Lukas 6,36-42

Lukas 6,36-42

Der Splitter und der Balken im eigenen Auge | 4. Sonntag nach Trinitatis | 02.07.2023 | Lukas 6,36-42 (dänische Perikopenordnung) | Eva Holmegaard Larsen |

Spar dir deine Ermahnungen! Wie sollte ich mich ungesehen entfalten – wenn der ganz kleine Splitter, der immer nach dir bleibt, meine ganze Person aufbläst zu einem großen Finger, der pocht?[1]

Es ist immer gut, mit Benny Andersen zu beginnen, dem großen dänischen Dichter. Wieder trifft er genau das, worum es geht. Er hat wohl an Jesus und das Gleichnis vom Splitter und dem Balken gedacht.

Der ganz kleine Splitter, der immer nach dir bleibt. Da sind viele Splitter zwischen uns. Beleidigungen, Kritik und Vorwürfe. Manchmal aus nichtigem Anlass. Ein anklagender Blick, ein kleines Zögern am falschen Ort. Eine unbedachte Bemerkung, ungesagte Worte, ein bedrückendes Schweigen.

Heute gibt es auch viele Worte, die man lieber nicht sagen soll. Ganz gleich in welchem Kontext, es gibt Worte, die sich wie Splitter ins Fleisch graben und wie ein entzündeter Finger anschwellen. Die Gefahr, Anstoß zu erregen oder jemanden zu verletzen ist immer akut. Komplimente sind ein Minenfeld und flirten soll man schon gar nicht.

Und hat man erst einen dicken Finger, kann man dasitzen und auf ihn starren – wie ein Splitter im Auge, der den Blick verzerrt, so dass man nur die Fehler der anderen sieht  aber nie seine eigenen.

Das ist es, wovor das Evangelium warnt. Nimm den Splitter heraus. Man kann unmöglich klarsehen, wenn der Blick vernebelt ist von Gekränktheit und Wut und wenn man sich gedemütigt und missverstanden fühlt.

Das gilt im Großen wie im Kleinen. Viele blutige Kriege gibt es zwischen Nationen, die nur den Balken im Auge des Anderen sehen. Man denke an den Krieg zwischen Russland und der Ukraine. Die Russen – oder jedenfalls ihr Führer – sehen sich selbst als das große Opfer. Der Splitter im eigenen Auge ist entsetzlich entzündet, und das kostet jeden Tag Menschenleben.

„Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“, sagt Jesus. Das ist eine Möglichkeit, die wir haben, weil wir von Gott geschaffene Wesen sind. Geschaffen mit der Fähigkeit zu lieben. Geschaffen, liebevoll zu sein, vergebend, freigiebig und großzügig. Wir haben es in uns. Das gibt es.

Hans Christian Andersen h at blendend von dem Splitter im Auge erzählt in seinem berühmten Märchen von der „Schneekönigin“. Bei dem Text dieses Tages kommt man schwer vorbei an dem Jungen Kay, der einen unsichtbaren Zaubersplitter ins Auge bekommt.

Der Splitter stammt von dem Zauberspiegel des Teufels. Und das ist der Spiegel, der alles Gute und Schöne in etwas verwandelt, was verzerrt und hässlich ist. Alles, was vorher schön und gut war, ist nun lächerlich und aufgeblasen in Kays Augen.

Und dann können wir damit anfangen aufzuzählen, wie oft wir eben einen Zaubersplitter im Auge haben – manchmal wachen wir auf zu Tagen, wo alles verkehrt ist. Und wo alle, denen wir begegnen, Toren sind, die bloß im Wege stehen. Und wo wir den ganzen Tag nur all das sehen können, was an unserem Leben und mit unseren Nächsten und der Welt falsch läuft.

Da sind Tage, wo wir nur einen Blick haben für all das, was wir nie geschafft haben, all das, was nicht gut genug ist, zu langweilig, verkehrt oder zu viel. Der Zaubersplitter entfaltet sich übrigens am besten in den sozialen Medien.

Und wie Kay im Märchen, können wie den Zaubersplitter selbst nicht sehen, wenn er in unser Auge gekommen ist. Denn dann kann man sich selbst nicht von außen sehen. Wir können den Balken in unserem eigenen Auge nicht sehen – aber wahrlich gut den Splitter im Auge des Bruders. Und wie ergeht es Kay? Er isoliert sich und lebt dann verfroren und allein im Palast der Schneekönigin.

Eine der Pointen in dem Märchen von H.C. Andersen ist, dass das Gesehene von den Augen abhängt, die sehen. Auf einem Bild der französischen Malers Rene Margritte sieht man ein riesengroßes Auge. Das Bild heißt: „Der falsche Spiegel“.

Das Auge ist himmelblau und so gemalt, dass man das Blau mit dem Himmel verbindet, und da treiben Wolken im Blau des Himmels. Das Auge ist blau, aber die Pupille ist schwarz. Und nicht nur schwarz, sondern pechschwarz – wie ein großes schwarzes Loch.

Hier in diesem Auge kann man sich entweder in einem himmelblauen Licht spiegeln, oder in einem schwarzen Loch verschwinden und zu nichts werden. Was erzählt Margritts Bild? Und warum heißt es „Der falsche Spiegel“?

Vielleicht weil das menschliche Auge in der Tat ein falscher Spiegel ist? Es kann abwerten und auch überbewerten. Im menschlichen Auge liegt sowohl die Anlage hell und finster auf den zu sehen, der sich in ihm spiegelt. Es besteht sowohl die Möglichkeit, viel mehr zu sehen, als man dachte, aber auch die Möglichkeit, weniger zu sehen, als zu sehen ist. Ja vielleicht ist da gar nichts.

Das menschliche Auge kann mit Liebe sehen und mit Dämonie. Denn das Gesehene hängt ab von den Augen. Und die Augen hängen ab von der Sicht oder der Seele, die hinausblickt. Die Augen hängen von der Grundstimmung ab die hinter ihnen steht und den Blick färbt.

Es kommt darauf an, was in dem vorgeht, der sieht. Verurteilung oder Vergebung? Wovon ist das Herz voll? Ist es Wut und Verbitterung, oder ist es Liebe? Ist das Auge entgegenkommend und offen, oder ist es misstrauisch und abweisend?

Wir Menschen spiegeln uns gegenseitig in unseren Augen. Und wir sind tief von dem abhängig, was wir sehen und was uns begegnet. Es ist deshalb sehr treffend, wenn Jesus eben das Auge verwendet als Bild für den Ort, wo sich zeigt, ob wir erlöst oder verloren sind.

Im Blick auf einander versuchen wir herauszufinden, wer wir sind. Hier suchen wir Anerkennung, Ermunterung, Mut, Trost und Eigenwert. Werde ich gesehen oder übersehen. Werde ich darin bestätigt, dass ich eine Null bin, ein Nichts, untauglich und überflüssig? Oder ist da jemand, der etwas Wunderbares und Schönes und Einzigartiges an mir sieht?

Das Problem des Verletzbaren, so abhängig von einander zu sein, besteht darin, dass da die sind, die nur den Splitter in meinem Auge sehen, weil der Balken in ihrem eigenen Auge den Blick dafür versperrt, dass man in mir auch etwas anderes sehen könnte.

Ist das menschliche Auge ein falscher Spiegel? Das ist es in dem Sinne, dass das, was das Auge sieht, von der Grundgestimmtheit dessen bestimmt ist, der sieht. Das hängt ab vom Willen zu sehen – das ist nicht die Wahrheit über uns, die sich da widerspiegelt, wenn wir nichts anderes sehen können als Verachtung und Gleichgültigkeit in den Augen den anderen. Das ist, weil der andere nichts anderes sehen will. Den jeder kann sehen, was er oder sie will.

Das ist es vielleicht, wovon Jesus spricht, wenn er von Umkehr spricht. Wenn wir von Umkehr hören, denken wir an so etwas wie sich in Sack und Asche kleiden und alleskleinreden.

Aber das griechische Wort für Umkehr „Metaneua“ bedeutet faktisch nur neu denken oder sich umbesinnen.

Bekehrung bedeutet also Neubesinnung. Das bedeutet, den Balken entfernen, der dich daran hindert, deine Umwelt und deine Mitmenschen in einem versöhnlichen, nachsichtigen und barmherzigen Licht zu sehen. Und immer einen Blick zu haben für das Mehr, das in uns allen zu sehen ist. Die Liebe sieht stets mehr.

Wir erging es Kay in H.C. Andersen Märchen? Er konnte sich nicht selbst retten. Das kann keiner. Ein Blinder kann keinen Blinden führen. Aber er wurde von dem Mädchen Gerda gerettet, deren Liebe allem Widerstand trotzte. Sie sieht hinter seine Bosheit, sein Versagen und seine Kälte. Sie sieht das alles, aber sie sieht mehr. Sie sieht, dass Versagen und Kälte nicht die einzige Wahrheit über Kay sind. Kay ist etwas anderes und mehr als der, der sie verlassen hat.

Es gelingt Gerda jedoch nur, Kay zu retten, weil hinter all dem Verfrorenem in ihm eine Sehnsucht wohnt. So wie eine Sehnsucht in uns allen wohnt. Ich denke, dass Paulus auch davon schreibt im Römerbrief: „Denn das ängstliche Harren der Kreatur wartet darauf, dass die Kinder Gottes offenbar werden“, schreibt er, und dass die Schöpfung bis zu diesem Augenblick seufzt und in Wehen liegt“ unter dem Joch der Vergänglichkeit und der Knechtschaft (Römer 8,18-22).

Aber da ist eine Sehnsucht nach dem Licht und der Liebe.  Eine Sehnsucht danach, von all dem befreit und erlöst zu werden, was sich als Balken und Zaubersplitter in unsere Augen legt. Eine Sehnsucht nach unsrem wahren Ich.

Und nur die Liebe kann unser wahres Ich erlösen. Denn nur die Liebe kann klarsehen. Das ist die Botschaft des Evangeliums. „Seid barmherzig, wie euer Vater barmherzig ist“, sagt Jesus. Denn Gott ist barmherzig und sieht mit liebendem Blick auf seine Schöpfung – sieht durch Bosheit und Verrat und Kälte hindurch und sieht das, wozu wir eigentlich geschaffen sind. Unser wahres Ich.

Es ist der Blick der Liebe, der alles Gute glaubt und erwartet. Das war der Blick, den die Welt in Christus sah – er zeigte mit deutlicher Klarheit auf seinem ganzen Weg, dass wir Menschen immer mehr sind als unsere Taten. Dass in uns allen ein Kind Gottes verborgen ist.

Und dieses Kind soll ans Licht geliebt werden. Die Liebe Gottes will uns lehren, uns selbst von Grund auf zu lieben, den Balken aus unseren Augen heraus zu lieben, damit wir besser sehen können! Besser werden, Barmherzigkeit zu zeigen und andere Menschen anzunehmen.

Nicht nur unsere Nächsten, sondern all die unangepassten Menschen aus der Kälte, die in unserer Gesellschaft leben. Den Flüchtling, die schlecht integrierten jungen Leute, die aus purer Verzweiflung randalieren, die merkwürdigen Einzelgänger, die zu keinem normalen Leben fähig sind. Alle die schiefen, sehnsüchtigen Schicksale unter uns.

Da sind so viele, die das brauchen, dass wir weiter und mehr sehen, als unmittelbar zu sehen ist. Lasst uns darum beten, dass wir besser werden, die himmlische Klarsicht widerzuspiegeln, die die Welt so sehr braucht. Amen.


Pastorin Eva Holmegaard Larsen

Nødebovej 24, Nødebo, DK-3480 Fredensborg

E-mail: ehl(at)km.dk


[1] Frei nach einem Gedicht von Benny Andersen

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