Kolosser 1,13–20

Kolosser 1,13–20

You never walk alone | Sexagesimae | 07.04.2023 | Kol 1,13–20 | Christoph Kock |

Stummer Protest

Das erste Spiel für die Mannschaft während der Fußball WM. Die 11 Männer haben sich untergehakt, während die Nationalhymne abgespielt wird. Sie sind ein Team. Die anderen, die neben ihnen stehen, hatten eben „God save the King“ gesungen, noch etwas ungewohnt, aber dennoch inbrünstig. Sie haben sich für das Turnier viel vorgenommen. Jetzt singt keiner mit. Stumm blicken die Männer im roten Trikot in die Ferne. Im Iran wird die Übertragung unterbrochen. Die ohne Zensur zuschauen können, sehen für einen Moment eine Frau mit weißem Kopftuch, die auf den Rängen steht und applaudiert während ihr die Tränen über die Wangen laufen. Bei der Berichterstattung steht die Niederlage des iranischen Teams im Hintergrund. Statt um den Ball dreht es sich um dieses Zeichen der Mannschaft angesichts der staatlichen Gewalt im Iran. Proteste werden unterdrückt, Todesurteile verhängt und vollstreckt. Kameras fangen das Motto „Frau, Leben, Freiheit“ ein, dass Iranerinnen und Sympathisanten auf T-Shirts ins Stadion gebracht haben. Die Mannschaft steht unter Druck. Auf der einen Seite Erwartungen derer, die protestieren und sich öffentlichkeitswirksam Solidarität wünschen. Auf der anderen Seite das Regime, dass Repressalien gegen die Mannschaft und deren Familien in der Hand hat. Und ein Gastgeber, der solche Zeichen aus den Stadien fernhalten will. Beim nächsten Spiel vier Tage später singen die Männer die Hymne mit. Ohne Begeisterung, aber ihre Lippen bewegen sich, während die Kamera an ihren Gesichtern entlangfährt.

Karfreitagshymne[1]

Es ist Karfreitag. An diesem Tag sind Lieder auf Moll gestimmt. Leid, Ohnmacht, Tod geben den Ton an. Das Kreuz ist groß, es wiegt schwer. Wie die Folgen der Sünden und das, was Gott getan hat, um sie zu überwinden. Der Einzelne steht im Mittelpunkt, wie Gott dich und mich durch das Opfer seines Sohnes erlöst hat. Gemeinschaft kommt kaum auf. Still zur Kirche, still nach Hause. Zusammenklang und Teamwork halten sich heute im Hintergrund. Und doch ist für Karfreitag eine Hymne vorgesehen. Ohne Musik, die ist abhandengekommen. Aber der Text ist noch da. Die Hymne steht in der Bibel, im Kolosserbrief, im 2. Kapitel.

Gott hat uns errettet aus der Macht der Finsternis

und hat uns versetzt in das Reich seines geliebten Sohnes,

in dem wir die Erlösung haben, nämlich die Vergebung der Sünden.

Christus, der Erste in Schöpfung und Auferweckung

Er ist das Ebenbild des unsichtbaren Gottes,

der Erstgeborene vor aller Schöpfung.

Denn in ihm ist alles geschaffen,

was im Himmel und auf Erden ist,

das Sichtbare und das Unsichtbare,

es seien Throne oder Herrschaften

oder Mächte oder Gewalten;

es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.

Und er ist vor allem,

und es besteht alles in ihm.

Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde.

Er ist der Anfang,

der Erstgeborene von den Toten,

auf dass er in allem der Erste sei.

Denn es hat Gott gefallen, alle Fülle in ihm wohnen zu lassen

und durch ihn alles zu versöhnen zu ihm hin,

es sei auf Erden oder im Himmel,

indem er Frieden machte durch sein Blut am Kreuz.

Wer im Anfang war

Das Kreuz ist noch da, als Schlussakkord. Versöhnung durch Christi Blut am Kreuz. Das kommt mir am Karfreitag bekannt vor. Und doch erklingt ein anderes Lied. Statt Trauer wird Jubel laut. Wie nach einem Sieg. Als ob die Osterkerze schon brennt. [Anzünden!] Alpha und Omega rahmen das Kreuz. Der erste und letzte Buchstabe des griechischen Alphabetes. Jesus Christus ist Anfang und Ende. Er ist der Anfang, der Erstgeborene von den Toten, auf dass er in allem der Erste sei. Mit ihm hat alles angefangen. In ihm kommt alles zum Ziel. Der Rahmen ist weit gespannt. Weiter geht es nicht mehr. Die Geschichte des Lebens beginnt nicht im Chaos, sondern mit dem Wort, das Gott spricht und das Jesus Christus verkörpert. Die Weihnachtsgeschichte wird vorverlegt und beginnt noch vor dem ersten Schöpfungstag. Als sich das Chaos durch Gottes Wort ordnet, Glanz und Würde bekommt, da ist Christus schon da. Der Erste in Schöpfung und Auferweckung. „Und siehe, es war sehr gut“ und es wird sehr gut sein. Wie schön das Leben doch ist. Zwar bedroht und herausgefordert durch das, was Menschen tun und lassen, durch Mächte und Gewalten. Aber letztlich gerettet, erlöst und versöhnt. Und mit einer Perspektive, die über diesen Tag, die über das Kreuz, weit hinausgeht.

Richtig verbunden

Die Hymne verbindet Menschen. Wo sie gesungen wird, entsteht Gemeinschaft. Christus ist wie der Kopf auf einem Körper. Durch ihn existiert die Gemeinde als Leib Christi. Der seinen eigenen Leib dahingegeben hat, lässt dadurch einen neuen Leib entstehen. Und er ist das Haupt des Leibes, nämlich der Gemeinde. Zusammengesetzt aus ehemaligen Feinden, aus Menschen, die durch Herkunft, Sprache, Milieu verschieden sind. Die so viel trennt. Jetzt sind sie versöhnt, verbunden, aufeinander bezogen. Weil der, der sie verbindet, stärker ist als alles, was sie voneinander trennt. Weil Christus ihr Haupt ist. Mit dieser Hymne klingt eine Musik an, die dort in der Luft liegt, wo Christinnen und Christen längst zu Hause sind. In Gottes Reich, zu dem Jesus die Türen aufgestoßen hat. Noch sind sie unterwegs. „Wir sind noch nicht im Festsaal angelangt, aber wir sind eingeladen. Wir sehen schon die Lichter und hören die Musik.“[2] Zukunftsmusik. Ganz nah, ganz klar. Und ehe du dich versiehst, stehst du an der Grenze und ein erstaunlich freundlicher Zollbeamter[3] lächelt dich an. Durchsucht dein Lebensgepäck. Holst alles unnötig Schwere, alle unfreiwilligen Souvenirs heraus, die du schon so lange mitschleppst. Alles Kaputte, alle Scherben, die an dir kleben, alles Verderbliche und entsorgt den ganzen Krempel ein für allemal. Wie leicht es weitergeht. Und alles ist gut.

Protestlied

Die Hymne singt von Mächten und Gewalten. Kräfte, die Menschen zu Getriebenen machen, die ihnen zusetzen und denen sie ausgeliefert sind. Sie erscheinen im Moment so übermächtig. Krieg und Gewalt an erster Stelle. Diktatoren geben den Ton an. In Russland, im Iran. Wer für Freiheit eintritt, steht in Gefahr, sein Leben zu verlieren. Jesus stirbt durch ein unheilvolles Zusammenwirken solcher Mächte und Gewalten. Er wird im Namen von Religion, Machtpolitik, unter dem Druck der öffentlichen Meinung hingerichtet: „Besser ein Mensch stirbt, als dass ein ganzes Volk zugrunde geht.“ (Joh 11,50) Solche Mächte und Gewalten stellen Karfreitag auf Dauerschleife und immer wieder gehen Herrscher über Leichen. Lassen töten, hinrichten, foltern.

Diese Hymne singt sie in die Knie. Ein Protestlied. Wahnwitzig, unglaublich, was da erklingt:

Denn in Jesus Christus ist alles geschaffen,

was im Himmel und auf Erden ist,

das Sichtbare und das Unsichtbare,

es seien Throne oder Herrschaften

oder Mächte oder Gewalten;

es ist alles durch ihn und zu ihm geschaffen.

Auch diese Kräfte sind Teil der Schöpfung und damit Jesus Christus zu- und untergeordnet. Sie werden nicht das letzte Wort behalten, auch wenn es Karfreitag so aussah. Mit der Melodie eines Protestliedes unterlegt, probt der Hymnus schon ihre Entmachtung. Denn Christus überbietet alle Herrschaftsansprüche bei weitem. Diktatoren sind durch ihn und auf ihn geschaffen. Ihre Macht ist und bleibt begrenzt. Wo sie ihre Macht auf lange Ahnentafeln zurückführen und Dynastien gründen, besteht ein Herrschaftsanspruch als Erstgeborener. Wo sie sich auf militärische Gewalt und ihren Unterdrückungsapparat verlassen, gilt auf Golgata: „Das Ja erscheint im Nein, der Sieg im Unterliegen, der Segen im Verlieren.“ (EG 94,4)

Manchmal wird Protest laut, wenn eine Hymne nicht gesungen wird, obwohl es verordnet ist. Andere Hymnen müssen gesungen werden, damit Mächtige entmachtet werden. Menschen Solidarität üben, sich über Grenzen hinweg füreinander stark machen. Wie die Karfreitagshymne aus dem Kolosserbrief. Sie klingt über diesen Tag, über ein Fußballstadion, über die Kirche hinaus. Als Nationalhymne unbrauchbar. Zukunftsmusik für alle Menschen, die jetzt schon zu hören ist. „You never walk alone.“ Und alles wird gut.


Liedvorschläge:

  • „Nun gehören unsre Herzen“ (EG 93; dazu Pyka, Anm. 1, 214f.)
  • „Das Kreuz ist aufgerichtet“ (EG 94) – Leider kommen in der 5. Strophe nur Söhne vor.
  • „Korn, das in die Erde“ (EG 98)
  • „Du bist heilig“ (WL 26)

Fürbitten:

Gott, verborgen bist du.

Das Kreuz deines Sohnes steht uns vor Augen.

Du gehst den Weg des Leidens und Sterbens.

Du verzichtest auf Macht.

Du lässt dich hineinziehen

in das Elend einer unversöhnlichen Welt.

Wir bitten dich:

Hilf uns, in deinem Leiden bei dir zu bleiben.

Dich dort zu suchen, wo du dich verbirgst.

Wege zu finden, die du eröffnest.

Hilf uns, Hass und Gewalt zu widersprechen.

Eigenes Leid anzunehmen

und fremdes Leid mitzutragen.

Wir bitten dich:

Hilf denen, die gnadenlos mit anderen und mit sich selbst umgehen.

Dass sie umkehren

und erkennen,

dass es zur Gewalt eine Alternative gibt.

Was unvorstellbar ist,

hast du ausgehalten.

Hilf uns, dass Friede gerade dort wächst,

wo niemand mehr damit rechnet.

Gott, quicklebendig bist du.

Wo wir nur das bittere Ende sehen können,

beginnst du neu.

Mit mir.

Mit uns.

Mit deiner Welt.

Durch Jesus Christus.

An seinem Tisch sind wir zu Gast.

Werden gestärkt für den Weg,

der vor uns liegt.

Hilf uns,

Schritte zum Frieden zu finden

und zu gehen.

Amen.


Pfarrer Dr. Christoph Kock

Wesel

E-Mail: christoph.kock@ekir.de

Dr. Christoph Kock, geb. 1967, Pfarrer der Evangelischen Kirche im Rheinland. Seit 2007 Pfarrer an der Friedenskirche in der Evangelischen Kirchengemeinde Wesel.


[1] Vgl. zur Struktur Hoger Pyka, Ungewohnte Klänge am Karfreitag, GPM 77 (2023), 210–215.

[2] Das Liederbuch, Lieder zwischen Himmel und Erde 61.

[3] Holger Pyka, Karfreitag (Kolosser 1,13–20), in: Annette Kurschus (Hg.), Denkskizzen zur fünften Perikopenreihe, Stuttgart 2022, 139–142, hier: 141.

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