Lukas 12, 13-21

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Lukas 12, 13-21

1.
Der grösste Unternehmer des Dorfes war in der Nacht gestorben. Ihm
gehörten die Ländereien, soweit die Augen reichten – und
so schien es, auch die Menschen. Für ihn arbeiteten hier alle. „Ein
armes Schwein“, sagten die Leute. Was hat er jetzt? Dass er sich
noch vergrössern wollte (oder musste), wie die Leute sagten – war
der Traum von gestern. Wer ihn näher kannte, wusste von seinen Plänen.
Die guten Geschäftszahlen legten eine Expansion nahe. Die Risiken
waren überschaubar. Aber wer konnte sagen, was das für ein
Mensch war, der mit seinem Namen, seinen Ideen und seinem schier unergründlichen
Elan dahinter stand? Wer wusste, was in seinem Kopf umging? Wer kannte
seine Einsamkeit? Geredet wurde viel. Nicht immer gut. War wohl auch
manches Hühnchen zu rupfen. Aber dass am Ende der reiche Kornbauer
wie ein armes Schwein da steht, liegt wie ein Schatten über ihm.
Die ganzseitigen Todesanzeigen werden das zu verbergen wissen.

Predigttext:
16 Und er sagte ihnen ein Gleichnis und sprach: Es war ein reicher Mensch,
dessen Feld hatte gut getragen. 17 Und er dachte bei sich selbst und
sprach: Was soll ich tun? Ich habe nichts, wohin ich meine Früchte
sammle. 18 Und sprach: Das will ich tun: Ich will meine Scheunen abbrechen
und größere bauen und will darin sammeln all mein Korn und
meine Vorräte 19 und will sagen zu meiner Seele: Liebe Seele,
du hast einen großen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe,
iss, trink und habe guten Mut! 20 Aber Gott sprach zu ihm: Du Narr!
Diese Nacht wird man deine Seele von dir fordern; und wem wird dann
gehören, was du angehäuft hast? 21 So geht es dem, der sich
Schätze sammelt und ist nicht reich bei Gott.

2.
Jesus, der die Geschichte erzählt, hört nicht, was die Leute
so sagen – auf dem Marktplatz, bei der Arbeit, da, wo der reiche
Kornbauer eigentlich auftauchen könnte. Jesus hört dem reichen
Kornbauern zu. Der fühlt sich unbeobachtet. Niemand ist bei ihm.
Seine Gedanken wägen die Geschäftsperspektiven ab. Die Bilanzzahlen
liegen vor ihm, die betriebswirtschaftliche Auswertung, die kurz- und
mittelfristige Planung. Seine Leute haben ganze Arbeit geleistet. Eine
gute Ernte! Gleich in mehrfacher Hinsicht.
Er wird die Lagerhäuser erweitern, mehr noch: die alten abreissen
und neue bauen. Es sieht nach Neuanfang aus und stellt doch nur das Erreichte
für alle dar, qm um qm, drinnen und draussen. Die Strecke bis hierhin
war nicht leicht. Sequenz für Sequenz erobern Erinnerungen die Gedanken,
verfliessen geradezu ineinander. Es ist geschafft. Ein Stoßseufzer
tief aus der Seele. Du kannst es jetzt leichter angehen, sagt sich der
reiche Kornbauer. Jetzt ist Konsolidierung angesagt. Wachstum in der
Breite. Langfristig gesichert. Morgen schon wird er es seinen Leuten
sagen, erst seinen Führungskräften, dann allen. Mit neuen Zielen,
versteht sich.
Die Geschichte, wie sie Jesus erzählt, nimmt ab da eine unerwartete,
geradezu befremdliche Wendung. Anstatt das Erreichte zu würdigen,
heisst es nur lapidar: „Du Narr! Diese Nacht wird man deine Seele
von dir fordern.“ Ob der reiche Kornbauer das gehört – oder
verstanden – hat? Ob es einfach unterging, wie ein Gedanke, der
weggewischt wird? Ob überhaupt die Bereitschaft da war, noch auf
etwas anderes zu hören als auf Zahlen, Pläne und Träume?
Wenn – muss es wie ein Blitz eingeschlagen sein: „Du Narr“.
Aber keine Zeit mehr für ein Aha-Erlebnis, keine Einsicht, die Leben
neu formen könnte. „Du Narr“ als letztes Urteil. Als
Todes-Urteil.

Mir wird unbehaglich. Ich kenne Menschen, die stolz und zufrieden davon
erzählen, was sie erreicht haben, die die Widerstände, die
Arbeit, die Mühen schildern und ganz glücklich sind, aus dem
Gröbsten raus zu sein, ja, an Schwierigkeiten gewachsen zu sein – wie
sie sagen. Ich höre ihnen zu, verstehe sie. Schliesslich könnte
ich meine Geschichte dazu tun. Sieht sie denn wirklich so anders aus?
Mir ist doch auch nichts in den Schoss gefallen. Abends beim Gläschen
Wein zu sagen: Habe nun Ruhe, iss, trink und habe guten Mut – dass
könnte eine Offenbarung sein. Nach vielen kleinen und grossen Erfahrungen,
Enttäuschungen, Versuchen und und …. Die Freiheit, sich die
Tretmühle einmal von aussen anzusehen, womöglich auszusteigen.
Einfach Mensch zu sein.
Es ist ein Glücksfall (und Vertrauensbeweis), wenn ein Mensch davon
erzählt, was er zu sich selbst sagt, wenn er sein Innerstes öffnet,
sich auf den Grund der Seele blicken lässt. Ich käme doch nie
auf die Idee, ihn (oder mich) einen Narren zu schimpfen. Manchmal denke
ich es. Dann wird mir noch unbehaglicher. Aber in Worte zu fassen, fällt
mir schwer. Wer ist ein Narr?

3.
Lukas, Evangelist, Berichterstatter und Herausgeber in einer Person,
hat klare Vorstellungen von dem, was Narrheit ist – und er scheut
sich auch nicht, einen Menschen als „Narr“ zu bezeichnen,
menschliches Feingefühl hin, seelsorgerliche Diskretion her. Was
ich nicht kann – oder darf – Lukas hat den Freimut dazu und
die Erfahrung auf seiner Seite. Jetzt können wir darüber reden,
unsere Vorstellungen vom Leben abwägen, ja, uns etwas sagen lassen.
Letztlich liegt viel Weisheit in dem, was der Evangelist mit seinem Namen
bezeugt. Narr ist, wer sich ausliefert: an Reichtum, Ansehen und Erfolg.
Lukas weiss etwas, was unter uns nicht unumstritten ist. Nicht der Mensch
besitzt Geld, einen Ruf oder seine gesellschaftliche Stellung – es
sind diese Dinge, die ihn besitzen, mehr noch: ihn besetzen und besetzt
halten. Die Gedanken, Entscheidungen, Hoffnungen. Es kann dann auch kein „zurück“ mehr
geben. Ein + sollte immer vor den Zahlen stehen. Zumindest muss der Standard
gehalten werden. Die Konflikte sind vorprogrammiert. Die ständige
Beobachtung des Marktwertes, das Taxieren von Möglichkeiten, immer
am Ball bleiben. Dass das gesundheitlich an die Substanz gehen kann,
können Menschen erzählen, die einen Infarkt hinter sich haben – ungefährlich
ist das Unternehmen nicht, die Dinge im Rücken, ein Getriebener
zu sein. Nein, der reiche Kornbauer war auf einem guten Weg: Ruhe finden,
Zeit für Essen und Trinken haben, guten Mutes sein.
Darum verstehe ich den Schluss nicht: „Du Narr!“ Hier, an
dieser Stelle? Kommt das Urteil nicht – zu spät? Müsste
es jetzt nicht ermutigend heissen: Mach hier weiter …

Ehrlich gesagt: ich erwarte eine Ermutigung. Für mich. Für
andere. Es tut gut, Ruhe zu finden, Zeit haben, aufatmen. Aber dem Evangelist
reicht das nicht. Könnte es sein, dass meine Gedanken in eine andere – falsche
– Richtung gehen? Für Überraschungen ist Lukas immer gut. Seine
Abneigung Reichen gegenüber lässt sich nicht einmal schön
reden. Nein, da hat er schon an den Anfang des Evangeliums, im Lobgesang
der Maria, den Ton vorgegeben: „… er stösst die Gewaltigen
vom Thron und erhebt die Niedrigen, er füllt die Hungrigen mit Gütern
und lässt die Reichen leer ausgehen …“ Er: Gott. Ist
wohl nichts, sich mit „Ruhe“ zufriedenzugeben. Oder einem
gesünderen Leben. Oder gereifter Lebenserfahrung …

Was die Dinge (ich nenne sie jetzt einfach so) mit – oder auch:
aus einem Menschen machen, ist eine Sache, was der Mensch mit – oder
auch: aus ihnen macht, die andere. Ob hier die Spur zu finden ist?
Hören wir noch einmal in die Geschichte. Der Evangelist legt sein
Ohr auf die Seele diesen reichen Kornbauern. Er spricht zu sich selbst: „Liebe
Seele, du hast einen grossen Vorrat für viele Jahre; habe nun Ruhe,
iss, trink und habe guten Mut.“
Grosser Vorrat … viele Jahre … habe nun Ruhe … guten
Mut.
Die Worte hinterlassen einen Geschmack. Sie schmecken nach Sicherheit.
Sie suggerieren Sicherheit. Das ist´s: Was eingefahren werden kann,
neue Scheunen braucht – soll die Zukunft sichern. Was ein Mensch
erreicht hat, fest in Händen und Herzen hält – soll das
Leben sichern. Bewahren. Und – kann es nicht. „Du Narr!“ Glaubtest
du, du könntest dein Leben so bewahren? Deine Zukunft in der neuen
Scheune lagern? Dein Vertrauen auf die Dinge setzen?
Korn ist vergänglich. Alle Dinge sind vergänglich. Sollten
vergängliche Dinge dem Menschen Halt geben? Er vergeht mit ihnen.
Nimmt ab. Wird leer. Verbraucht, verschliessen, abgeschrieben. Eine neue
Scheune – ein alter Tod. Jetzt überschlagen sich Bilder, Erfahrungen,
Befürchtungen. Am Ende könnte das Urteil tatsächlich nicht
zu vermeiden sein: „Du Narr!“ –

Der reiche Kornbauer hatte es mit Wissen, Erfahrungen und einer guten
Portion Bauernschläue weit gebracht. Er resümiert sein Leben,
will auf der Höhe Frieden mit sich machen – und geht mit den
Dingen unter. Im Dorf redet man schon über ihn – wie über
einen, der war. Aber das Wichtige verschwindet unter den Worten. Auch
unter der Trauer. In den Nachrufen sowieso.
Jesus erzählt eine Geschichte, Lukas gibt ihr eine Gestalt. Sie
ist einmalig und kommt so auch nicht wieder. Wer klug ist, fängt
an, seine Tage abzuwägen – schon der Psalmensänger wusste,
dass so ein weises Herz zu gewinnen ist.

4.
Wie kommt es eigentlich zu dieser Geschichte? Einen Anlass hat es gegeben:
den Streit zwischen Brüder über das zu verteilende Erbe der
Eltern. Ein weites Feld! Ein Streit, der die Akten dick macht. Und sprachlos,
lieblos, leblos …

13 Es sprach aber einer aus dem Volk zu ihm: Meister, sage meinem Bruder,
dass er mit mir das Erbe teile. 14 Er aber sprach zu ihm: Mensch, wer
hat mich zum Richter oder Erbschlichter über euch gesetzt? 15
Und er sprach zu ihnen: Seht zu und hütet euch vor aller Habgier;
denn niemand lebt davon, dass er viele Güter hat.

Die letzten Sätze haben es immer in sich.
Niemand lebt davon, dass er viele Güter hat. Das ist Jesu Wort.
Er legt es selbst auch aus. Er erzählt die Geschichte von dem reichen
Kornbauern. Sie endet: So geht es dem, der sich Schätze sammelt
und ist nicht reich bei Gott.

Unschwer ist zu erkennen, wofür diese Geschichte – sie wird
gemeinhin als „Gleichnis“ bezeichnet – eintritt. Ihr
Thema ist: Reich sein bei Gott. Aber was sie erzählt, ist, was es
heisst, nicht reich zu sein bei Gott. Sozusagen im Spiegel verkehrt.
Irritierend.
Ich zürnte schon mit Lukas. Warum so negativ? Hätte die Geschichte
nicht auch positiv erzählt werden können? Der reiche Kornbauer
als nachahmenswertes Beispiel, als Identifikationsangebot, als Vorbild.
Für viele Menschen, die sich – wie er – mühen und
viele Sorgen machen.
Aber wäre dann herausgekommen, was die Geschichte unbedingt loswerden
will: dass die Dinge Menschen gefangen nehmen – und Menschen mit
ihnen ihre Zukunft verlieren? Die Geschichte kommt mit wenigen Sätzen
aus. Sie lädt ein, unsere Erfahrungen auszusprechen – und
auszusetzen. Es ist eine Geschichte von uns.
Wenn ich den Weg überblicke, den die Geschichte uns abverlangt,
kommt sehr viel zur Sprache: die Arbeit mit ihrem Ertrag, das Bedürfnis
nach Ruhe und Distanz, der Vorsatz, noch einmal neu anzufangen – hier
mit dem Bild der neuen Scheune.
Aber zur Sprache wird auch gebracht, dass Menschen Erfolg, Ansehen und
Geld Macht über sich geben – und mit ihnen ihr Leben verlieren – hier
im Bild von der „geforderten Seele noch in dieser Nacht“.
Bei aller Klugheit: Wir sind Narren!

Wir feiern heute das Erntedankfest. Den Altar haben wir festlich geschmückt
mit Feldfrüchten, Obst und Korn. Was die Lebensmittelindustrie verarbeitet,
haben wir daneben gelegt. Die Lieder, die wir singen, preisen den Schöpfer.
Seit altersher wird als Evangelium die Geschichte vom reichen Kornbauern
gelesen. Von Dankbarkeit ist in ihr eigentlich nicht die Rede – das
Wort kommt nicht einmal vor. Aber es hat einen tiefen Sinn, an diesem
Tag zu feiern, was es heisst, reich zu sein bei Gott: Ihn preisen. Bei
ihm Zuflucht nehmen. Auf ihn das Vertrauen setzen. Von ihm die Zukunft
erbitten. Und dazu gehört, die Dinge, die von ihm kommen, dankbar
aus seiner Hand zu nehmen – und sie das sein zu lassen, was sie
sind: geschenktes Leben.
Zu der „lieben Seele“ übrigens kann kein Mensch beten,
von ihr auch keine Antwort erwarten – zumindest nicht die Antwort,
die weiter führt als das, was ein Mensch schon hinter sich gebracht
hat. Die „liebe Seele“ kann nur mit sich reden, alles mit
sich ausmachen, am Ende verstummen.
Gott selbst lädt zu seinem Mahl ein. Er sagt: Liebe Seelen, ich
habe euch viel gegeben, kommt zur Ruhe, esst, trinkt, habt guten Mut!
An der Stelle sind wir auch nicht mehr allein. Hier kommen wir zusammen,
jeder mit seiner eigenen Geschichte. In der Vorrede zum Mahl wird es
heissen: Recht und würdig ist es, angemessen und heilsam, dass wir
dir, allmächtiger Gott, barmherziger Vater, an allen Orten und zu
allen Zeiten danken …

5.
Als der reiche Kornbauer beerdigt wurde, gaben ihm viele Menschen das
letzte Geleit. Der Bürgermeister rühmte den bedeutendsten
Arbeitgeber in der Region, der Vertreter der Landwirtschaftskammer
pries die unternehmerische Weitsicht, der Betriebsratsvorsitzende erzählte
von konstruktiver und kritischer Zusammenarbeit. Der Pfarrer predigte über
die Vergänglichkeit und befahl den Toten der Barmherzigkeit Gottes.
Zu einem Eklat kam es nicht. Niemand nannte ihn einen Narren. Die eine
Nacht, die letzte, bleibt das Geheimnis, dass Gott mit den Menschen
teilt.

Manfred Wussow
Kgm. Aachen
M.Wussow@gmx.de

 

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