Lukas 2,1-20

Lukas 2,1-20

Weihnachten 2022 | 24.12.2022 | Lukas 2, 1-20 | Ulrich Nembach |

Liebe Gemeinde,

die Weihnachtsgeschichte beginnt mit einem Befehl des Kaisers Augustus aus dem fernen Rom. Der Ort wird nicht genannt, sondern mit Recht als bekannt vorausgesetzt. Heute sagt auch niemand „Putin in Moskau“. Unsere Art zu reden hat mancherlei Konstanten. Ausdrucksweisen ähneln einander über Jahrhunderte, ja Jahrtausende hinweg.

Unser Denken hingegen ist von Bildern geprägt. Wir sehen Maria und Joseph nach einer Herberge suchen. Sie gehen von Haustür zu Haustür; stets werden sie abgewiesen. So stellen es unsere Krippenspiele dar. Die Bibel berichtet nichts von der Suche nach einer Herberge durch das Paar aus Nazareth.

Es hat eine lange Reise voller Strapazen hinter sich. Die beiden werden völlig erschöpft gewesen sein. Unter heutigen Bedingungen dauert der Fußweg von Nazareth nach Bethlehem laut Google Maps drei bis dreieinhalb Stunden. (Karten für die damalige Zeit hat Google leider noch nicht vorgelegt.) Maria war hochschwanger. Das Paar musste mit Sicherheit zahlreiche Pausen machen. Seine Reise könnte 12 bis 15 Stunden gedauert haben, vermute ich.

Und auch an solchen Überlegungen ist die Bibel nicht interessiert. Sie erwähnt gezielt, knapp, die Geburt und lenkt das Augenmerk anschließend gleich auf deren Folgen. Als erstes hält sie fest, dass das Neugeborene wie jedes Neugeborene in Windeln gewickelt wird. (Pampers wurden erst 1961 erfunden.)

2.

Im Zentrum der Geschichte stehen die Reaktionen von Menschen auf diese Geburt. Die ersten, die von ihr hören, sind Hirten. Sie werden vorgestellt: Sie sind nachts auf dem Feld und hüten ihre Herde. Es ist das Übliche, was Hirten zu dieser Uhrzeit tun.

Doch dann ändert sich die Szene plötzlich. Es wird hell. Die Männer erschrecken. Der Engel des Herrn tritt zu ihnen. Sie werden umgeben von göttlichem Lichtglanz. Sie, einfache Hirten auf dem Felde! „Sie fürchteten sich sehr“, heißt es beim Evangelisten Lukas. Mit diesen Worten beschreibt er ihre Reaktion. Man darf durchaus annehmen, dass es Panik war, panische Angst, die sie ergriff.

Der Engel bemerkt das und spricht sie freundlich an: „Fürchtet euch nicht!“ Er kommt mit einer Freudenbotschaft, einer Sensation, ja, der Sensation – der Sensation bis zum heutigen Tag, mehr als 2000 Jahre danach –: Christus wurde geboren, der Herr, der Retter! In Bethlehem, in ihrer Nähe, kam er zur Welt.

Der Engel fordert die Hirten nicht auf, dort hinzugehen; es versteht sich von selbst, dass sie das tun werden. Er gibt ihnen lediglich ein Erkennungszeichen mit auf den Weg: Sie „werden finden das Kind in Windeln gewickelt und in einer Krippe liegen.“

Damit ist alles gesagt. Alles? Nein, der Engel bekommt sozusagen unvermittelt Verstärkung. „Alsbald war bei ihm“, wie Luther übersetzt, „die Menge der himmlischen Heerscharen“. Ihn umgaben Scharen des himmlischen [Engel]Heers. Sie priesen Gott und sprachen: „Ehre sei Gott in der Höhe und Friede auf Erden bei den Menschen seines Wohlgefallens!“ – In der poetischen Übertragung von Walter Jens (1991): „In den Himmeln Gottes Macht, Licht und Herrlichkeit / auf der Erde Gottes Frieden, Frieden allen, die er liebt!“

Danach ist von den Engeln keine Rede mehr. Die Engel kehren in den Himmel zurück. Das Weitere ist menschliches Agieren, ist menschliche Reaktion.

3.

Die Hirten beraten und beschließen, sofort aufzubrechen. Sie lassen alles stehen und liegen. Die Herde bleibt allein. Sie haben es eilig, zu sehen, was da geschehen ist.

Sie kommen nach Bethlehem und finden „beide, Maria und Josef, dazu das Kind in der Krippe liegen“. Die Beschreibung war konkret. Sie sehen das Kind und verbreiten überall, „was zu ihnen von diesem Kinde gesagt war“. Sie erzählen es im Stall. Sie erzählen es allen Menschen, auf die sie treffen. Diese können es kaum glauben. Sie wundern sich. Sie sind erstaunt. Das ist kein Wunder. Wir staunen noch immer, auch heute, gut 2000 Jahre später.

Freilich, nicht wenige unter uns scheinen das Staunen verlernt zu haben. Sie wenden sich ab. Manche verzichten von vornherein darauf, sich mit dem unglaublich Staunenswerten zu befassen. Sie wollen sich auf nichts einlassen. Andere grübeln und argumentieren. Sie verweisen auf Elend und Not in der Welt, Ungerechtigkeit und Krieg, der in diesem Jahr mit dem Krieg in der Ukraine bei uns zum allgegenwärtig bedrückenden Thema geworden ist. „Wie kann Gott das zulassen?“ fragen sie, klagen sie.

Gottes Antwort ist befremdlich. Er kam vor rund 2000 Jahren als Kind in einem Stall in Bethlehem zur Welt. Auch damals gab es Kriege und Unrecht. Wir, wir in unseren Zeiten, haben in dem, was wir einander antun, wohl eher noch Fortschritte gemacht. Aber Gott hat gehandelt, und er gibt uns nicht auf.

Davon zu reden, das zu begreifen, haben Menschen sich über die Jahrhunderte hinweg bemüht. Wir sind in guter Gesellschaft, wenn auch wir das tun. Überdies gibt es Wegbereiter, die uns ein Beispiel geben.

1653 etwa. Der Dreißigjährige Krieg in Europa war erst seit fünf Jahren vorbei, als der Dichter Paul Gerhardt im Advent einen seiner wirkmächtigsten Liedtexte schuf. „Wie soll ich dich empfangen und wie begegn´ ich dir?“ fragt er. Es ist eine echte Frage. Deshalb bittet er Jesus, selber für die rechte Antwort zu sorgen.

Seit 1653 steht das Lied in unseren Gesangbüchern. Wir singen es noch immer im Advent. Zugleich gehört es für uns wie selbstverständlich zum Weihnachtsfest. Johann Sebastian Bach nahm die erste Strophe des Liedes in die erste Kantate seines Weihnachtsoratoriums auf, vorgesehen für den ersten Weihnachtstag. „Wie soll ich dich empfangen?“ fragt der Chor stellvertretend für die Gemeinde, bevor der Evangelist dann den biblischen Bericht von Jesu Geburt (Lk 2,7) vorträgt.

„Wie soll ich dich empfangen?“ ist die Frage des Heiligen Abends, real für uns heute. Und so feiern wir Weihnachten aufs Neue, beginnend mit dem Lied:

O du fröhlich e, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtzeit!
Welt ging verloren, Christ ist geboren:
Freue, freue dich, o Christenheit!

O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!
Christ ist erschienen, uns zu versühnen:
Freue, freue dich, o Christenheit!

O du fröhliche, o du selige,
gnadenbringende Weihnachtszeit!
Himmlische Heere jauchzen dir Ehre:
Freue, freue dich, o Christenheit!

Amen


Prof. Dr. Ulrich Nembach

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