Kohelet 4, 10

Kohelet 4, 10

Liebe Gemeinde,

wer möchte nicht gerne gesund sein, wenn er krank ist, und wer
möchte das nicht um so mehr, wenn er ein chronisches, ein konstitutionelles
Leiden hat, vielleicht sogar eines, das ihn schon ein Leben lang begleitet
hat, mit dem er geboren und/oder aufgewachsen ist?!

Es ist ja wohl mitnichten so, daß man letzteres auf die Dauer
nicht mehr spüren, es gar nicht mehr wahrnehmen würde. Zumal
dann, wenn man dauernd die Gesunden um sich herum hat und ihre mindestens
äußerliche Intaktheit sieht, spürt, wie man auf deren
Funktionstüchtigkeit angewiesen ist. Da ist ja die eigene Eingeschränktheit
nicht zu übersehen oder zu vergessen. Sie bleibt doch ein Stachel
im Fleisch, auch wenn dieser nicht immer in der gleichen Schärfe
wahrgenommen wird. Aber ganz los wird man ihn wohl nie.

Bei unserem Kranken in der Geschichte bekommt das ganze noch dadurch
eine besonders erschwerende Note, daß er ständig mitansehen
muß, wie andere von ihren Leiden befreit und in die Lage versetzt
werden, wieder ein normales Leben zu führen, er aber je und je
hintendran bleibt. Er ist einfach mit seiner Behinderung nicht schnell
genug, um einmal vor den anderen in das Heilwasser zu gelangen und in
es erlösend einzutauchen. Aber es ist nicht nur seine Behinderung
und die aus ihr folgende Tatsache, daß er zu langsam und zu schwerfällig
ist, um rechtzeitig an die Quelle des Lebens zu gelangen und sie wohltuend
und heilend zu erreichen, die ihm zu schaffen macht, nein, es ist auch
der mindestens ebenso harte, vielleicht noch härtere, evtl. sogar
entscheidende Umstand, daß er mit dieser Ausweglosigkeit allein
ist: „Herr, ich habe keinen Menschen…“ Will heißen,
nun bin ich schon mit dieser massiven Krankheit geschlagen und vom normalen
Leben der Menschen abgeschnitten, nun habe ich schon diese eklatanten
Lebensminderungen zu ertragen, nun ist mir schon diese Schwere auferlegt,
38 Jahre lang, die mich über alle Maßen bedrückt, aber
damit nicht genug, es ist auch noch so, daß ich mit dieser Last
und allen ihren Folgen ganz auf mich selbst zurückgeworfen bin,
daß ich einen doppelten Nachteil zu verkraften habe und damit
chancenlos bin, diesen Zustand je zu ändern, daß sich mithin
meine Lage als eine unabänderliche darstellt. Meine Isolation vom
Leben der Menschen ist eine nahezu vollkommene. Und das schmerzt insofern
in einer unausdenkbaren Weise, weil sich diese Unabänderlichkeit
auf dem Grunde einer ständig theoretisch möglichen Veränderung
erhebt. Das Wasser der Heilung ist ja so nah! Greifbar nah, und doch
so unendlich fern! Ich habe es ständig vor mir, es springt mir
in die Augen, und doch entzieht es sich meinem Zugriff, ja demonstriert
mir duch seine Nähe mein unwiderrufliches Gebanntsein in eine Ferne
vom Leben, in ein Abgeschnittensein, das sich jenseits der Hoffnung
einzurichten gezwungen ist. Es ist wie eine permanente Folter! Ich bin
meinem Schicksal scheinbar unumkehrbar ausgesetzt, zu spät und
allein im Angesicht der Erlösung der anderen. Gibt es Schlimmeres???
Erinnert uns das nicht an die Qualen des Tantalus, der -bis zum Hals
im Wasser stehend- dennoch an ihm seinen unbändigen Durst nicht
stillen kann, ebensowenig wie seinen Hunger an den je und je zurückschnellenden
und sich so seinem verlangenden Zugriff entziehenden Obstbaumzweigen
über ihm.

Das ist die Lage, in der ihn Jesus antrifft und ihn heißt, aufzustehen,
sein Bett zu nehmen und gesund hinwegzugehen.
Nun ja, das läßt man sich nicht zweimal sagen!
Daß diese Geschichte daraufhin noch ein Nachspiel hat, ihr gleichsam
in unserem Text noch eine zweite, nachgeschobene Geschichte folgt, muß
uns hier nicht weiter beschäftigen, denn diese Nachgeschichte erweitert
unser eigentliches Thema in dem auch aus den ersten drei Evangelien
bekannten Sinne, indem es die Wundergeschichte zu einem Streitgespräch,
zu einer Apologie, einer Auseinandersetzung mit den jüdischen Autoritäten,
will heißen zu einer Sabbatgeschichte umbiegt. Die Sabbatfrage
ist aber nicht nur für uns heute in dem historischen Sinn nicht
mehr akut, sie ist auch damals schon sekundär eingetragen, um die
Wundergeschichte anderen Interessen dienstbar zu machen. Sie soll die
Feindschaft der Juden gegen Jesus verständlich machen und sein
späteres Geschick begründen, auch die urchristliche Freiheit
gegenüber der strengen jüdischen Sabbatobservanz legitimieren.
Das kann für uns hier außen vor bleiben.

Bleiben wir also bei unserem Kranken bzw. Geheilten. Was sagt uns diese
Geschichte?
Gewiß wurde sie damals in erster Linie erzählt, um die Größe
und Besonderheit der Person Jesu, seine gottmenschliche Kraft und Macht
zu demonstrieren. Allein auf der Grundlage seines kurzen Befehlswortes:
„Steh auf, nimm dein Bett und geh hin!“ bewegen sich gleichsam
Himmel und Erde, wird das Unmögliche möglich, wird ein Zustand
der Unzuträglichkeit und Ausweglosigkeit im Nu beeendet. So sehr
also in dem Text auf den ersten Blick gesehen von dem Kranken geredet
wird, so sehr dient das doch nur der Herausstellung der Person Jesu,
ihrer herausragenden, ja überragenden Stellung. Die Schilderung
der Schwere der Krankheit und der verzweifelten Not des unbekannten
Mannes sind also nur die vordergründige Folie für die Jesuszentrierung
des Ganzen, für die Aufwertung des Mannes aus Nazareth als eines
göttlichen Menschen, als eines übermenschlichen Menschen sozusagen.
Er, der Gottmensch, ist das geheime Zentrum und der eigentliche Held
des Geschehens. So wird das gewöhnlich gesehen, und so scheint
es ja auch auf den ersten Blick zu sein.

Jesus als Wundertäter, das ist ja nun ein breiter Zug der Darstellung
der Evangelien überhaupt, ja vielleicht sogar der überragende,
jedenfalls materiell. In diese Tendenz paßt mithin unsere Geschichte
voll hinein. Und deshalb stellt sie uns auch eine generelle Frage.

Denn seien wir ehrlich: ist das für uns heute nicht eher befremdlich?
Jedenfalls dann, wenn wir vernünftige, aufgeklärte Westeuropäer
sind und keine obskuren, magiegläubigen Hinterweltler oder gar
Scharlatane oder besser noch: Schamanen, Esoteriker, Charismatiker.
Und die gibt es ja übrigens auch in Westeuropa wieder zuhauf, und
auch im Raum des christlichen Glaubens und der Kirchen sind sie zunehmend
häufiger zu finden. Ihnen genügt die vernünftige Wahrnehmung
von Gott, Mensch und Welt nicht mehr, sie brauchen wieder übervernünftig
Irrationales, Geistheilertum und spiritistische Sitzungen und solche
Dinge, sie leiden an der Moderne und meinen, diese rückwärts
kollabierend außer Kraft setzen zu können, ganz analog zu
den Fundamentalisten der verschiedensten Couleur. Da ist dann natürlich
auch die Wundergläubigkeit vergangener Zeiten wieder da, manchmal
sogar ins Absurde gesteigert und emotional hochaufgeladen. Ich brauche
das nicht näher zu konkretisieren. Wir kennen es. Auch die gefährlichen
Folgen, die das bisweilen annimmt.

Ich meine, da gilt es, nüchtern zu bleiben und auf dem Boden der
Tatsachen. Sicher mag es vieles geben, was wir nicht oder noch nicht
rational erklären können, sondern einfach hinnehmen müssen
und auch so stehen lassen dürfen. Vertrauen auf eine selbstkritische
Vernunft, die um ihre Begrenzungen weiß, und übersteigerter
Rationalismus sind etwas durchaus Verschiedenes. Aber auf keinen Fall
sollten wir irgendwelche besonderen Ereignisse, und das können
auch urplötzliche auftretende bzw. naturwissenschaftlich-medizinisch
unerklärliche, nicht logisch ableitbare Heilungen sein, zu methodisieren
versuchen oder sie zum Maßstab für den Glauben machen, gar
als Bedingung für diesen. Das ist im übrigen auch nicht biblisch,
denn dort wird ja stets der Glaube schon vorausgesetzt: „dein Glaube
hat dir geholfen“.

Daraus darf man aber umgekehrt auch nicht den Schluß ziehen,
wenn es so sei, dann müsse eben im Falle des Nichteintretens eines
Wunders der Glaube nicht groß genug gewesen sein. Hier gibt es
weder so noch so etwas abzulesen oder zu konstruieren. Sich auf Wunsch-
oder Gebeteserfüllungen zu versteifen, tut nie gut, auch sonst
im Leben nicht. Es wäre auch ein irreligiöser Akt, insofern
damit stets an Gottes Freiheit gerüttelt wird.

Im übrigen ist für den normalen Zeitgenossen der Gegenwart
einfach ein anderes Weltbild und Lebensgefühl leitend und Voraussetzung
als für die neutestamentlichen Schriftsteller. Darüber darf
man sich nicht hinwegtäuschen, sondern das muß man ernst
nehmen, alles andere wäre auch schwerlich seelsorgerlich zu verantworten.
Wir können, selbst wenn wir es wollen, nicht so einfach wieder
in eine Epoche zurückspringen, in welcher der durchschnittliche
Mensch ein ganz anderes Verhältnis zur Natur hatte, in der er auch
den Schickungen seines Lebens ganz anders gegenüberstand und sich
anonymen Mächten ausgeliefert fühlte, die wir heute ganz anders
herleiten und mit denen wir ganz anders umgehen. Wer wollte das im Zeitalter
von Gentechnologie und Präimplantationsdiagnostik ernsthaft bestreiten.
Der Mensch ist ja heute dabei, in den Prozeß der schöpferischen
Selbstorganisation ursächlich einzugreifen. Das muß -und
zwar schon allein die Möglichkeit dazu- auch unser Gottesverständnis
und Gottesverhältnis notwendig verändern, selbst wenn wir
uns das eine ganze Zeit lang zu verschleiern suchen. Und das ist ja
auch in der Vergangenheit schon geschehen. Die Aufrichtung von Tabus
macht hier gar keinen Sinn, ja sie ist kontraproduktiv.

Und das bedeutet für das Verständnis unseres heutigen Predigttextes,
daß für uns ein solcher Wunderglaube, wie er hier vorkommt,
-vorsichtig gesagt- eben befremdlich geworden ist. Selbst wenn wir zugestehen,
daß es außergewöhnliche Ereignisse gibt, die wir mit
den üblichen uns zur Verfügung stehenden rationalen Kategorien
nicht zu fassen vermögen, und das auch im Bereich von Krankheit
und Gesundheit, so wird dies doch nicht unser Weltverhältnis grundsätzlich
in Frage stellen können. Wir dürfen und können nicht
nur nicht mit solchen Ereignissen rechnen, nein, wir haben auch einen
natürlichen inneren Abstand zu ihnen, so daß sie unser religiöses
Verhältnis nicht begründen können, und das mit Recht.
Jesus als derartiger Wundertäter ist uns ferngerückt, wir
vermögen ihm, diesem Jesus, für unseren Glauben nichts Grundlegendes
mehr abzugewinnen. Und darum berühren uns solche Berichte fast
etwas peinlich, mindestens machen sie uns ratlos. Und das sollten wir
uns auch ehrlich und frei eingestehen.

Leiden und Einschränkungen, sofern sie nicht mit unseren Mittlen
behebbar sind, wollen meist ja schlicht ertragen und ausgehalten werden
-und das ist ja schon für sich genommen oft eine ungeheure Aufgabe,
und zu ihr brauchen wir den eigentlichen Glaubensmut-, auch wenn die
Sehnsucht weiter auf ihre Überwindung tendieren mag. Wir wissen,
daß wir die Negativität des Daseins in allen ihren tausend
Formen nicht einfach negieren oder wegdrücken oder leugnen können,
und wir wissen ebenso, daß dies auch Jesus nicht gekonnt und nicht
gewollt hat. Sie ist da, und sie ergreift uns bisweilen ganz tief, ohne
daß wir ihr entfliehen können. Dann gilt es, ja dann kann
es unsere Aufgabe sein, eine wirkliche Glaubensaufgabe, diese Lage innerlich
zu akzeptieren, sie anzunehmen und mit ihr umzugehen, und mancher und
manche muß ja sogar das Unerträgliche ertragen, und die Frage
ist dann, ob und wie wir das können.

Ich meine, hier sollten wir an unserem Predigttext eine Dimension zu
entdecken versuchen, die möglicherweise sehr verborgen in ihm anwest
hinter all dieser äußeren Großartigkeit des Wunderhaften
und vielleicht auch schon damals seine eigentliche Aussage ausgemacht
hat.

Es ist dies die Aufmerksamkeit Jesu, mit welcher er den Kranken ent-deckt,
aufdeckt in seiner Situation und sie erkennt, mit welcher er sich ihm
zuwendet und mit dieser Zuwendung auch sein Geschick wendet. Denn das
ist ja die eigentliche Wende seines Geschickes, daß sich ihm da
einer zuwendet, ihm, der von allen verlassen ist und immer zu spät
kommt, der von allen übersehen wird, dem niemand hilft und zur
Seite steht, auf den keiner aufmerkt. Hier wird er erstmals gesehen,
und deshalb braucht er nun auch gar nicht mehr in den Teich. Er hat
nämlich das Wasser in dem Wort der Zuwendung, darin hat er seine
Heilung. Dieses Wort ist für ihn das Lebenswasser. Das läßt
ihn aufleben, weil es ihn aus seiner Vergessenheit und Einsamkeit und
Isolation befreit. Darin ist Jesus das Urbild des Menschsein, darin
ist er der göttliche Mensch, das Wunder des von Gott her kommenden
Daseins, daß er der Wahrnehmende ist, der Achtsame, der Sehende,
daß er Gemeinschaft stiftet, und sei es die Gemeinschaft der Leidenden.
Und darin ist er als das Urbild zugleich auch Vorbild. Denn das können
wir immer, in die Gemeinschaft des Leidens eintreten, und oft ist es
ja das Einzige, was wir können.

Mir scheint, das können wir aus diesem sonst anscheinend so sperrigen
und befremdlichen Text gewinnen und mitnehmen:
In der Mitte des christlichen Glaubens steht der aufmerksame Jesus,
der keinen übersieht oder vergißt, der die Einsamkeit dessen,
der allein ist und an dem die Chancen des Lebens vorbeigehen, löst
und ihn dadurch zum Mit-Menschen macht, der nicht dem Nichts des Nichtseins
preisgegeben, sondern in der unvollendeten Sehnsucht seines Menschseins
erkannt und als solcher integriert wird, und sei es in die Gemeinschaft
der Leidenden.

„Weh dem, der allein ist“, heißt es im Buche Kohelet
(4,10). Davon weiß der Mann am Teich Bethesda ein Lied zu erzählen,
aber die Erfahrung, die er mit dem Nazarener macht, ist die Erfahrung
der Communio, und die ist als solche Befreiung von der schrecklichsten
Not des Daseins, nämlich in seinem Sein als einem notvollen mit
sich allein, und d.h. darin unerkannt und so nichtig zu sein. Von der
Überwindung dieser Not handelt die Geschichte dieses Sonntags auf
ihrem Grunde, und darin handelt sie von uns. Aber darin ruft sie auch
nach uns, nach uns als denen, die in die Achtsamkeit dem Dasein als
Mitsein gegenüber gerufen sind, also in das Aufmerken auf das Alleinsein,
welches der Beachtung der Gemeinschaft entbehrt und darin an seinem
Sein als einem in die Bedrohung durch das Nichts des Übersehenwerdens
Gestellten leidet. Dieses Leiden als den geheimen Grund allen Leidens
zu sehen, wahrnehmen und so wenden zu können, ist die Mitteilung
des Seins Jesu an die, die er gesehen hat.

Amen.

 

 

Priv.-Doz. Dr. Reinhard Weber, Stud.-Pfr.
Rudolf-Bultmann-Str. 4
35039 MARBURG
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