Johannes 9, 35-41

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Johannes 9, 35-41

„Sehend blind?“

35 Jesus hörte, daß die Pharisäer den geheilten Blinden
hinausgestoßen hatten, und als er ihn traf, sagte er zu ihm: Glaubst
du an den Menschensohn? 36 Der Mann antwortete: Wer ist das, Herr? (Sag
es mir,), damit ich an ihn glaube. 37 Jesus sagte zu ihm: Du siehst
ihn vor dir; er, der mit dir redet, ist es. 38 Er aber sagte: Ich glaube,
Herr! Und er warf sich vor ihm nieder. 39 Da sprach Jesus: Um zu richten,
bin ich in diese Welt gekommen: damit die Blinden sehend und die Sehenden
blind werden. 40 Einige Pharisäer, die bei ihm waren, hörten
dies. Und sie fragten ihn: Sind etwa auch wir blind? 41 Jesus antwortete
ihnen: Wenn ihr blind wärt, hättet ihr keine Sünde. Jetzt
aber sagt ihr: Wir sehen. Darum bleibt eure Sünde.

Jesus hat einen Blinden geheilt; nicht einfach einen, der durch Krankheit
oder durch andere Umstände seine Sehkraft verloren, eingebüßt
hätte. Jesus heilte einen, der von Geburt an, gewissermaßen
von Natur aus, blind war. Über die sozialen Lebensbedingungen von
Blinden in der Antike müssen wir uns nicht lange verbreiten; sie
waren miserabel. Die Betroffenen lebten vom Betteln, mehr schlecht als
recht. Doch das ist nicht das Thema unseres Textes. Vielmehr ist sein
Thema die Heilung eines Blinden und die Wirkung, die diese Heilung auf
andere hatte. In einer ersten Runde waren die Leute mit dieser Heilung
nicht zurechtgekommen. Der jetzt sehend und quietschvergnügt herumlief,
war das der Blinde? Oder sah er ihm nur ähnlich? Man fragte ihn,
und er antwortete, wie er sein Augenlicht gewonnen hatte. Dahinter tauchte
die Frage nach dem auf, der ihn geheilt hatte. Wer war das? Wo war er
jetzt? Viele offene Fragen, die Anlaß waren, die Sache vor die
religiöse Instanz zu bringen.

Hier kam heraus, daß der, der die angebliche Heilung vorgenommen
hatte, einen Frevel begangen hatte, ein unlauterer Mensch sein mußte,
einer, der nicht von Gott sein konnte. Denn er hatte die Heilung an
einem Sabbat vorgenommen. Die Dramaturgie spitzte sich zu, indem auch
noch die Eltern eingeschaltet wurden; aber die zogen sich aus der Affäre.
Ihr Sohn sei alt genug; er könne selbst Rede und Antwort stehen.
Sie fürchteten, aus der Synagoge exkommuniziert zu werden. Die
nächste Runde, gewissermaßen wie beim Boxen, war an den geheilten
Blinden gegangen. Da die Pharisäer die Runde bewußt hoch
angesetzt hatten – „gib Gott die Ehre!“ -, bekamen sie es
exakt deshalb vom Geheilten besonders dick serviert. Noch mal darüber
zu reden, wie die Heilung geschehen sei, nein, das stünde nicht
mehr an. Wertungen stünden an, Wertungen, die zeigten, daß
die einen, die Pharisäer, nicht sehend waren, während der
andere, der Geheilte, sah. Für sie war Jesus ein Sünder; Klappe
zu. Mehr war zu ihm nicht zu sagen. Für den Geheilten aber war
Jesus mehr. Die Runde hatte damit geendet, daß sie den geheilten
Blinden ausstießen, aus der Synagoge exkommunizierten. Er gehörte
nicht mehr dazu. Wohin sollte er jetzt gehören?

Es kommt, nach dem Hinauswurf, zu einer zweiten Begegnung zwischen
Jesus und dem Geheilten. Er, der bereits in dem „Verhör“
– denn etwas anderes war es nicht – sich entschieden widersetzt hatte,
gemeinsam mit den Pharisäern in Jesus einen gottlosen Gesetzesbrecher
zu sehen, der sich über Gesetz und Ordnung hinwegsetzte, der Geheilte
also, der in Jesus einen Propheten sah und zu dieser seiner Überzeugung
stand, begegnet Jesus ein zweites Mal. Die Frage, die Jesus stellt,
macht deutlich, worin die Heilungserzählung ihren Brennpunkt hat:
nicht im Geheilten selbst, richtiger gesagt, nicht in der Tatsache seines
gewonnenen Augenlichts, sondern in Jesus bzw. im Glauben an ihn. „Glaubst
du an den Menschensohn?“, so wird der Geheilte von Jesus gefragt.
Der stöhnt nicht und lehnt nicht etwa ab mit der Bemerkung, was
nun diese Frage solle. Schließlich, so hätte er sagen können,
sei er mit dem Geschenk seines gewonnenen Augenlichts so randvoll beschäftigt,
daß er darüber hinaus im Augenblick für nichts anderes
Interesse habe. Er hat Interesse, er ist offen für das, was von
Jesus kommt. Die Antwort, die er gibt, könnte von uns stammen,
zumindest in ihrem ersten Teil: „Menschensohn? Wer ist das?“
In seiner Frage schwingt aber eben keine achselzuckende Gleichgültigkeit
mit, sie hat keinen abwehrenden Sinn, gewissermaßen im Sinn von,
„Menschensohn? Wer soll das schon sein? Das interessiert mich nicht
weiter.“ Nein, der Geheilte packt zu. Der griechische Text unseres
Evangeliums macht das deutlicher als die deutsche Übersetzung.
Der Geheilte antwortet nämlich mit einem „Und“, mit einem
neugierigen, gespannten „Und“. „Und, wer ist das, Herr?“
So, wie wir auch manchmal in unseren Gesprächspartner dringen und
sagen: „Und, nun sag‘ schon…“ „Und, wer ist das, Herr?
Damit ich an ihn glaube.“ Die Antwort Jesu ist kurz und knapp und
sie beginnt ihrerseits mit diesem zupackenden bzw. sich preisgebenden
„Und“: „Und du siehst ihn vor dir; und der, der mit dir
redet, der ist es.“ Den Geheilten hält es nicht mehr. Er,
der bisher schon eine Anfangsahnung, eine Anfangsüberzeugung hatte,
nimmt die Selbstaussage Jesu, der Menschensohn zu sein, unverzüglich,
ohne Zögern an. Er, der aus der Synagoge Ausgestoßene, gewinnt
wieder Boden in der Zugehörigkeit zu dem, vor dem er sich niederwirft:
„Ich glaube, Herr.“

Wir müssen nicht meinen, daß der Geheilte in diesem Augenblick
dem Wesensgeheimnis Jesu umfassend auf die Spur gekommen sei, daß
er gewissermaßen in diesem Augenblick ein theologisches Examen
über die Christologie mit Bestnote bestanden hätte, aber immerhin
bricht sich in ihm etwas Bahn, was wir in unserer Glaubenssituation
zu aktualisieren haben: Der Geheilte steht für ein persönliches
Verhältnis zu Jesus. Sein Glaube ist nicht mehr sozialgestützt
durch andere, er meint ein unmittelbares, persönliches Bezogensein.
Hier blitzt etwas auf, was sich in der nachösterlichen Glaubenssituation
in der Glaubensformel verdichtete: „Wenn du mit deinem Munde bekennst:
‚Jesus ist der Herr‘ und in deinem Herzen glaubst: ‚Gott hat ihn von
den Toten auferweckt‘, so wirst du gerettet werden“ (Röm 10,9).
Der Bezug der Römerbriefstelle zu unserem Text liegt nicht unmittelbar
auf der Hand, aber er läßt sich ungekünstelt herstellen.
Beide Aussagen signalisieren, worauf es im Glauben ankommt. Das Bekennen
mit dem Mund ist wichtig und gut, aber es muß aus dem Herzen kommen.
Damit meine ich jetzt nicht, aus unserer Tiefe, aus letzter Ehrlichkeit.
Man kann darin auch das andere mitschwingen hören, daß der
Glaube, sosehr er immer von Gott getragen, gestützt und ermöglicht
ist, gleichwohl unsere, meine persönlichen Züge annimmt, von
mir aus den Erfahrungen meines Lebens, meiner Biographie reformuliert
wird und immer wieder veränderte Gestalt annimmt. Man spricht heute
gern von der individualisierten Religiosität, von der gesellschaftstrukturell
bedingten Individualisierung auch der Religion. Das ungeschützte,
nicht weiter sozial abgesicherte Bekenntnis des Geheilten, „ich
glaube, Herr“ – hat es nicht Berührungspunkte mit unserer
Glaubenssituation? Es ist eben wohl nicht so, daß alles um uns
herum uns nur dazu einlädt, wortlos und übermächtig,
das mit Glauben und Religion sein zu lassen. Die Zeit der religiösen
Individualisierung stellt auch einen Anreiz an uns zur Verfügung,
den weniger sozialgestützten, wohl aber von Gott gestützten
persönlichen Glauben an Jesus bzw. an Gott zu wagen.

Das Bekenntnis des Geheilten ist in ein bestimmtes Szenario gestellt.
Einige Pharisäer sind Zeugen des Vorgangs. Es sei, so sagt Jesus,
seine Aufgabe, Blinde sehend und Sehende blind zu machen. Daß
hier nicht von der somatischen Blindheit der Augen die Rede ist, liegt
auf der Hand. Von Blindheit im übertragenen Sinn ist die Rede,
und zwar von der Blindheit, Jesus in den wahren Zusammenhängen
seines Lebens und seiner Sendung nicht erkennen zu können. Die
Pharisäer hören den Vorwurf an ihre Adresse heraus. Ihre Reaktion
ist weniger eine Frage als eine Entrüstung: „Sag bloß,
wir seien blind“, bzw. „Nicht daß du meinst, wir seien
blind.“ In ihrem Ton liegt Arroganz. Sie werden von Jesus nicht
erreicht. Sie wissen es doch besser. Die Antwort Jesu ist in ihrer inneren
Dialektik gewissermaßen als ein Stolperstein gedacht: „Daß
ihr blind seid, ist eine ausgemachte Sache. Nur sagt und denkt ihr,
ihr würdet sehen, ihr hättet die wahren, gültigen Einsichten
in das Leben, in den Willen Gottes. Das macht eure Lage so prekär.“
Darum bewegt sich bei ihnen nichts, darum bleibt ihre „Sünde“.

Auch dies kann noch einmal auf uns zielen. Die Tatsache der individualisierten
Religiosität von vorhin ist das eine. Sie kann auf der anderen
Seite zu einem Zusammenrücken religiös verängstigter
Leute führen, die sich in den Bestand ihrer Glaubensüberzeugungen
verkriechen, einigeln, sich mit ihm ummanteln, so daß sie die
Fähigkeit, mit anderen zu kommunizieren, sich auszutauschen, verlieren.
Letztlich, weil sie meinen, es besser zu wissen. So verständlich
und plausibel bei der heutigen gesellschaftlichen Großwetterlage
eine solche Haltung wäre – sie müßte sich von unserem
Text fragen lassen, ob sie nicht „sehend blind“ sei. Der geheilte
Blinde sah, er sah mit den Augen des Leibes und mit den Augen des Glaubens.
Tun wir es ihm gleich.

Prof. Dr. Stefan Knobloch
Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Fachbereich Katholische Theologie
Saarstraße 21 D-55099 Mainz
Tel./Fax: 0 61 31 / 39 22 743
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