Johannes 9,1-7

Johannes 9,1-7

 

 

Göttinger
Predigten im Internet

hg. von Ulrich
Nembach und Johannes Neukirch 


 

8. Sonntag nach Trinitatis, 05. August
2001

Predigt über Johannes 9,1-7 von
Heinz Janssen


 

Predigttext Johannes 9,1-7 (nach Martin Luther, Revision
1984)
1 Und Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren
war.

2 Und seine Jünger fragten ihn und sprachen:

Meister, wer hat gesündigt, dieser oder seine Eltern, daß
er blind geboren ist?

3 Jesus antwortete: Es hat weder dieser gesündigt noch seine Eltern,

sondern es sollen die Werke Gottes offenbar werden an ihm.

4 Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat,

solange es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann.

5 Solange ich in der Welt bin, bin ich das Licht der Welt.

6 Als er das gesagt hatte, spuckte er auf die Erde, machte daraus einen
Brei und strich den Brei auf die Augen des Blinden.

7 Und er sprach zu ihm: Geh zum Teich Siloah – das heißt übersetzt:

gesandt – und wasche dich! Da ging er hin und wusch sich und kam sehend
wieder.

Liebe Gemeinde!

„Jesus ging vorüber und sah einen Menschen, der blind geboren war“
– das Evangelium von der Heilung eines Blindgeborenen nimmt uns mit auf
Jesu Weg zu den Menschen. Jesus sah einen Menschen – das könnte jede
und jeder von uns sein. Damals war es ein von Geburt an behinderter, blinder
Mensch. Bis heute gibt es wie damals auch Blindheit im übertragenen
Sinn.

Bedenken wir zunächst: Eltern haben ein behindertes Kind. Wie schwer
muss es für sie sein, diese Behinderung anzunehmen. Ist es nicht verständlich,
wenn sich diese Eltern fragen: Womit habe ich/haben wir das verdient? Von
solchen Familien erfahren wir: eine Familie mit einem behinderten Kind
ist eine auch behinderte Familie, weil sie immer wieder Hindernisse überwinden
muss. Sie kann nicht das sogenannte normale Leben führen wie andere,
davon fühlt sie sich und ist tatsächlich oft wie ausgegrenzt.
Die Behinderung betrifft alle, als Sorge, als Aufgabe, als tägliche
Herausforderung.

Und wie mag es dem Menschen gehen, der blind zur Welt kommt? Wie nimmt
er die Welt wahr, um zu verstehen? Er muss seine anderen Sinne – tasten,
fühlen und hören – viel stärker nutzen, weil Menschen wie
er eine ganz wichtige Sprache nicht wahrnehmen können: die Körpersprache,
die so viel über jeden Menschen aussagt. Er ist auf die „Zwischentöne“
angewiesen. Er kann lernen zurechtzukommen. Aber quält nicht auch
ihn die Frage: warum gerade ich?

Orgelchoral zu EG 74,4 Bleib bei uns, Herr, verlass uns nicht, führ
uns durch Finsternis zum Licht

I. Entlastend die Antwort Jesu auf die Frage, wer angesichts der Krankheit
gesündigt habe, der Behinderte oder seine Eltern: Es hat weder dieser
gesündigt noch seine Eltern. Jesus weist den Zusammenhang von Sünde
und Krankheit entschieden zurück und setzt einer nicht nur damals
gängigen Meinung entgegen: „es sollen die Werke Gottes offenbar werden
an ihm“. Diese Worte Jesu wären allerdings gründlich missverstanden,
wenn wir heraushören, Gott lasse einen Menschen behindert zur Welt
kommen, nur damit Jesus ihn heilen und sich damit – und Gott selbst – profilieren
kann. Das Wunder liegt nicht in der Vorherbestimmung, sondern in dem Augenblick
der Begegnung, darin, dass Jesus den Menschen, der ihm blind begegnete,
sah, ihn wahrnahm und nicht an ihm vorbeiging. Jesus erkennt: da ist jemand,
der Hilfe braucht. Und er weiß um das Gebot der Stunde: „es kommt
die Nacht, da niemand wirken kann“, sagt Jesus, und: „solange ich in der
Welt bin, bin ich das Licht der Welt“. Die Nacht darf nicht die Oberhand
gewinnen. Jesu Licht muss leuchten.

Orgelchoral zu EG 72,1 O Jesu Christe, wahres Licht

Die Werke Gottes werden auch heute noch offenbar, wenn wir „gegen allen
Augenschein“ glauben, darauf vertrauen können, dass in den dunkelsten
Lebenssituationen Gott bei uns ist und uns nicht allein lässt. Die
Werke Gottes werden an uns offenbar, und Gott wirkt in uns seine Werke,
wenn uns die Leiden der anderen Menschen samt allem Leid der Welt berühren,
wir sie vor Gott bringen und mit ihm teilen.

II. Jesus wendet sich dem blind geborenen Menschen zu und handelt wie
ein Wunderheiler, indem der dem Blinden einen aus Erde und Spucke gerührten
Brei auf die Augen streicht. Eigenartig die Prozedur Jesu. Genügte
es nicht, dass die Augen des Blinden schon seit Geburt verschlossen waren,
muss Jesus sie nocheinmal mit Erde gleichsam verschließen? Haben
wir es jetzt mit einer doppelten Blindheit, einer inneren und äußeren,
zu tun?

Jesus fordert den Erblindeten dann aber überraschend auf, den (heilenden)
Erdschlamm, den er ihm auf die kranken Augen gestrichen hatte, im Teich
Siloah abzuwaschen. Jesus lässt den Blinden selbst tätig werden,
er muss sich auf den Weg machen. Der Blinde konnte Jesus nicht sehen, aber
er hörte ihn, und er tat, was er gehört hat: er folgte der Aufforderung
Jesu. Dieses Sich-auf-den-Weg-machen des in der Blindheit noch Gefangenen
brachte ihm die Heilung. Der sich nach dem Licht sehnende Mensch muss die
Chance seines Lebens ergreifen. Die göttliche Gnade des Heils und
der menschliche Glaube sind hier aufs engste miteinander verbunden, treten
in eine unmittelbare Beziehung. Der Name des Teiches Siloah, an dem der
Blinde seine „Erleuchtung“ hatte, heißt auf deutsch – wie ausdrücklich
im Bibeltext vermerkt wird – „gesandt“. Dadurch wird hervorgehoben: der
Geheilte soll seine (Gottes-) Erfahrung nicht für sich behalten. Gott
sendet ihn in die Welt, ins Leben, damit es auch für andere Tag wird.
Leuchtet damit bereits eine Symbolik auf, die in das Leben eines jeden
Menschen greift, der gesunde Augen hat und meint sehen zu können?

Orgelchoral zu EG 161,3 O du Glanz der Herrlichkeit, Licht vom Licht,
aus Gott geboren

III. An dieser Stelle beginnt die Bedeutung für diese andere Art
von Blindheit, die in unserer Bibelgeschichte anklingt, besonders in der
Auseinandersetzung in den frommen Kreisen, die sich an diese Heilung anschließt.
Die Auseinandersetzung mündet in die Frage der Pharisäer: „Sind
wir denn auch blind?“ Gut, wenn auch wir (wenn wir gesunde Augen haben)
uns dieser Frage stellen. Denn das gibt es tatsächlich: wir können
sehenden Auges blind sein. Antoine Saint-Exupéry lehrt uns in seiner
Erzählung „Der kleine Prinz“: „Man sieht nur mit dem Herzen gut. Das
Wesentliche ist für unsere Augen unsichtbar“. Hat vielleicht auch
Jesus diese Wahrheit mit dem Auftragen des Erdbreies verdeutlichen wollen,
der ja noch mehr von der Außenwelt abschirmte und eher den Blick
nach innen lenkte?

Sind wir die blinden Pharisäer auf den Kirchenbänken? Wer
möchte sich so etikettieren lassen? Fällt es uns aber nicht selten
schwer, hinzuschauen, wo es nötig ist? Und manchmal schauen wir mit
Herzklopfen weg, stecken den Kopf in den Sand nach der Devise „was ich
nicht weiß, macht mich nicht heiß“! Wie oft hat die Kirche
weggeschaut? Wieviele Christen/-innen schauen heute weg, wenn andere Menschen
in Gefahr sind, ihnen ihre Würde und ihr Leben genommen wird? Sogar
der Glaube kann blind machen, daran erinnern die Kriege, die unter Missbrauch
des Namens Gottes geführt wurden und werden, auch die Kleinkriege
in unserer Gemeinde und Gesellschaft.

Kennen wir das nicht an uns selbst? Hinschauen kostet Zeit, Mühe,
Zivilcourage, Stehvermögen. Es ist nicht einfach, wenn ich sehe, dass
ich mich einmischen muss, z.B. wenn in der Nachbarwohnung ein Kind schreit
und sich nicht beruhigt oder ein Geschrei zwischen Erwachsenen zu hören
ist, wenn ich Bedrohung merke und meine (Nachbarschafts-) Hilfe gefordert
wird. Werden wir uns von fremdem Leid bewegen lassen und etwas unter-nehmen?
Wünschen wir uns zuweilen nicht selbst, dass andere uns wahrnehmen
und zur Seite stehen, wenn wir Hilfe brauchen? Wer wartet in solchen Lebenssituationen
nicht auf ein Wunder, z.B. in schwerer Krankheit, dass ich wieder gesund
werde. Es gibt bis heute dieses Wunder. Wir können es nicht erklären,
wenn der eine Mensch geheilt wird und der andere an der Krankheit stirbt.
Und wer wünscht nicht den acht Millionen Behinderten in unserem Land
und den Abermillionen auf der ganzen Welt, dass für sie das ersehnte
Wunder geschieht!

Meditative (Orgel-) Musik

IV. Gibt es auch Wunder für all die Menschen, die meinen, sehend
zu sein? Ja – und ob! Es ist ein Wunder, wenn Fremde nicht als bedrohlich
empfun-den werden, sondern als eine menschliche Bereicherung. Es ist etwas
Wunderbares, wenn uns von irgendwoher Hilfe kommt, mit der wir nicht gerechnet
haben. Nicht zu vergessen die täglichen kleinen Wunder, für die
wir oft blind sind. Das größte Wunder aber ist, wenn wir mit
Jesus den Mut fin-den, so im Vertrauen auf Gott zu leben, wie Jesus es
uns vorgelebt hat. Dann werden die Werke Gottes offenbar, und es hat nicht
die Nacht die Macht über uns, sondern der Tag bestimmt uns und mit
ihm das Licht, das uns hinweist auf Jesus, den Christus Gottes. In dem
Namen Jesus ist das ganze Wollen Gottes, sein Wohlwollen und sein Gott-mit-uns-und-für-uns
umschrieben. Jesus, hebräisch Jeschua, bedeutet: Gott hilft, rettet,
heilt. Von ihm erleuchtet werden wir für andere zum Licht und bringen
die Frucht, auf die Gott voller Hoffnung wartet. So sind wir die Kirche
Jesu Christi – als geheilte, sehende und heilende Gemeinschaft, in der
wir einander wahrneh-men, achtsam miteinander umgehen und immer wieder
‚ein Licht anzünden, wo die Finsternis regiert‘.

„Wir müssen die Werke dessen wirken, der mich gesandt hat, solange
es Tag ist; es kommt die Nacht, da niemand wirken kann. Solange ich in
der Welt bin, bin ich das Licht der Welt“, mit diesen Worten hat sich Jesus
an seine Jünger gewandt, die das Schicksal jenes von Geburt an blinden
Menschen nicht unberührt ließ. Die Jünger erlebten, sahen
es mit eigenen Augen, wie Jesus in das Dunkel der Not trat und wie es für
den Menschen, der sich nach dem Licht sehnte, hell wurde. Es ist die Erfahrung,
wie sie am Anfang des Johannesevangeliums ausgesprochen ist: „das Licht
scheint in der Finsternis“. Der Geheilte findet, wie wir später in
der biblischen Geschichte noch erfahren, das Vertrauen zu Jesus, den Glauben,
der ihn die Welt und alles Leid mit anderen Augen sehen lehrt. „Kyrie,
ich glaube“, bekennt er, und er erkennt in Jesus selbst das Licht, das
er zum Leben braucht. In dem Lichtschein, der von Jesus ausgeht, ruft uns
der Wochenspruch zu (Epheser 5,8f.): „Lebt als Kinder des Lichts; die Frucht
des Lichts ist lauter Güte und Gerechtigkeit und Wahrheit“. Jesus,
das Licht der Welt – in ihm hat Gott das Leben aufleuchten lassen, und
‚in seinem Licht sehen wir das Licht‘.

Amen.

Exegetisch-homiletische Anmerkungen

Die homiletische Schwierigkeit und zugleich Herausforderung ist die
Doppelbödigkeit des Bibeltextes, eine besondere Eigenart nicht allein
des johanneischen Kerygmas. Da ist auf der einen Seite von der (Wunder-)
Heilung eines von Geburt an blinden Menschen durch Jesus die Rede (9,1-7).
Auf der anderen Seite – wie die an die Heilung sich anschließende
und in der Predigt nicht außer Acht zu lassende Auseinandersetzung
(9,8-41) zeigt – von einem tieferen Sehen, von dem Jesus redet, das ihn
als den Menschensohn, das Licht der Welt erkennt und von dem gesunden Augenlicht
unabhängig ist – weil es dies gibt, dass wir sehenden Auges blind
sein können. „Man sieht nur mit dem Herzen gut“, heißt es in
der Erzählung „Der kleine Prinz“ von Antoine Saint-Exupéry.
„Sind wir denn auch blind?“ (9,40) – diese Frage der Pharisäer am
Ende der sich an die Heilung anschließenden Auseinandersetzungen
zu übergehen, würde die oben genannte Doppelbödigkeit des
Bibeltextes außer Acht lassen und damit etwas ganz Bedeutendes in
der Erzählung des Heilungswunders verfehlen, nämlich die „symbolische
Einkleidung inwendiger Erfahrungen“ (W.Stählin, Freiheit und Ordnung.
Symbolon, 4.Folge, Stuttgart 1980, S.272, vgl. W.Klaiber, Die Auf-gabe
einer theologischen Interpretation des 4.Evangeliums, ZThK 82 (1985), S.300-324.
– K.Wengst, Bedrängte Gemeinde und verherrlichter Christus, München
1992). – Die in die Predigt integrierte (Orgel-) Musik – die Orgelchoräle
nehmen Aspekte des Bibeltextes auf – möchte den Hörenden an gewichtigen
Stellen ein Innehalten, gleichsam ein Sehen nach innen, ermöglichen,
Zeit zum Nachdenken, zur kreativen „Seelenarbeit“.

Eingangsgebet (mit Worten von Dietrich Bonhoeffer):

Gott, zu Dir rufe ich in der Frühe des Tages.

Hilf mir beten und meine Gedanken sammeln zu Dir;

ich kann es nicht allein.

In mir ist es finster, aber bei Dir ist das Licht.

Ich bin einsam, aber Du verlässt mich nicht.

Ich bin kleinmütig, aber bei Dir ist die Hilfe;

ich bin unruhig, aber bei Dir ist der Friede;

in mir ist Bitterkeit, aber bei Dir ist die Geduld;

ich verstehe ich Deine Wege nicht,

aber Du weißt den Weg für mich.

(Kyrie eleison)

Tagesgebet (nach Agende der EKKW):

Gott, der Du am ersten Tag der Schöpfung das Licht geschaffen
hast,

in deinem Licht wachsen Gerechtigkeit, Gemeinschaft, Liebe und Frieden.

Wir bitten Dich: Sende dein Licht in alle Dunkelheiten unseres Lebens,

dass wir als Kinder des Lichtes leben und auch in das Leben anderer
Menschen Licht bringen. Durch Christus Jesus, Deinen Sohn, der mit Dir
und dem Heiligen Geist lebt und regiert zu allen Zeiten bis in Ewigkeit.

Psalmvorschlag: Psalm 36,6-10 (EG 719) Gott, Deine Güte
reicht, so weit der Himmel ist

Evangelium: Matthäus 5,13-16 bzw. Johannes 9,1-7 (= Predigttext)

Epistel: Jesaja 58,7-10

Liedvorschläge: EG 455 Morgenlicht leuchtet – 272 Ich lobe meinen
Gott – 432 Gott gab uns Atem – 440 All Morgen – 503,13 (Geh aus mein Herz)
-(in Verbindung mit dem Hl. Abendmahl) 222 Im Frieden dein

Heinz Janssen,

Pfarrer an der Providenz-Kirche zu Heidelberg und Lehrbeauftragter 

für Altes Testament an der J.W.Goethe-Univerität zu Frankkfurt/M.,

Evang. Pfarramt Providenz

Karl-Ludwig-Str.8a, 69117 Heidelberg

providenz@aol.com

 

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