Lukas 18,9.14

Lukas 18,9.14

Predigt zu Lukas 18,9.14, verfasst von Pfarrerin Gerlinde Feine


„Er sagte aber zu einigen, die sich anmaßten, fromm zu sein, und verachteten die andern, dies Gleichnis: Es gingen zwei Menschen hinauf in den Tempel, um zu beten, der eine ein Pharisäer, der andere ein Zöllner. Der Pharisäer stand für sich und betete so: Ich danke dir, Gott, daß ich nicht bin wie die andern Leute, Räuber, Betrüger, Ehebrecher oder auch wie dieser Zöllner. Ich faste zweimal in der Woche und gebe den Zehnten von allem, was ich einnehme. Der Zöllner aber stand ferne, wollte auch die Augen nicht aufheben zum Himmel, sondern schlug an seine Brust und sprach: Gott, sei mir Sünder gnädig! Ich sage euch: Dieser ging gerechtfertigt hinab in sein Haus, nicht jener. Denn wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“

Liebe Gemeinde!

Diese Geschichte ist sprichwörtlich. Jedes Kind kennt sie; selbst
von Kirchenfernen wird sie gerne erzählt und ihre Moral am liebsten
anderen unter die Nase gerieben! Denken Sie nur einmal daran, welch schlechten
Ruf „Pharisäer“ haben, was ihnen alles angedichtet wird
und wofür sie herhalten müssen: Selbstgerechtigkeit, Frömmelei,
Doppelmoral, sogar Heuchelei, mit der Unglaube kaschiert wird: all das
sind Kennworte für pharisäisches Wesen geworden, und nur allzu
schnell sind wir bereit, jemanden einen „Pharisäer“ zu
heißen, dem wir die frommen Reden nicht abnehmen, dem wir unterstellen
wollen, daß es hinter der Fassade dieser Reden und Handlungen ganz
anders, eben ganz unfromm aussieht. Daß es sich mit diesem Menschen
verhält wie mit dem Getränk gleichen Namens: Sieht aus wie
Cappuccino; ist aber Schnaps drin…

Eigentlich höchste Zeit für eine Ehrenrettung! Denn dieses
Gleichnis ist nicht erzählt worden, um die einen, die ausgewiesen
Frommen im Lande, diejenigen, die mit ihrer ganzen Lebensführung
sehr bewußt versuchen, die biblischen Gebote zu erfüllen,
um die als Heuchler zu diffamieren und im gleichen Atemzug die anderen,
die „Zöllner“, zu Vorbildern zu machen. Die haben sich
schließlich durch Betrügereien und Wucher unter ihren Zeitgenossen
einen eher unrühmlichen Namen gemacht. Die Zöllner, das muß man
sich heute klarmachen, das waren zur Zeit Jesu die Kollaborateure der
römischen Besatzungsmacht, diejenigen, die sich bereicherten an
der Besetzung des Heimatlandes, die mithalfen, das Geld für die
Unternehmungen des jeweiligen römischen Kaisers einzutreiben, und
die selbst nicht schlecht daran verdienten. Vorbildlich war ihr Lebenswandel
sicher nicht, und wenn Jesus bei einem von ihnen, Zachäus, einkehrte,
dann bestimmt nicht, um ihn in seinem Tun zu bestärken, sondern
um ihn durch seine Zuwendung davon abzubringen. Oder um mit Paulus auf
diese Geschichte zu reagieren (Röm 6,1–4): „Was sollen wir
nun sagen? Sollen wir denn in der Sünde beharren, damit die Gnade
umso mächtiger werde? Das sei ferne! Wie sollten wir in der Sünde
leben wollen, der wir doch gestorben sind? Oder wißt ihr nicht,
daß alle, die wir auf Christus Jesus getauft sind, die sind in
seinem Tod getauft? So sind wir ja mit ihm begraben durch die Taufe in
den Tod, damit, wie Christus auferweckt ist von den Toten durch die Herrlichkeit
des Vaters, auch wir in einem neuen Leben wandeln.“

Und damit sind wir beim eigentlichen Problem der Geschichte: Nicht um „fromm“ oder „unfromm“,
um selbstgemachte oder um geschenkte Rechtfertigung geht es, sondern
darum, wie Leben in der Nachfolge gestaltet werden kann. Es geht um die
Art und Weise, mit Gott zu reden und von ihm, um die Ausdrucksformen,
die das Geschenk findet, das Glaube heißt, und um das Verhältnis
der Menschen zueinander, die dieses Geschenk bekommen haben und die dennoch
unterschiedlich darauf reagieren. Ähnlich haben wir es vorhin auch
in der Lesung aus dem Epheserbrief gehört: „Aus Gnade seid ihr selig
geworden durch Glauben, und das nicht aus euch: Gottes Gabe ist es, nicht
aus Werken, damit sich nicht jemand rühme“ – soweit hätte
die Pharisäerbeschimpfung dann doch ihr Recht, denn daß der
Pharisäer sich im Angesicht Gottes für etwas Besseres halten
kann als der Zöllner, das ist nun wirklich tadelnswert. Aber die
Epistel geht noch ein wenig weiter: „Wir sind sein Werk, geschaffen in
Christus Jesus zu guten Werken, die Gott zuvor bereitet hat, daß wir
darin wandeln sollen“. Da ist sie dann doch, die Ehrenrettung für
alle, die sich darüber im Klaren sind, daß Gott sie aus purer
Gnade gerecht gemacht und zum Glauben an ihn gebracht hat – und die trotzdem
seine Gebote halten und sie womöglich auch noch gerne tun, weil
sie für sie Ausdruck der Dankbarkeit sind, Antwort auch auf das
Geschenk Gottes und nur billiger Ausdruck ihrer Zugehörigkeit zu
seiner Gemeinde.

Um vielleicht etwas deutlicher zu machen, was ich damit meine, möchte
ich Ihnen zwei Herren vorstellen, die den im Gleichnis vom Pharisäer
und vom Zöllner nur angedeuteten Konflikt dazu benutzt haben, ihre
Lebensgestaltung nebeneinander und aneinander zu entwickeln. Zwei Theologieprofessoren
sind es, Wilhelm Amesius hieß der eine, Johannes Maccovius der
andere – und beide sind schon mehr als 350 Jahre tot. An der Universität
Franeker in den Niederlanden haben sie gemeinsam, wenn auch zerstritten,
gelehrt. Doch obwohl die beiden aus der Distanz betrachtet vielleicht
keine zentrale Rolle in der Geschichte der Theologie gespielt haben mögen,
ist die Frage, über der sie sich voneinander entfernt und miteinander
zerstritten haben, auch für uns von zentraler Bedeutung, und mit
letzter Sicherheit wird sie sich erst am Tage der Wiederkunft Christi
beantworten lassen.

Beginnen wir jedoch zunächst mit dem, worin sich Maccovius und
sein Kollege Amesius einig waren! Für beide stand fest, worin auch
wir uns einig sind, nämlich: Gott regiert in einer Gnade, die stärker
ist als alles andere. Gott ist absolut souverän in dem, was er tut,
und deshalb steht es ihm frei, aus Gnaden selig zu machen, wen er will,
ganz egal, welches Leben dieser Mensch geführt hat. Allein aus Gnade!
Für unsere beiden Kontrahenten war diese Feststellung enorm wichtig;
sie hatte Konsequenzen nicht nur für dieses Leben, sondern über
den Tod hinaus. Uns modernen Menschen sind diese Konsequenzen nicht bewußt;
sie werden auch vielfach grundsätzlich bezweifelt. Aber es gibt
sie, und das zu wissen, war für Maccovius und Amesius Grundvoraussetzung
ihrer Lebensgestaltung. Man muß aber noch etwas wissen: Die beiden
gingen davon aus, daß das Schicksal eines Menschen im Bezug auf
Gott schon vor Beginn aller Zeit vorherbestimmt wurde und daß sie
selbst darauf keinen Einfluß nehmen könnten, ob ihr Weg zum
ewigen Heil oder zur ewigen Verdammnis führen würde. Das aber
hatte dann bei beiden ganz unterschiedliche Auswirkungen!

Amesius, der von seiner eigenen Erwählung felsenfest überzeugt
war – wäre er sonst Professor geworden? – , sah sich
durch dieses Geschenk Gottes besonders herausgefordert: War es nicht
seine Pflicht, Gott für diese Gnadengabe durch einen entsprechenden
Lebenswandel zu danken? Nicht, um sich Gottes Gnade zu verdienen, sondern
um sich ihrer würdig zu erweisen. Und so lebte Amesius untadelig,
vielleicht eine Spur zu streng, wie sein Porträt erzählt. Seine
Amtsgeschäfte führte er tadellos. Nie feierte er einen Tag
krank. Schulden hatte er nicht, sondern teilte sein Geld so ein, daß noch
genügend für den Zehnten blieb, für die freiwillige Abgabe
von 10 % des Einkommens für die Kirche (nicht 7% von soundsoviel
%, wie das jetzt bei der Kirchensteuer ist). Wie der Pharisäer im
Gleichnis gab er Geld für die Armen und betete häufig. Auch
seine Familie hielt er dazu an. Alles hätte in Ordnung sein können,
wäre da nicht Maccovius gewesen, sein Kollege.

Der nämlich machte eine ganz andere Rechnung auf. Wenn, so sagte
er sich, ohnehin alles von Gottes Gnade abhängt, die ich mir nicht
verdienen kann und auf die ich ganz und gar angewiesen bin, dann will
ich auch nicht den Anschein erwecken, als könne man „durch
des Gesetzes Werke“ etwas dazutun zum eigenen Heil. Im Gegenteil,
wenn Gott dem Sünder gnädig ist, dann kommt es auf eine ausreichende
Zahl von Sünden an! Und Maccovius bemühte sich, seine Sache
ebenso recht zu machen wie sein Kollege, nur eben anders. Zur Vorlesung
kam er meistens zu spät, er war schlecht gekleidet, häufig
betrunken und hatte jede Menge Spielschulden, dafür aber auch einige
Freundinnen, die sich den Spaß was kosten ließen. Wegen seines
eher unsoliden Lebenswandels war auch sein Privatleben alles andere als
harmonisch – heute würden wir sagen: eine gescheiterte Existenz.

Doch wurde Maccovius darauf angesprochen, wurde ihm gar sein Kollege
Amesius als Vorbild hingestellt, dann reagierte er meist mit einem Hinweis
auf unseren Predigttext. Ein Pharisäer sei der andere, der seine
Frömmigkeit zur Schau stelle und sich „allzu fromm“ fühlte.
Amesius pflegte dann sofort zu kontern und von der Scheinheiligkeit der
Zöllner zu sprechen, die Gottes Gnade weidlich ausnutzten, indem
sie sich einfach hinstellten und mit dem Satz: „Gott, sei mir Sünder
gnädig“ alles rechtfertigten, was sie angestellt hätten.
Als ob Glaube nicht eine Lebensänderung, eine Umkehr zum Guten in
sich trüge… .

Wer mag den Streit der beiden entscheiden? Wer von beiden hat den Sinn
des Gleichnisses vom Pharisäer und vom Zöllner verstanden?
Ich denke: Keiner von beiden! Und ich sage das nicht, weil mir diese
Menschen wie Amesius immer suspekt waren, die so unheimlich sicher durchs
Leben gehen, bei denen es keine Kompromisse, keine Brüche in der
Biographie gibt und nicht den Hauch eines Zweifels. Ich sage das aber
auch nicht, weil es mir fadenscheinig und ungerecht vorkommt, die Unverfügbarkeit
der Gnade Gottes als Ausrede für einen grundsätzlichen Mangel
an Selbstdisziplin und Verbindlichkeit zu benutzen. Ich sage: Keiner
von beiden hat Recht, und: keiner von beiden hat das Gleichnis wirklich
verstanden, weil Jesus selbst am Schluß des Predigttextes weder
den allzu Frommen noch den hartnäckig Unfrommen recht gibt: „Denn
wer sich selbst erhöht, der wird erniedrigt werden; und wer sich
selbst erniedrigt, der wird erhöht werden.“ Zwar ist es tatsächlich
problematisch, durch eigenes frommes Tun plötzlich aus dem Anspruch
Gottes an uns – Gutes zu tun, mit anderen zu teilen, die 10 Gebote
halten und was alles mehr – aus diesem Anspruch von außen
also einen eigenen Anspruch zu machen, den Anspruch nämlich, daß man
von sich aus dem von Gott Geforderten selber genügen könne
und wolle. Aber genau das ist ja auch das Mißverständnis des
Professor Maccovius. Der bringt sich selbst in die Position des Zöllners
und stellt sich unter die Gnade Gottes, aber nicht, weil ihm sein vergangenes
Leben nun auf einmal falsch und verfehlt vorkäme, sondern weil er
sich diese Zöllner-Position bewußt ausgesucht hat und in ihr
wohl fühlt – und sich deshalb genauso „selbst erhöht“ wie
der Kollege Pharisäer. Aber die „Moral“ unseres Predigttextes
lautet nicht: Werdet alle Zöllner, werdet alle korrupt, habgierig,
rücksichtslos, ohne Rückgrat, „damit die Gnade um so
reichlicher wirke“. Und sie heißt auch nicht: „Wehe
euch, wenn ihr euch um das Einhalten der Gebote Gottes müht, weh
euch, wenn ihr Geld für die Armen spendet und feste Zeiten des Gebetes
einhaltet.“ Die Moral des Predigttextes lautet: Wenn ihr Gutes
tut oder betet, so schaut nicht nach links oder rechts, um euch mit anderen
zu vergleichen und euch selbst zu versichern, daß ihr eure Sache
besonders gut macht. Wenn ihr Gutes tut oder betet, dann wißt,
daß ihr gemeinsam unterwegs seid mit denen, die gerade erst angefangen
haben auf dem Weg des Glaubens, die zum ersten Mal vor Gott standen mit
dem Satz „Herr, sei mir Sünder gnädig.“ – Ich
muß das gar nicht weiter auf unsere Situation übertragen.
Jede und jeder von uns mag bei sich selbst bedenken, wie es sich verhält.
In unseren Gruppen und Kreisen etwa, ob da auch nachgefragt und nachgezählt
wird, wie tüchtig und engagiert die anderen sind. Im Kirchengemeinderat
oder beim Gemeindefest, an unseren Arbeitsplätzen und in den Familien
gilt’s: Jeder und jede tue das seine oder ihre dazu, ohne zu messen
und zu vergleichen, in dem Bewußtsein, daß Pharisäer
und Zöllner bei ihrem Gebet im Tempel nebeneinander stehen und miteinander
angewiesen sind auf die Gnade Gottes. Dieses gemeinsame Gebet kann dann
schon dazu beitragen, daß einer dem anderen hilft, sein Leben neu
zu organisieren – aber nur dann, wenn der andere schon soweit ist,
daß er das auch will. Dieses gemeinsame Gebet lenkt den Blick weg
vom Nachbarn und bewahrt davor, ihn ständig zu vergleichen und einzuordnen,
aus ihm wahlweise einen Pharisäer oder einen Zöllner zu machen.
Dies gemeinsame Gebet richtet uns aus auf unseren Herrn und lehrt uns,
so zu leben, wie er es will – als die Auserwählten und Geheiligten,
als die Hilfreichen und Mitleidenden, als die Schuldbeladenen und Dankbaren:
zweifelnd und glaubensstark, kraftlos und mutig zugleich. Nicht mehr
und nicht weniger. Wenn wir das begriffen haben, dann ist die Geschichte
vom Pharisäer und vom Zöllner „entschärft“ und
kann nicht mehr als Waffe gegen andere gerichtet werden. Dann können
wir gemeinsam einstimmen in das Lob Gottes, wie es auch im nächsten
Lied (wenn Sie wollen, sogar vierstimmig) zum Ausdruck kommt: „Ich
singe dir mit Herz und Mund, Herr, meines Herzens Lust, ich sing und
mach auf Erden kund, was mir von dir bewußt.“ Amen.


Pfarrerin Gerlinde Feine
Rohrgasse 4
72131 Ofterdingen
gerlinde.feine@cityinfonetz.de

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