Lukas 2, 15

Lukas 2, 15

Liebe Gemeinde,
Weihnachten hat uns ganz in seinen Bann geschlagen. Heiligabend war der
Höhepunkt. Der Baum, die Geschenke, der Gottesdienst, der Glanz der
Kerzen, die Lieder im Radio, im Fernsehen, die vielen Erinnerungen an
früher, an vergangenen Glanz vergangener Weihnachtsfeste.

Kommt es Ihnen auch manchmal: das Gefühl, das sollte
anhalten, weitergehen, immer weitergehen oder doch wenigstens eine Weile,
ein paar Tage. Mancher möchte es gern verlängern, dieses Fest.
Und es bedrückt ihn, dass der Alltag es so schnell wieder ablöst.
Es zerrinnt unter den Händen, und er möchte es doch so gern
festhalten.

Aus diesem Gefühl heraus sagt jemand vielleicht: „Jetzt
war gestern erst Weihnachten, und heute streitet ihr (oder streiten wir)
schon wieder.“ Ob es uns in diesem Jahr gelingt, etwas von dem Glanz
der Weihnacht, von der Freiheit, Gefühle haben zu dürfen, von
der Erfahrung einer friedlichen Nacht hinüberzuretten in den Alltag,
der schon wieder begonnen hat?

Mancher andere wird erleichtert sein: „Endlich ist
das Fest vorüber, endlich das hinter mich gebracht, was so viel Arbeit
bereitet hat oder mit soviel Peinlichkeit nur ablief.“ Er wird aufatmen
und sich freuen, dass ihn der Alltag wieder hat.

Die paar Tage noch bis Neujahr sind ganz angenehm: ein bisschen
ausspannen, ein bisschen Zeit für Dinge, die sonst zu kurz kommen,
aber dann ist es gut, dass das geregelte Leben wieder beginnt. Denn es
ist auch strapaziös, für etliche Tage zur Untätigkeit verurteilt
zu sein, zum Aushalten der Familie. Wie schnell ist man da gereizt, wie
viel angestauter Ärger, wie viel verdrängte Schwierigkeiten
manchen sich da Luft – und das in Tagen, die doch friedlich sein sollten.

So wird mancher zwischen beidem stehen: zwischen dem Wunsch,
Weihnachten zu verlängern, und der Hoffnung, es möge bald vorbei
sein.

Es ist wie bei einem Kind, das heranwächst. Erst, wenn
es noch klein ist, hilflos, sind wir gerührt, und unser Mitgefühl,
unser Elterninstinkt ist herausgefordert. Wir nehmen es in die Arme und
wissen nicht, ob wir mehr Liebe und Wärme und Zartgefühl geben
oder empfangen. Diese Erfahrung möchten wir festhalten, dieses Gefühl
bewahren.

Dann vermerken wir es dennoch mit Erleichterung, dass das
Kind heranwächst, selbständiger wird, nicht mehr in allem auf
unsere Hilfe angewiesen ist. Wir sind stolz. Doch dann stellen wir fest,
dass damit die Beziehung zu dem Kind, die Gefühle, die eigenen und
die des Kindes, sich ändern – und wir sind traurig. Die Wonne, das
Entzücken des Anfangs ließ sich nicht festhalten. Der Alltag
holt uns ein.

Setzt mit dieser Erfahrung nicht auch der Predigttext ein?
„Als die Engel von ihnen zum Himmel fuhren …“ Gerade noch
war der Glanz da, gerade noch war ein Wunder zu bestaunen. Jetzt ist es
vorüber. Die Hirten stehen da, die Engel und die Klarheit des Herrn
sind von ihnen gewichen. Sie bleiben zurück in ihrer Welt. Werden
nicht etwa entrückt, wunderbar weggeführt zur Krippe hin.

Nein, sie bleiben Hirten auf dem Feld. Ein paar zerlumpte
Gestalten, keineswegs festlich gekleidet, keineswegs schön anzusehen.
Sie haben weiterhin den Geruch der Tiere in den Kleidern, denn sie müssen
draußen bei ihnen schlafen. Sie sind weiterhin schief angesehene
Gesellen, denn welcher anständige Mensch, der einen ordentlichen
Beruf erlernt hat, verdingt sich schon zum Viehhüten? Sie bleiben
auf dem harten Boden dieser Welt stehen, den sie nur zu gut kennen.

Und doch: Ist denn nicht doch etwas geändert unter
diesen Männern?
Der Glanz von Weihnachten hat sie angerührt. Sie haben die Engel
singen hören. Etwas hat sie angerührt, etwas Seltsames, Fremdes
und sehr Schönes, etwas Wunderbares. Es hat sie aufhorchen lassen
im Trott des Alltags, hat sie aufgestört, hat sie aufgeschreckt und
auf die Beine gebracht.

Sie blieben allerdings nüchtern. Sie zogen los und
wollten mit eigenen Augen sehen, was es mit dem auf sich hatte, was sie
Großartiges von den Engeln erfahren haben.

Was sie sehen, ist wenig genug: ein Elternpaar, ein Baby
in einer Futterkrippe, armselig, ein krasser Kontrast zu den prächtigen
Chören, die sie gehört hatten. Harte Wirklichkeit, nicht watteweicher,
voriger Traum. Aber was sie draußen erfahren hatten, hat sich bestätigt.
Noch unglaublich zwar, aber immerhin so, wie es angekündigt war.
Der also soll der Retter der Welt sein. Der Mensch, der dieser Welt aufhelfen
kann, sie auf den rechten Weg bringen kann, der Gott in ihr sichtbar macht.
Sie sagen es weiter, und sie jubeln und danken und loben Gott.

Ja, die Hirten hatten ihr wunderbares Erlebnis. Aber wir?
Uns singen keine Engel, uns öffnet sich nicht der Himmel. Wir warten
vergeblich auf ein religiöses Erlebnis.

Liegt es daran, dass wir uns so schwer tun mit dem Weihnachtsfest
und dem Alltag? Auch das Fest hat ja kaum den Glanz, den die Hirten damals
umstrahlte. Es verblasst rasch und gerät dann wieder aus dem Blick.

Doch sind wir wirklich so viel schlechter dran als die Hirten?
Nicht im Gegenteil viel besser dran? Auch wenn wir nicht zur Krippe gehen
können? Wir haben ja viel mehr als sie.

Wir kennen Jesus nicht nur als Kind, sondern als erwachsenen
Mann. Wir haben die Geschichten, die uns erzählen, wie er lebte,
wie er dachte, was er tat. Geschichten, wie er Menschen begegnete und
wie sie in seiner Nähe auflebten, wieder auf die Beine kamen und
zu ganzen, heilen Menschen wurden. Geschichten über ihn, die zeigen,
wie glücklich er lebte – im Vertrauen auf Gott, den Vater, frei von
der Angst, die Menschen sonst so umtreibt, frei von der Sorge, die unser
Leben doch so weitgehend prägt. Geschichten, die uns einladen zu
dem gleichen Vertrauen, wie er es hat. Geschichten, die uns Gott zeigen
als den liebenden Vater. Geschichten, die uns anstiften wollen, zu leben
wie er, weil er lebte, wie Gott es für Menschen will: in Freiheit,
Freude, Gelassenheit, Vertrauen, Liebe, Bereitschaft zur Vergebung und
unbeugsamer Geradheit.

Das kennen wir von ihm – viel mehr, als die Hirten in der
Krippe sehen konnten. Sicher: der Alltag holt uns wieder ein. Aber der
Mann, an dessen Geburt Weihnachten erinnert, ist Teil dieses Alltags,
denn er ist in unsere Welt eingegangen. Gott hat sich in diese Welt eingemischt.
Er hat seine Spuren in ihr hinterlassen. Dort ist er daher auch zu finden.
Wir müssen ihn nur aufspüren, entdecken.

Dazu brauchen wir dem Alltag gerade nicht zu entfliehen.
Wir brauchen nicht das Fest gewaltsam zu verlängern. Wir müssen
nur auf unserem Weg die Augen offen halten für Gottes Angebot, das
mit Jesus in die Welt kam.

Wir werden seine Spuren erkennen: Wenn wir Ruhe finden und
Besinnung. Wenn uns aufgeht, was die Geschichten, die wir von ihm kennen,
mit unserem Leben zu tun haben. Wenn wir die Freiheit finden, jemandem
zu verzeihen und Schuld nicht länger nachzutragen, oder selbst um
Verzeihung zu bitten. Wenn wir erfahren, dass es Hilfsbereitschaft und
Liebe unter Menschen gibt. Wenn wir Schwierigkeiten, die wir miteinander
haben, besprechen, statt sie vor uns herumschieben. Wenn wir bei allem,
was uns Angst macht, dennoch Mut verspüren und Freude.

So wird uns deutlich, dass Gott für uns Menschen da
ist – in unserer alltäglichen Erfahrung. So trifft uns „die
große Freude, die dem ganzen Volk widerfahren wird“: uns ist
der Heiland geboren, der uns helfen will zu leben. Und wir haben Grund
zum Jubel, zum Dank und zum Lob – auch nach den Feiertagen.

Pfarrer Dr. Werner Schwartz
Evangelische Diakonissenanstalt, 67343 Speyer am Rhein
w.schwartz@ev-diakonissenanstalt-speyer.de

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