Lukas 5,1-11

Lukas 5,1-11

Predigt zu Lukas 5,1-11, verfasst von Walter Meyer-Roscher


Predigttext:

Es begab sich aber, als sich die Menge zu Jesus drängte, um das
Wort Gottes zu hören, da stand er am See Genezareth und sah zwei
Boote am Ufer liegen; die Fischer aber waren ausgestiegen und wuschen
ihre Netze. Da stieg er in eins der Boote, das Simon gehörte, und
bat ihn, ein wenig vom Land wegzufahren. Und er setzte sich und lehrte
die Menge vom Boot aus. Und als er aufgehört hatte zu reden, sprach
er zu Simon: „Fahre hinaus, wo es tief ist, und werft eure Netze
zum Fang aus!“ Und Simon antwortete und sprach: „Meister, wir
haben die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen; aber auf dein Wort
will ich die Netze auswerfen.“ Und als sie das taten, fingen sie
eine große Menge Fische, und ihre Netze begannen zu reißen.
Und sie winkten ihren Gefährten, die im anderen Boot waren, sie
sollten kommen und mit ihnen ziehen. Und sie kamen und füllten beide
Boote voll, so dass sie fast sanken. Als das Simon Petrus sah, fiel er
Jesus zu Füßen und sprach: „Herr, geh weg von mir! Ich
bin ein sündiger Mensch.“ Denn ein Schrecken hatte ihn erfasst
und alle, die bei ihm waren, über diesen Fang, den sie miteinander
getan hatten, Ebenso auch Jakobus und Johannes, die Söhne des Zebedäus,
Simons Gefährten. Und Jesus sprach zu Simon: „Fürchte
dich nicht! Von nun an wirst du Menschen fangen.“ Und sie brachten
die Boote ans Land und verließen alles und folgen ihm nach.

Liebe Gemeinde,

„Die ganze Nacht gearbeitet und nichts gefangen“ – da
kann man als Fischer am See Genezareth schon resignieren. Wir hören
die Resignation heraus und denken gleichzeitig: Das kennen wir doch.
Das ist uns nicht fremd: Sich abmühen ohne Erfolg, sich engagieren
ohne Anerkennung, Lebenskraft und Lebenszeit investieren ohne Sinn. Wer
hat das nicht schon erlebt? Viele werden von solchen Erfahrungen niedergedrückt.

Eine depressive, müde Grundstimmung droht sich in unserer Gesellschaft
breit zu machen. Die Ahnung wächst, dass die Forderungen nach Effektivität
und Produktivität einen hohen Preis haben und leicht zu Lasten der
Lebensqualität gehen können. Das alte Lied der Klage verstummt
nicht. Aber die Sehnsucht nach ein bisschen Glück lässt sich
auch nicht ausrotten. Die Hoffnung auf Lebenserfüllung lässt
sich nicht verschütten.

Wer daran festhalten will, muss sich allerdings auf eine Zumutung einlassen,
die aller Erfahrung widerspricht. „Fahre hinaus, wo es tief ist“ – ja,
für einen erfahrenen Fischer wie Simon, der später Petrus heißen
soll, ist es eine fast unerträgliche Zumutung. Wo es tief ist, gibt
es keinen Fisch zu fangen. Das weiß man am See Genezareth. Man
hält sich an die bewährte Regel: Dunkel sollte es sein, und
man sollte in Ufernähe bleiben. Das ist jedenfalls eine wichtige
Voraussetzung für die ohnehin nicht üppigen Erfolge, für
Lebensunterhalt und Überleben.

Kann das gut gehen, wenn wir die Lebenserfahrungen, die den Erfolg garantieren
sollen, vergessen? Können wir es uns leisten, die ungeschriebenen
Gesetze unserer Welt zu missachten? Darum geht es doch heute: Mit scharfem
Verstand planen und dann zielorientiert handeln, ohne sentimentale Erinnerungen
zu kultivieren! Den Markt als absolute Autorität anerkennen und
den anderen immer um eine Nasenlänge voraus sein, ohne sich von
Gefühlen beeinflussen zu lassen! Den Fortschritt von Wissenschaft
und Technik vorantreiben, ohne sich zu sehr in Skrupeln zu verlieren!
Diese Gesetze versprechen Erfolg, und darum gilt es, aus Niederlagen
wieder aufzustehen, Frustration und Depression tapfer zu überwinden,
gegen das Gefühl der Leere und des Ausgebranntseins anzukämpfen.
Dann wird sich das Leben schon irgendwann und irgendwie lohnen.

Können wir es uns leisten, diese täglichen Forderungen einmal
zu überhören und auf die unmögliche Zumutung einzugehen,
Lebenserfüllung jenseits der angeblich unumstößlichen
Gesetzmäßigkeiten einer Leistungsgesellschaft zu suchen?

Garantien werden nicht gegeben – so wie auch Simon damals nur
die Aufforderung hört: „Fahre hinaus, wo es tief ist!“ Trotzdem
hat er es als Ermutigung verstanden, im alten Leben einen neuen Anfang
zu wagen: „Auf dein Wort hin!“

Da geht es nicht mehr um das Vertrauen auf die eigenen Lebenserfahrungen,
die eigenen Berechnungen und Planungen, die eigenen Kräfte und Fähigkeiten.
Da soll auch nicht die Hoffnung weiterhelfen, dass neue Techniken das
Leben freundlicher und lebenswerter machen können.

„Auf dein Wort hin wage ich es“, sagt Simon. Und damit kommt
eine ganz neue Kraft ins Spiel: Das Wort dessen, der von Gott her denkt,
Gottes Willen zum Maßstab des Handelns macht und Gottes Liebe den
Menschen nahe bringen will. Davon hat Jesus vom Fischerboot aus zu der
Menge am Ufer geredet, und die kleine Gruppe der Fischer um Petrus hat
es auf sich bezogen. In seinen Worten haben diese Menschen Gottes Nähe
gespürt. Darum wagt Petrus, auf die Zumutung mit der Bereitschaft
zu neuem Einsatz zu reagieren.

Das Wagnis gelingt. Die bei jeder Ausfahrt gegenwärtige Hoffnung,
dass der Einsatz nicht vergeblich ist und dass Leben sich doch lohnt,
wird Wirklichkeit.

Was im Lukasevangelium von diesem wunderbaren Erlebnis der Fischer berichtet
wird, hat seinen tieferen Sinn bis heute nicht verloren: Gegen alle bösen
Erfahrungen von vergeblicher Mühe, von Niederlagen und Erfolglosigkeit
gibt es erfülltes und sinnvolles Leben. Allerdings wird uns eine
andere als die gewohnte Blickrichtung zugemutet und eine neue Art von
Denken abgefordert: Die Gesetzmäßigkeiten von Leistung und
Erfolg, von Berechnung und Planung, nach denen wir unser Leben auszurichten
gelernt haben, verlieren ihre überragende Bedeutung.

Gelingendes Leben hängt nicht in erster Linie von den Erfolgen
ab, mit denen die Tüchtigen und Beharrlichen rechnen. Gelingendes
Leben ist nicht logisches Ergebnis rationaler Planung und menschlichen
Wagemuts. Ausschlaggebend ist schließlich, dass Gott in den Blick
kommt, so wie Jesus von ihm geredet hat. Er misst den Wert eines Lebens
nicht nach unseren gewohnten Kriterien. Er sieht das Herz an, heißt
es schon im Alten Testament. Er wendet sich gerade den Verlierern, den
Müden und Ausgebrannten zu. Unwertes Leben gibt es in seinen Augen
nicht.

Sich für Gottes Wertschätzung des Lebens offen halten, das
ist eine neue und vielleicht ganz ungewohnt Lebenseinstellung. Da erfährt
ein Mensch: Ich bin Gott unendlich viel wert. Ich brauche mich nicht
vor anderen zu verstecken. Ich muss nicht ständig auf meine Misserfolge
starren. Ich brauche mich nicht aufzugeben, weil Gott mich nicht aufgegeben
hat. Ich kann jeden Tag einen neuen Anfang wagen – aber in einem
neuen Geist.

Darauf läuft die alte Geschichte vom neuen Anfang des Simon Petrus
zu: Von nun an sollst du Menschen fangen – nicht wie der Rattenfänger
von Hameln und wie alle die modernen Rattenfänger mit ihren Glücksversprechungen,
die uns nur für ihre Interessen vereinnahmen und benutzen, die uns
am liebsten wir zappelnde Fische in ihrem Netz sehen wollen.

Jesus meint einen anderen Auftrag, der gleichzeitig eine neue Herausforderung
ist: Menschen gewinnen durch unbedingte Nächstenliebe, Menschen
gewinnen für eine neue Werteordnung, die auf Gottes Wertschätzung
jeden Lebens beruht.

Eine neue Erfahrung, die auch neue Kräfte freisetzt: Zur Lebenserfüllung,
zum Menschein gehört doch auch, für andere dazusein, für
andere einzutreten, mit anderen zu teilen, was wir haben, was andere
brauchen mit in unsere Zukunftsplanungen und Vorstellungen, in unsere
Sehnsucht nach Glück einzubeziehen.

Von nun an sollst du Menschen fangen. – Wer im Geist Jesu zu denken
lernt, wird dieses „Fangen“ als „Auffangen“ verstehen
und dabei an die denken, die von den alten Erfahrungen der Vergeblichkeit
des Lebens niedergedrückt werden und abzustürzen drohen.

Hier öffnet sich der Horizont unserer Geschichte vom wunderbaren
Fischfang. Auftrag und Verheißung der Kirche Jesu Christi kommen
in den Blick. Jede Gemeinde spürt die Herausforderung, Menschen
in ihrer Mitte aber auch an ihren Rändern aufzufangen. Menschsein,
Lebenserfüllung ist schließlich nicht ohne Gemeinschaft denkbar – die
Gemeinschaft aller, die Gottes Wertschätzung des Lebens in ihre
Sehnsucht nach Lebenserfüllung und Glück einbeziehen und damit
neu leben lernen.

Wir brauchen diese Gemeinschaft, die bereit ist, Gottes Werteordnung
in das Leben unserer Gesellschaft einzubringen. Eine gute Perspektive
für unsere Kirche und für jede Gemeinde: Auf Berechnung und
Planung, Marketing und zielgerichtete Personalführung, Finanzpläne
und Strukturdiskussionen kommt es weniger an. Wichtig ist letztlich das
Vertrauen auf eine Anziehungskraft, die uns selbst mit Leben erfüllt
und andere mit Leben ansteckt, mit Glaube, Hoffnung und Liebe. Das ist
eine Verheißung, und das bleibt eine Herausforderung.

Amen


Walter Meyer-Roscher
Landessuperintendent i.R.
Adelogstraße 1
31141 Hildesheim
meyro-hi@t-online.de

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