Lukas 7, 36-50

Lukas 7, 36-50

 

Göttinger Predigten im Internet
hg. von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


 

11. Sonntag nach Trinitatis,
26. August 2001
Predigt über Lukas 7, 36-50, verfaßt von Paul Kluge


Liebe Geschwister,
Lukas hatte von einem Theophilus den Auftrag übernommen, möglichst
alles über Jesus von Nazareth aufzuschreiben. Er hatte gesammelt,
was es schon gab, hatte auch eigene Nachforschungen angestellt. Sein
Arbeitszimmer sah entsprechend aus, und nicht immer fand Lukas gleich,
was er für seinen Jesus-Bericht suchte.

„Was wühlst du da wieder in den Papieren herum?“ fragte
seine Frau, als sie ihm etwas zu trinken brachte, doch Lukas knurrte
nur vor sich hin und wühlte weiter. „Nun sag schon: Wonach
suchst du denn?“ – „Bitte? Ach so, du bist das. Hab dich gar
nicht bemerkt. Ich such mein Reisetagebuch.“ – „Und welches?“
– „Das von meiner Israelreise. Hast du das etwa verlegt?“
– „Mein lieber Mann, ich verlege hier gar nichts. Ich putze nicht
einmal Staub in deinem Arbeitszimmer. Und dein Reisetagebuch hast du
mir zum Lesen gegeben. Damit ich einsehe, wie wichtig diese Reise für
deine Arbeit war. Nun hör auf zu suchen, ich hole dir dein Tagebuch..
Trink lieber einen Becher Wasser für deine Nieren.“ Sie goß
ihm ein und ging die Aufzeichnungen holen. Lukas goß den Oleanderbusch
vor dem Fenster, füllte sich Wein in den Becher und leerte ihn
schnell. Seine Frau kam mit dem Gesuchten zurück und gab es ihm.
Er dachte einen Moment nach, suchte dann im Text. „Ah, da hab ichs
schon. Nain. In Galiläa, nicht weit von Samarien. Mittelgroße
Stadt, gut befestigt. Römische Garnison. Alter kanaanäischer
Tempel. Auferweckung eins toten Jungen durch Jesus. Davon hab ich schon
geschrieben, aber da gab es noch etwas.“ – „Sag mal,“
unterbrach ihn seine Frau, „hast du nicht schon genug Geschichten
über Jesus gesammelt, reicht es nicht, was dieser Markus geschrieben
hat und was in dieser Redensammlung steht?“ – „Nein, das reicht
nicht,“ konterte Lukas etwas gereizt. „Du weißt: Ich
soll und ich will alles erforschen, was es über Jesus gibt. Und
ich habe auf meiner Reise manches erfahren, worüber noch niemand
geschrieben hat. Zum Beispiel Nain. Ich bin der einzige, der diesen
Ort überhaupt erwähnt. Na, hier steht ja, was ich suche, sogar
in zwei Versionen, die man mir dort erzählt hat.“ – „Laß
hören,“ sagte seine Frau,.und Lukas staunte: „Ich denke,
du hast das gelesen?“ Seine Frau aber meinte, er könne so
schön erzählen, und sie höre ihm so gern zu. „Komm,
ich schenk dir etwas Wein ein,“ lockte sie, füllte den Becher
knapp zur Hälfte und setzte sich.

„Also,“ begann Lukas, „unter den Frommen erzählte
man, daß ein sehr vornehmer Pharisäer Jesus zum Essen eingeladen
hatte. Jesus war auch gekommen und mit ihm, obwohl nicht geladen, einige
seiner ungepflegten und verschwitzten Jünger. Eine Zumutung für
den Gastgeber und seine geladenen Freunde. Sie wollten mit Jesus über
Gott und die Welt reden, besonders aber darüber, wann und wie die
römische Besatzung enden und Gott die Herrschaft über sein
Volk wieder übernehmen würde. Doch noch bevor das Essen aufgetragen
wurde, kam eine Frau in den Raum, in dem die Männer saßen,
und salbte Jesus mit bestem Salböl. Verschwendete eine ganze Flasche
voll an ihn. Dabei hätte er wissen können, daß die Frau
weder zur feinen Gesellschaft noch überhaupt zu den anständigen
Leuten gehörte. Der Gipfel war dann, daß Jesus seinen Gastgeber
und dessen Freunde mit der Bemerkung brüskierte, diese Frau habe
viel geliebt, darum sei ihr viel vergeben. Einige der Freunde verließen
daraufhin den Raum, das Essen verlief recht schweigend. Jesus hätte
damit einmal mehr bewiesen, daß er sich in schlechter Gesellschaft
wohler fühle als in guten Kreisen. Sein Ende am Kreuz habe er sich
schließlich selbst eingebrockt.“

Lukas Frau fand die Haltung der Frommen recht überheblich. Dann
wollte sie die zweite Version hören.
„Ich lernte in Nain einen jungen Mann kennen, sehr gebildet und
ziemlich vermögend. Eines Tages lud er mich zum Abendessen in sein
Haus ein. Was sage ich Haus, es war schon fast ein Palast, jedenfalls
im Vergleich zu unserem hier. Zum Essen kam so ungefähr alles,
was es in Nain an Bettlern gab. ‚Das ist bei uns so üblich,‘ erzählte
der junge Mann, schon seine Eltern hätten das so gehalten. Angefangen
habe das aber mit einer Begegnung zwischen seiner Großmutter und
diesem Jesus von Nazareth. Seine Großmutter sei von ihrem Eltern
als Sklavin an einen hohen römischen Offizier verkauft worden.
Der habe sie geschwängert, dann geheiratet, und sie habe die Götter
ihres Mannes verehrt. Damit sei sie aus der Lebens- und Glaubensgemeinschaft
ihres Volkes ausgeschlossen gewesen. Als dann Jesus nach Nain gekommen
sei, hatte sie schon einiges über ihn, über seine Zuwendung
zu Armen und Kranken, zu Zöllnern und Sündern gehört.
Sie sei eine sehr emotionale und spontane Frau gewesen, habe sich um
das Gerede der Leute und um sogenannte gute Umgangsformen nie groß
gekümmert. Habe gern die überheblichen Frommen vor den Kopf
gestoßen. Sei, als Jesus von einem Pharisäer Simon eingeladen
war, einfach hingegangen und habe Jesus etwas Gutes getan. Weil er so
vielen anderen Gutes tat. Habe eines ihrer vielen Fläschchen Salböl
genommen und ihm die müden und vom Barfußlaufen wunden Füße
gesalbt, auch sein sonnentrockenes Gesicht, Arme und Oberkörper,
Jesus habe das sehr genossen. Er sei der erste und einzige Jude gewesen,
der ihre Liebe zu dem Römer verstanden, ihr sogar vergeben habe.
Nach dieser Begegnung habe sie dann begonnen, sich um Arme und Kranke
in der Stadt zu kümmern und vor ihrem Tode bestimmt, daß
ihre Erben das beibehielten. ‚Mein Großvater hatte Ländereien,
ich konnte den Besitz noch vergrößern, die Geschäfte
ausweiten. Was ich zu einem guten Leben nicht brauche, bekommen die
Armen. Fast alle sind ohne eigenes Verschulden arm, und die ihre Armut
verschuldet haben, brauchen Vergebung‘ schloß der junge Mann seinen
Bericht.“

„Diese Version gefällt mir viel besser als die erste,“
stellte die Frau des Lukas fest, „Welche wirst du in dein Jesusbuch
aufnehmen?“ – „Keine,“ verblüffte Lukas seine Frau,
„ich schreibe ein Buch über Jesus, weder über Pharisäer
noch über Sünderinnen. Ich muß aus den beiden Versionen
eine Geschichte machen, in der Jesus der Handelnde ist. Eine Geschichte,
in der Menschen, die sich für fromm und anständig halten,
lernen, daß sie die anderen nicht aus der Gemeinschaft ausschließen
dürfen. Daß man ihnen vergeben kann. Und in der die Ausgeschlossenen
eingeladen werden, in die Gemeinschaft zurückzukehren. Daß
ihnen vergeben ist. Jesus, der Freund der Sünder.“

„Dazu hast du aber schon ein paar Geschichten. Wie war noch der
Satz, den Jesus zu der Frau gesagt hat, der mit Lieben und Vergeben?“
fragte die Frau des Lukas, und er merkte die Falle, in die er fast getappt
wäre, die Falle der Wiederholung von längst Bekanntem. „Ihre
vielen Sünden sind ihr vergeben, denn sie hat viel geliebt,“
zitierte Lukas und lachte: „Wie bei uns. Ich ärgere mich öfter
mal über dich, aber weil du mich liebst, kann ich dir immer wieder
vergeben. Und du vergibst mir meine Fehler, weil ich dich liebe.“
– „Und das seit nun fast dreißig Jahren,“ ergänzte
seine Frau, die inzwischen am Fenster stand und schmunzelnd fragte,
ob es geregnet habe, der Oleander sei ganz naß. Lukas ging nur
indirekt auf die Frage ein, indem er feststellte: „Das mit Lieben
und Vergeben gilt auch umgekehrt: Wem vergeben wird, der kann lieben.
Wer liebt, bewirkt Vergebungsbereitschaft, und wer vergibt, bewirkt
Liebesfähigkeit. Wir Menschen können nun mal nicht leben,
ohne an anderen schuldig zu werden, ob wir wollen oder nicht. Wir sind
auf Vergebung angewiesen.“ Seine Frau schenkte ihm noch ein klein
wenig Wein in den Becher und stellte fest: „Ja, wir sind auf Vergebung
angewiesen, und zwar in doppelter Hinsicht: Wir brauchen Vergebung,
um lieben zu können, und wir müssen vergeben, um geliebt zu
werden; wir brauchen Vergebung, um leben zu können. Jesus wußte
das, und das unterscheidet ihn von Pharisäern und Rechthabern aller
Zeiten.“ Und Lukas ergänzte: „Das unterscheidet ihn auch
von solchen Menschen, die Vergebung nicht annehmen können. Das
ist vielleicht noch schwerer als zu vergeben. Hat er, als er sich von
der Frau salben ließ, vielleicht gezeigt, daß man Wohltaten,
daß man Vergebung einfach annehmen kann? Er brauchte wohl keine
Vergebung, aber sicherlich wie jeder Mensch das Gefühl, geliebt
zu sein. Meinungsmacher und Entscheidungsträger seiner Zeit haben
ihn abgelehnt. Die Frau hat ihm Gutes, sie hat ihm gut getan. Darum
hat er ihr vergeben, was die Pharisäer ihr vorwarfen. Und hat wohl
noch größere Liebe in ihr geweckt.“

Lukas und seine Frau schwiegen eine Weile, bis er feststellte: „Mit
Jesu Tod und Auferstehung sind uns all unsere Sünden vergeben.
Und: Wir sind von aller Gesetzlichkeit befreit. Ein für alle mal.
Darum können wir vergeben – und darum können wir lieben.“
„Darum können wir leben, so, wie wir sind, mit uns selbst
und und unserer Vergangenheit,und auch miteinander im Frieden,“
ergänzte seine Frau, und bestätigte den Satz leise mit „Amen.“

Gebet:
Gott, wie tun wir uns oft schwer damit, Wohltuendes anzunehmen und es
uns gut gehen zu lassen. Lieber tun wir anderen etwas Gutes oder lassen
es uns schlecht gehen. Denn bisweilen meinen wir, im Leiden könnten
wir uns als Gerechte erkennen. Und deshalb verbieten wir es uns zu genießen,
vermiesen uns selbst die Freude am Leben. Dabei hat dein Sohn Jesus
Christus für uns genug gelitten, und wir sind frei, uns des Lebens
zu freuen. Er hat nicht nur der Sünderin ihre Sünden vergeben:
Durch ihn sind uns allen all unsre Sünden vergeben.
Doch gerade das, guter Gott, können wir nicht begreifen und kaum
glauben. Denn Tag für Tag aufs Neue erleben wir uns als Sünder,
fürchten deshalb deine Strafe und bangen um deine Gnade. Du aber
hast uns vieles, ja, alles vergeben, und darum könnten wir auch
viel lieben. Vielleicht aber können wir selbst uns nicht vergeben,
tragen als Schuld und als Last mit uns herum, was du uns längst
abgenommen hast. Guter Gott, weil du uns vergeben hast, bitten wir dich:
Mach du auch uns bereit, uns zu vergeben – und mach uns damit fähig
zu Liebe und Frieden.

Liedvorschläge
Das ist mir lieb, EG 292; Aus tiefer Not (Wochenlied) EG 299; Liebe,
die du mich zum Bilde, EG 401; Laß die Wurzel unsres Handelns,
EG 417

Paul Kluge
Provinzialpfarrer im
Diakonischen Werk in der
Kirchenprovinz Sachsen e.V.
Paul.Kluge@t-online.de

 

 

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