dass
der Nikolaus „einen jungen Feger“ als Partnerin hat.. Ich zitiere:
„Angefangen bei der Form, die in den ersten Stadien noch sehr
kräftig, um nicht zu sagen pummelig ausfiel und in mehreren Schritten
durch eine Diät laufen musste“, setzte sich dann „die Forderung
nach dem deutlichen Busen, in den beim Ausgießen jedoch zuviel Schokolade
gelaufen wäre und der das Stanniolieren sehr erschwert hätte“,
durch Testverkäufe eine Nikola durch, die sich „bezüglich der
Schönheitsideale“ …“bei der Statur an dem berühmtesten
Pin-up, dem der kalifornischen Rettungsschwimmerin orientiert“ durch. Zum
Trost darf ich Ihnen sagen, dass dazu eben ein Niklas konstruiert wurde, der,
ich zitiere: „eine sportlich, muskulöse Figur mit knackigem
Hintern“ darstellt und „die gewünschte Bart- und
Brustbehaarung“ dazu liefert.

Ach, Seufz, liebe Gemeinde, da könnte ich fortfahren und
lamentieren über all die Kommerzialisierung von Weihnachten etc. pp.
Lassen wir das. Als Christinnen und Christen wollen wir uns am Heiligen Abend
auf das konzentrieren, worum es bei Weihnachten wirklich geht unter dieser
dicken Schicht von Kommerz und Kitsch. Wir haben es gehört im
Lukasevangelium:

„Siehe, ich verkündige euch große
Freude, die allem Volk widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland
geboren.“

Das ist die Botschaft von Weihnachten. Es geht darum, dass uns ein
Kind geboren ist. Das ist das Geschenk, um das sich Weihnachten dreht, und das
kann kein gekauftes Geschenk je aufwiegen. Uns ist ein Kind geboren zu
Bethlehem. Und dieses Kind sagt uns Frieden zu. Können wir dem nachgehen?
Lassen Sie los, was Sie bewegt, was Sie umtreibt. Es geht nicht darum, ob das
Abendessen gelingt, ob die Harmonie in der Familie perfekt sein wird, ob sich
alle freuen und zusammenstehen können. Nein, es geht um dich und um mich.
Es geht um jeden und jede, die sich heute hier in der Kirche und in Kirchen auf
der ganzen Welt versammeln. Es geht um unser Leben und darum, was wir mit
diesem Leben anfangen. Diesem begrenzten Leben. Der Predigttext für diesen
Abend stammt aus dem Johannesevangelium. Dort heißt es im 7. Kapitel in
den Versen 28 ff.:

„Da rief Jesus, der im Tempel lehrte: Ihr kennt mich und
wißt, woher ich bin. Aber nicht von mir selbst aus bin ich gekommen,
sondern es ist ein Wahrhaftiger, der mich gesandt hat, den ihr nicht kennt. Ich
aber kenne ihn; denn ich bin von ihm, und er hat mich gesandt.“

Wer ist dieser Jesus?, diese Frage treibt Menschen seit 2000
Jahren um. Schon die drei Weisen, die einen König suchten und ein Kind
fanden. Auch Maria, der Großes prophezeit wurde. Josef, der mit Frau und
Kind auf der Flucht war. Die Hirten, die Heil erwarteten und dieses Elend sehen
mussten. Wer ist Jesus?

Zum einen, sagt Jesus im Predigttext, ist er natürlich ganz
profan der Sohn der Maria, der Sohn des Josef, stammend aus Nazareth. Das haben
ihm Menschen auch immer wieder vorgeworfen: Was bildest du dir ein, die Schrift
auszulegen, du Zimmermannssohn! Und doch haben viele gespürt, dahinter,
hinter diesen profanen Daten, ist ein ganz anderer, einer, der etwas weiß
von der Liebe Gottes, der spürbar, erfahrbar, sichtbar macht, wie Gott
sich Menschen zuwendet. Jesus sagt: „ich kenne ihn, der mich gesandt
hat“. Er ist der, der Gott kennt. Der uns beibringt ihn Vater zu nennen,
als Mutter zu erfahren, nah, zugänglich. Nicht der ferne Weltenlenker,
sondern Gott uns nahe, zur Welt gekommen. Gott, der Menschen besucht, in
Beziehung zu ihnen tritt.

Liebe Gemeinde, ob das die Geschichte von Weihnachten ist? Dass
wir uns fragen, woher wir kommen und wohin wir gehen? Die Geburt Jesu
schlägt einen Bogen von Gott zu Mensch. Selbst in unserer so hoch
technisierten Welt spüren wir ja, dass wir nicht alles beherrschen, nicht
alles erklären, nicht alles im Griff haben. Und die große Sehnsucht
an diesem Weihnachtsabend, die große Sehnsucht, die uns erfüllt, ist
eine Sehnsucht nach Sinn, nach dem Wissen von woher und wohin. Der Hoffnung,
dass wir wissen, was unser Leben bedeutet.

Jesus sagt in dem Predigttext aus dem Johannesevangelium, dass er
nicht ist, von dem alle meinen, dass sie schon wüssten, wer er ist. Er ist
auch ein ganz anderer vor Gott, weil Gott ihn selbst ansieht und ihm einen
Auftrag gegeben hat. Das ist unser Weihnachtsthema. Wir alle leben ja mit
solchen Fassaden, mit Erklärungen. Natürlich wissen wir, wer wir
sind. Geboren am, Tochter oder Sohn von, dies und das in der Vita. Viele
Äußerlichkeiten prägen uns, und andere nehmen uns wahr
über diese Äußerlichkeiten. Wenn Sie und ich uns heute Abend
Gott stellen müssten und sagen müssten, wer wir sind, dann
würden wir wahrscheinlich ins Trudeln geraten. Wenn wir sagen
müssten, was wir denken, fühlen, empfinden – das wäre vor Gott
schon ein schonungsloser Angang, eine Offenbarung.

Mich hat Dietrich Bonhoeffer da stets beeindruckt, der im
Gefängnis folgendes Gedicht geschrieben hat:

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich träte aus meiner
Zelle
gelassen und heiter und fest
wie ein Gutsherr aus seinem
Schloß.

Wer bin ich? Sie sagen mir oft,
ich spräche mit meinen
Bewachern
frei und freundlich und klar,
als hätte ich zu gebieten.

Wer bin ich? Sie sagen mir auch,
ich trüge die Tage des
Unglücks
gleichmütig, lächelnd und stolz,
wie einer, der
Siegen gewohnt ist.

Bin ich das wirklich, was andere von mir sagen?
Oder bin ich
nur das, was ich selbst von mir weiß?
Unruhig, sehnsüchtig,
krank, wie ein Vogel im Käfig,
ringend nach Lebensatem, als
würgte mir einer die Kehle,
hungernd nach Farben, nach Blumen, nach
Vogelstimmen,
dürstend nach guten Worten, nach menschlicher Nähe,

zitternd vor Zorn über Willkür und kleinlichste Kränkung,

umgetrieben vom Warten auf große Dinge,
ohnmächtig bangend
um Freunde in endloser Ferne,
müde und leer zum Beten, zum Denken, zum
Schaffen,
matt und bereit, von allem Abschied zu nehmen?

Wer bin ich? Der oder jener?
Bin ich denn heute dieser und
morgen ein andrer?
Bin ich beides zugleich? Vor Menschen ein Heuchler

und vor mir selbst ein verächtlich wehleidiger Schwächling?

Oder gleicht, was in mir noch ist, dem geschlagenen Heer,
das in
Unordnung weicht vor schon gewonnenem Sieg?

Wer bin ich? Einsames Fragen treibt mit mir Spott.
Wer ich
auch bin, Du kennst mich, Dein bin ich, o Gott!

Liebe Gemeinde, Weihnachten macht Mut, uns offen und schonungslos
anzuschauen. Wer bin ich? Woher komme ich? Was sind meine Wurzeln? Wo liegen
meine Stärken, wo habe ich festen Boden unter den Füßen? Heute
kann ich das Wagnis eingehen, mich zu fragen, wo ich stehe. Ist mein Leben
eines, das im Einklang steht mit dem, was ich denke, was ich fühle? Wohin
will ich gehen in der Zeit, die mir bleibt?

Weihnachten ist eine Herausforderung, weil jeder und jede von uns
vor Gott steht. Wir sehen dieses Kind in der Krippe an und wissen: Gott hat die
Welt nicht allein gelassen. Gott ist gar nicht verborgen, sondern Gott ist
erfahrbar. Ja, ich glaube, dass die Engel, die den Hirten begegnet sind, mit
denen Maria sprach und die auch nach dem Tode Jesu die Jünger ausgesandt
haben, dass diese Engel uns berühren und uns fragen: Was willst du mit
deinem Leben. Weihnachten ist auch eine Zeit des Trostes, liebe Gemeinde. Wir
können vor Gott nämlich auch sagen: Das ist mir nicht gelungen. Da
habe ich große Fragen. Ich weiß nicht, wohin ich gehe. Anderen bin
ich wieder nicht gerecht geworden. Auch gegenüber meinen eigenen
Ansprüchen habe ich versagt. Das soll neu werden. Ich bin einsam. Hilf
mir, ich habe Angst.

Liebe Gemeinde, wenn wir Weihnachten von allem Kitsch entzerren
könnten, wenn wir Weihnachten frei machen könnten von all den
Verpackungen, unter denen es steckt, dann könnte es für uns eine
Befreiung sein. Freiheit bedeuten von allen Bindungen dieser Welt, weil wir nur
Gott gegenüber verantwortlich sind. Das „nur“ ist allerdings
eine Untertreibung. Weil vor Gott verantwortlich sein heißt, dass Sie und
ich, dass du und ich unser Leben bloßlegen und angucken, schonungslos.
Und dann ist Weihnachten keine süße Soße, sondern ein Trost,
wenn ich einsam bin, krank, allein und versagt habe. Und eine Ermutigung, dass
mein Leben Sinn macht, dass ich neue Wege finden kann, auch wenn manches
hoffnungslos erscheint.

Weihnachten ist eine Friedensbotschaft. „Friede sei mit
euch“ das ist die Visitenkarte Jesu von Anbeginn an in seinem Leben.
Diesen Frieden vermitteln die Engel, die ihn ankündigen, und diesen
vermittelt ganz zum Ende der Evangelien auch der Auferstandene: „Friede
sei mit euch“. Friede sei mit euch heißt für mich, dass ich
einen Einklang finden kann zwischen meiner äußeren Fassade und dem,
was ich bin, wer ich wirklich bin. Friede sei mit euch heißt, dass ich
mit meinen Kindern und Eltern, mit meinen Freundinnen und Freunden, mit
Bekannten offen sein kann, über Fehler und Schwächen sprechen kann
und mich auch öffnen kann dafür, dass ich vielleicht die
Trösterin oder der Tröster bin, der starke Arm, den manche brauchen.
„Friede sei mit euch“, das gilt auch für unser Land. Ich
wünsche mir, dass Menschen in unserem Land erkennen, dass es Heimat werden
kann für Schwarze und Weiße, für Schwache und Starke, dass eine
Solidargemeinschaft neu entsteht, die ein gesellschaftliches Gewebe miteinander
erzeugt wird, das Kraft ausströmt und Halt für viele. Für die
Familien, die keine Lobby haben. Für die Kinder, die Angst vor Weihnachten
kennen, weil es Krach gibt und Schläge. Ich denke an die jungen
Männer in den Justizvollzugsanstalten, die allein sind und Orientierung
brauchen. Ich denke an die Mütter, die sich aufopfern und doch keinen
Ausweg sehen, von denen jede vierte als Alleinerziehende auf Sozialhilfe
angewiesen ist. Ich denke an die Alten, die sich einsam und abgeschoben
fühlen. An die, die allein leben und nicht dem Image des coolen Single
entsprechen.

Und es geht um Frieden auf dem ganzen bewohnten Erdkreis. Wir
verknüpfen uns heute in der Sehnsucht nach Heil und Frieden mit denen, die
hungern auf dieser Welt. Denen, die Opfer von Gewalt und Krieg und
Ungerechtigkeit sind. Uns allen ist heute der Heiland geboren. Deshalb wenden
wir uns von anderen nicht ab und denken nur über uns selbst nach. Deshalb
wenden wir uns anderen zu: wir sind gemeinsam Gottes Kinder, das lernen wir von
Gottes Kind.

Den aufrechten Gang lehrt die Geschichte von Weihnachten. Den
Hirten, den Gelehrten aus dem Ausland, der schwangeren Frau, dem verunsicherten
Mann, ihnen wird damals wie heute gesagt: Du bist gemeint. Du bist von Gott
gewollt.

Weihnachten ein Geschichte von Trost und Ermutigung, von Liebe und
von aufrechtem Gang, von Gemeinschaft und Mut und Widerstand. Liebe Gemeinde,
gehen Sie in diese Heilige Nacht und nehmen Sie etwas mit von dem Jubel der
Engel, von dem Jubel der Hirten. Das kann uns erfüllen, und das kann uns
tragen. Gott kommt in die Welt. Gott will dich und will mich. Gott will aus
unserem Leben Gutes machen und uns Frieden zusagen als Einzelne, als Land, als
Welt. Was kann Besseres für diese Welt geschehen, als dass Gott zur Welt
kommt und uns sagt: „Friede sei mit euch“.

Amen.

Landesbischöfin Dr. Margot Käßmann,
Hannover
E-Mail:
landesbischoefin@evlka.de


de_DEDeutsch