Lukas 16, 19-31

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Lukas 16, 19-31

Es ist eine anstößige Geschichte, die uns da
von Lukas überliefert wird: so anstößig, dass es einen
wundern kann, wie sie jemals in die Bibel geraten konnte und in ihr dann
auch stehen gelassen blieb. Hingegen kann es einen nicht wundern, wenn
man sie in der Christenheit oft schnell übersehen hat, so wie der
Reiche den Lazarus in dieser Geschichte. Ich habe noch von keiner Evangelisationsversammlung
gehört, in der ernstlich das laut geworden wäre, was diese Geschichte
sagt. Aber auch in der modernen kritischen Wissenschaft der Theologie hat
man diese Geschichte aus dem Neuen Testament auszuklammern versucht, weil
sie Ausdruck einer unterchristlichen Fantasie sei. Und in wieviel Predigten
auf den Kanzeln aller Konfessionen wird das unterschlagen, was diese Geschichte
so überdeutlich sagt.

Aber was ist denn so anstößig an ihr? Ist es dies, dass es
allzu schlicht tönt, wie hier diese zwei gegenübergestellt
werden? – ein Reicher, der es einfach alle Tage sorglos schön
hat, und ein Armer, dem es einfach alle Tage miserabel schlecht geht?
Und klingt es nicht erst recht primitiv, wie dann nach dem Tod der beiden
Himmel und Hölle ausgemalt werden: der Himmel als ein behagliches
Ausruhen in Abrahams Schoß und die Hölle als ein Schmoren
in heißer Flamme? Und ist es nicht allzu kindlich gedacht, wenn
es heißt: Nach dem Tod drehe sich das irdische Los kurz um. Für
den Lebensgenießer werde es dann sehr verdrießlich, für
den Pechvogel dafür hübsch vergnüglich? Kann es nicht
abstoßen, dass hier so grob mit dem dicken Pinsel gemalt wird?
Unser Erzähler versteht anscheinend nur, schwarz-weiß zu malen,
und mutet einem Dinge zu, die man als moderner Mensch nun einmal nicht
mehr für wahr halten kann.

Aber seien wir ehrlich: Ist es wirklich das, was uns diese Geschichte
anstößig macht? Wir wissen doch sehr genau, dass sie ein Bild,
ein Gleichnis ist. Nun gut, das Bild ist überdeutlich gezeichnet,
gemalt mit den Farben einer vergangenen Weltanschauung, aber gemalt,
um uns etwas Bestimmtes zu sagen. Auf das müssen wir achten, und
das können wir auch ganz gut verstehen. Tun wir das, dann zeigt
sich: In dieser Geschichte steckt etwas anderes, das uns noch anstößiger
sein mag. Nämlich dies, dass Gott hier so parteiisch dargestellt
wird – dass er nicht bloß ein bißchen, sondern so hundertprozentig
Partei ergreift, hier für den armen Lazarus und dort gegen den namenlos
Reichen. Das irritiert. Wir haben uns daran gewöhnt, in der Kirche
vom lieben Gott zu hören. Ja, wir haben schon recht gehört,
Gott ist der liebe Gott, er ist barmherzig und gnädig. Aber – seine
Barmherzigkeit und Gnade ist nicht das Langweilige, das wir gern aus
ihr machen, nicht das Harmlose, das niemand unter die Haut geht. Gottes
Gnade heißt nicht, dass er alles und jedes, unsere Gegensätze
von reich und arm, von ungerecht und benachteiligt, von satt und hungrig
mit einer rosa Brille ansieht und dann auf sich beruhen lässt. Gottes
Gnade heißt nicht, obwohl es in unserem Gesangbuch missverstehbar
steht: “Sprich deinen milden Segen zu allen unseren Wegen“ – zu
allen unseren Wegen? Das könnte uns so gefallen, das kann aber Gott
nicht gefallen. Gottes Gnade heißt vielmehr: Gott will, dass allen
Menschen geholfen werde. Gottes Gnade heißt, dass Jesus unter uns
tritt und sagt: “Ich bin gekommen, dass die Menschen das Leben
und volle Genüge haben“ (Joh. 10,11). Und so heißt Gnade
Gottes: dass er Partei ergreift immer für die Hilfsbedürftigen,
für die Unbeholfenen, für die Hilflosen – und Partei
entschieden gegen die, die ohne den Beistand Gottes Leben und volle Genüge
haben zu können glauben. Einen anderen Gott gibt es nicht als den,
der so parteiisch gnädig ist. Wir wollten einen anderen Gott, wenn
wir Gott anders haben wollten. Und es wäre am Ende so, dass wir
gar keinen Gott haben wollten. Es wäre praktisch Atheismus, schlimmer
als alle direkte Leugnung Gottes, wenn wir einen neutralen Gott haben
wollten. Aber dass Gott so parteiisch ist, das ist eben anstößig.

Es gibt in unserer Geschichte etwas, das uns noch anstößiger
werden kann – nicht nur dies, dass Gott parteiisch ist, sondern
dass er gerade so parteiisch ist, wie wir es da hören. Daran können
wir uns reiben, dass er gerade diesen Maßstab hat, nach dem er
für den einen und gegen den anderen ist. Denn der Maßstab,
nach dem hier der eine hochgehoben wird und der andere in die Tiefe fällt,
ist schlicht der, ob man arm oder reich ist. Keine Rede davon, dass der
Lazarus fromm, bekehrt, erweckt, gläubig war. Es heißt nur:
er war arm und kam darum in den Himmel. Und auch keine Rede davon, dass
der Reiche besonders böse, ungläubig, unbekehrt, sündig
war. Vielleicht war er ebenso gut, wie wir es von uns selbst meinen.
Es heißt nur: er war reich und kam darum in die Hölle.

Wem können diese Sätze gefallen? Denn sie widersprechen der
gemütlichen Unterscheidung, die noch immer in unseren Köpfen
spukt: die zwischen einem seelischen und einem leiblichen Bereich. Diese
Unterscheidung haben wir immer gern für christlich gehalten. Anhand
von ihr haben wir gemeint: der Glaube sei etwas nur für die Köpfe
der Menschen, aber er höre am Geldbeutel auf – Gottes Liebe
sei etwas fürs Herz, aber sie gehe nicht auch durch den Magen derer,
die uns ans Herz gelegt sind – man könne eine größere
oder auch kleinere Geldgier haben, wenn man nur innerlich recht stehe;
und es sei genug, den Menschen seelischen Trost zu bringen, auch wenn
man sie weiter in ihrem Elend lässt.

Die Bibel schert sich aber nicht um diese saubere und in Wahrheit lebensfeindliche
Unterscheidung. Sie sagt nach dem Monatsspruch dieses Monat Juni: “Wer
dem Geringsten Gewalt tut, lästert dessen Schöpfer; aber wer
sich des Armen erbarmt, der ehrt Gott” (Spr. 14,31). Und noch einmal:
Christus ist gekommen, damit die Menschen das Leben haben, nicht nur
innerlich, sondern auch äußerlich, und volle Genüge,
und also nicht nur genug, um glaubensvolle Herzen zu haben, sondern auch
genug, um für alle volle Teller zu haben. Christus ist gekommen,
das heißt ja: Gottes Liebe ist für Gott selbst keine bloß innerliche
Sache. Gottes Liebe ist in Christus auch ganz äußerlich, ganz
leiblich, ganz spürbar und sichtbar geworden. Christus ist das Ende
und die Aufhebung unserer ganzen unseligen Scheidung zwischen Seelischem
und Leiblichem. Und was Gott zusammengefügt hat, das soll der Mensch
nicht scheiden.

Wir müssen noch einen Schritt weitergehen, und damit stößt
unsere Geschichte mit ihrer Spitze direkt bei uns an: Sie fordert uns
auf, uns mit einer der genannten Personen zu vergleichen. Stehen wir
auf der Seite des Lazarus oder auf der des reichen Mannes? Nun, wer wird
sich schon reich nennen? Von den Reichen gilt der Spruch: “Je mehr
er hat, je mehr er will, nie stehen seine Sorgen still.” Allerdings,
je mehr er hat, desto unerbittlicher krampft sich seine Hand um das,
was er hat, so dass niemand dran rühren darf. Sagen wir einfach:
Reiche sind solche, die geben könnten, aber nicht geben wollen!
Und – wer von uns kennt wirklich Vertreter jenes Millionenheeres von
Habenichtsen, die am heutigen Tag hungern und verhungern? – Frauen, Männer,
Kinder. Sie tauchen in den Medien fast nie auf und, wenn doch, dann,
um schnell wieder daraus zu verschwinden; und was man nicht auf dem Bildschirm
sieht, das existiert für uns nicht. Aber könnten wir sie nicht
doch sehen? Denn man hat unterdes die Vorzüge von Arbeit in Billiglohn-Ländern
sich nutzbar gemacht und hat dafür Massenarbeitslosigkeit an unseren
Straßen. Aber merkwürdig, je näher Lazarus uns vor Augen
rückt, desto mehr rückt er uns von der Tagesordnung. Sagen
wir einfach: Arme sind solche, deren Armut wir sehen müssten, aber
von der wegsehen.

Helmut Gollwitzer schrieb vor gut 30 Jahren ein Buch unter dem Titel: “Wir
reichen Christen und der arme Lazarus.” Einen solchen Titel können
wir ja nicht hören, ohne tief zu erschrecken. Denn wenn das so ist,
dann haben nicht sie, die Armen in der Ferne, in der Nähe, dann
haben wir, die Christen, Grund zur Erschütterung. Von einem drohenden
Höllenfeuer ist da die Rede. Meinen wir nur ja nicht, das sei weit
entfernt, ausgedacht zum Bangemachen vor einem Jenseits, das es gar nicht
gibt! Wenn die armen Menschen, die armen Länder ihre Katastrophe
nicht überleben sollten, dann wehe uns, den jetzt Überlebenden!
Unser Überleben wird dann bereits eine Hölle sein – darum
eine Hölle, weil wir dann unter dem Fluch des “unstet und
flüchtig” leben werden wie Kain, nachdem er seinen Bruder
Abel umbrachte (Gen. 4,12) – eine Hölle, weil wir dann leben
müssen ohne Lazarus, ohne unseren schwarzen und gelben, braunen
und hellhäutigen Mitmenschen und leben ohne – Gott, der sich gerade
mit diesen unseren Mitmenschen verbündet hat.

Aber jetzt stehen wir vor dem Wichtigsten, das zu sagen ist: Die Geschichte
vom reichen Mann und vom armen Lazarus ist uns nicht erzählt, um
uns zu sagen: der Arme werde schon noch im Jenseits Trost finden. Gewiss
ist das wahr, dass jedenfalls Gott sich all der zahllosen Verkümmernden
hilfreich annehmen wird. Aber der Sinn unserer Geschichte ist nicht,
die Armen vom Diesseits abzulenken durch die Vertröstung auf ein
besseres Jenseits. Sie redet vom Jenseits, um die Menschen in ein besseres
Diesseits zu stellen. Und darum ist diese Geschichte auch nicht darum
erzählt, um uns, den reichen Christen, Strafe und Verdammung zu
prophezeien. Sondern darum ist sie uns gesagt, um uns auf eine Rettung
aufmerksam zu machen: auf die einzige, die uns vor dem drohenden Chaos
bewahren kann. Jawohl, es gibt für uns alle eine Rettung. Und unsere
Geschichte lädt uns dazu ein, sie zu erkennen und zu ergreifen.

Achten wir genau auf ihr Pointe: In der Liebe Gottes zum ganz und gar
bedürftigen Lazarus wird uns gezeigt, dass kein Nachteil auf Seiten
des Menschen ihn von ihr trennen muss und trennen kann. Und in dem Ernst
gegenüber dem satten-nimmersatten Reichen wird uns gezeigt, dass
kein Vorteil auf Seiten des Menschen seinen Anspruch auf Gottes Liebe
begründen darf und kann. Und das ist nicht so, weil etwa Gott willkürlich
verfährt. Das ist so, weil Gott so unbedingt gnädig und barmherzig
ist. Darum können wir reichen Christen, wenn wir nicht ganz von
Gott geschieden sein wollen, uns nicht anders zu Gott bekennen, als indem
wir in Verbundenheit mit Lazarus leben. Lazarus ist nicht unser Heiland.
Aber der Heiland ist nicht ohne ihn und so ist er nicht ohne den Heiland,
sondern der ist mit ihm und bei ihm. Und der ist es so bestimmt, daß wir
nicht an Christus teilhaben können, ohne sie mitzuhaben: die Armen,
die Hungernden, die Verkümmernden. Er ist ihr Bruder geworden – darum
kann er nicht auch unser Bruder sein, ohne dass wir sie sehen und bejahen
als unsere Schwestern und Brüdern.

Wie könnten wir sie dann übersehen und vergessen oder denn
als den Abfallkorb für unseren Überfluss behandeln: die Frau
irgendwo in dem notdürftigen Elendsquartier, der Bettler, der vor
allem um Arbeit bettelt und keine kriegt, die Lepra kranke Alte, der
auf eine Mine getretene Knabe, der nie ein Erwachsener werden wird, das
Cholera kranke Mädchen, der ebenso überbeschäftigte und
unterbezahlte Arbeiter … Ich nehme den Mund nicht zu voll, wenn ich
sogar sage: In all diesen Menschen tritt uns unser Heiland entgegen.
So hat er es ja selbst gesagt: “Was ihr einem von diesen meinen
geringsten Geschwistern getan habt, das habt ihr mir getan.“ Tritt
uns in seiner Verbundenheit mit diesen Geringsten die Wahrheit seiner
Gnade und Barmherzigkeit entgegen, so treibt uns das wie selbstverständlich
zur Dankbarkeit. Und diese Dankbarkeit gegen ihn statten wir so ab, dass
wir uns wie selbstverständlich an die Seite dieser Geringsten stellen.
Und dann wird uns das jeweils Beste in den Sinn kommen, das dort zu tun
und zu sagen und zu denken ist. Aller Glaube an Gott ist wertlos, der
Gott in irgendeinem privaten, beschaulichen, stillen Kämmerlein
oder Herzenswinkel für sich allein haben will, statt ihm zu dienen
unter den innerlich und äußerlich Armen, Hungernden, Benachteiligten.

Wir haben vorhin gehört, unsere Geschichte sei anstößig.
Das Wort Anstoß hat in unserem Sprachgebrauch einen doppelten Sinn – den
von “Ärgernis erregen“, aber auch den von “in Bewegung
setzen“. Wir haben das Gleichnis Jesu verstanden, wenn wir gemerkt
haben, es will uns zuletzt im zweiten Sinn des Wortes Anstoß geben.
Es will uns im Grunde nicht ärgern. Es will uns in Bewegung versetzen.
Wohin? Der Reformator Huldrych Zwingli hat in der Zürcher Disputation
von 1523, durch die sich die Reformation in Zürich durchsetzte,
das als die Aufgabe der Leitung einer staatlichen Gemeinschaft erklärt:
Es sollten “alle ihre Gesetze dem göttlichen Willen gleichförmig
sein, nämlich so, dass sie die Bedrückten beschirmen, auch
wenn sie nicht klagten.” Und wenn eine Regierung das schuldig bleibt?
Dann – so sagte es Johannes Calvin, der Genfer Reformator, – dann
muss eine christliche Gemeinde da sein, die sich danach richtet: “Wir
können nicht Christus lieben, ohne ihn in unseren Geschwistern zu
lieben.”

Prof. Dr. Eberhard Busch, Göttingen
ebusch@gwdg.de

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