Markus 10,15

Markus 10,15

Predigtreihe in der Evangelischen Schlosskirche der Rheinischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Bonn zum Thema „Weltmeisterschaft“, 2006
Quasimodogeniti, 23. April 2006
Predigt zu Markus 10,15, verfasst von Reinhard Schmidt-Rost


In diesem Gottesdienst werden zwei Kinder – Zwillinge – getauft. Die Predigt legt deshalb abweichend von der Perikopen-Ordnung den Schlusssatz des Kinder-Evangeliums zugrunde.

Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind, der wird nicht hineinkommen. Mk. 10, 15

Liebe Gemeinde,

die Gegenwart konzentriert sich bei diesem Bibeltext gerne auf die Kinder – und das ist auch richtig so; dass sich Jesus in seinem Wirken auf der Erde offenbar den Schwachen, den sozial wenig Wichtigen, den Pflegebedürftigen besonders zugewandt hat und für sie eingetreten ist, das ist allgemein anerkannt und kommt in diesem Bibelwort besonders schön zum Ausdruck.

Nachdem nun aber die Welt der modernen Märkte die Kinder längst als Kunden entdeckt hat, kann man auch die Rücksicht auf die Kinder erfreulicherweise als Bestandteil unserer Kultur voraussetzen, übrigens als ein vom christlichen Glauben mit errungenes Element, und sich genauer nach dem Sinn dieses Satzes über das Reich Gottes und die Kinder fragen.

Ich will damit keineswegs von den Problemen junger Menschen ablenken, schon gar nicht behaupten, dass etwa alles in Ordnung sei im Blick auf ihre Förderung in Familien und Schulen, – und ich will auch nicht die Situation der Kinder in der weiten Welt vergessen und immerhin darauf hinweisen, dass in Afrika 80% der Bevölkerung jünger als 17 Jahre alt sind. Aber gerade deshalb will ich zeigen, dass man dem Anspruch, für die Kinder einzutreten, näher kommt, wenn man das Wort Jesu in unserer kulturellen Situation nicht bei den Kindern akzentuiert, sondern beim Empfangen.

Jesus schwärmt gerade nicht vom Reich Gottes als von einem Kinderland, vielleicht gar von einem Phantasia- oder Legoland, in dem alles auf die Kinder ausgerichtet ist, in dem die Wirklichkeit für die Kinder umgestaltet ist, in dem die Kinder aber auch schon wieder von den Mechanismen unseres Wirtschaftssystems eingefangen und sozialisiert werden; Jesus denkt nicht an den Zugang zu Märkten, sondern zum Reich Gottes, es geht ihm um das Empfangen: „Wer das Reich Gottes nicht e m p f ä n g t wie ein Kind, der wird nicht hinein kommen“.

Alles natürliche Leben beginnt mit ‚Empfangen’, das gilt für den Zeugungsakt, der zutreffend Empfängnis genannt wird; und erst recht gilt dies für neugeborene Kinder: Ohne Empfangen kein Anfangen; Licht, Luft und Liebe umgeben den Säugling mit einer Atmosphäre, die nur durch Empfangen Leben ermöglicht. Das Kind muß sich mit allen Sinnen öffnen, um von den lebenspendenden und lebensnotwendigen Energien das erforderliche Maß aufnehmen zu können. Man sieht dem natürlichen Anfang im ersten Moment durchaus an, dass Empfangen eine große Anstrengung für den Säugling bedeutet, und es ist ja auch vom Geburtsvorgang der kritischste Moment, wenn der Säugling zum ersten Mal Luft holt.

Liebe Gemeinde!

‚Empfangen’ steht am Anfang allen natürlichen Lebens, ‚Empfangen’ steht auch am Anfang des geistigen Lebens. Um überhaupt leben, aber vor allem dann auch geistig wirken zu können, muss man zuvor empfangen haben, aufgenommen haben, ‚gebildet’ worden sein.

Praktisch alle Religionen gestalten diese Grundlage des Lebens, ‚Empfangen’, in irgendeiner Weise symbolisch aus, vor allem durch Wasser- oder Lichtsymbole und -riten, durch Taufen und Kerzen, durch Waschungen und Salbungen. Es haben alle Symbole und Zeichen diesen gleich Grundsinn: Das Bewusstsein zu pflegen, dass die Lebensgrundlagen empfangen werden. Und diese religiöse Pflege der Lebensbasis geschieht nicht ohne Grund: Denn sobald das Bewusstsein einsetzt, folgt der Umschlag vom ‚Empfangen’ auf das ‚Ergreifen’, vom ‚Einströmen’ zum ‚Einsaugen’, vom ‚Empfangen’ zum sich ‚Bemächtigen’ – und das wichtige Wissen vom lebensnotwendigen Empfangen tritt in den Hintergrund. Die Erinnerung aber muß gepflegt werden, damit das Bemächtigen nicht den Grund unter den Füßen verliert, dass der, der sich bemächtigt, nicht abhebt.

Das Wort Christi „Wer das Reich Gottes nicht empfängt wie ein Kind wird nicht hineinkommen“, ist eine solche Erinnerung an die Bildung des Urgrundes allen Lebens durch Empfangen; in der Moderne liegt der Ton bei diesem Satz allerdings zu sehr beim Kind und zu wenig beim ‚Empfangen’, so gerät er zur Parole einer Reich-Gottes-Vorstellung, die leicht kindische Züge trägt, so als könnten wir uns durch Spiel und Spaß oder durch Tanz und Gesang dem Reich Gottes leichter nähern, – wenn wir nur das ‚schwere’ Wort Gottes beiseite ließen.

Aber Jesus weist mit diesen Worten auf eine grundlegende Bewegung in allem Leben, so wie er es versteht: Der Strom der Liebe Gottes ist, seit er in Jesus Christus in die Welt gekommen ist, in seiner Wirkung nicht abhängig von Menschen, so sehr Menschen in ihren Worten und Taten als Zeugen dieser Liebe andere Menschen berühren können. Viele Menschen kommen durch anderer Menschen Zeugnis zum Glauben, viele aber auch durch eine eigenständige Lektüre der Bibel, der Gleichnisse Jesu, der Bergpredigt, des hohen Liedes de Liebe und anderer wichtiger und bewegender Texte des Alten und Neuen Testaments.

Auch in der Praxis des Christentums in der Moderne suchen die Menschen nach Möglichkeiten des Empfangens; das zeigt sich an der ungebrochenen Zuwendung zu den stärker gefühls- als aktivitätsorientierten Formen der Glaubenspraxis: Ob Feiern wie Taufen, Trauung, goldene Konfirmationen usw. oder Kirchentage – oder auch Weltjugendtage, ob Passionsmusiken oder gute Predigten: Wenn der Glaube zu Herzen dringen kann, werden seine Zeugnisse gerne, ja begierig aufgenommen. Wo der Glaube freilich als rationale Aufgabe, sozusagen als Denksport-Aufgabe verpackt, dargeboten wird, wo also das Rezept statt der Arznei genossen werden soll, oder wo er gar als Aktionsprogramm mit Daueranspruch daher kommt, sträuben sich viele Gläubige heute, und haben es immer getan. Denn der Kirchgang zum Beispiel war im 17. Jh. keineswegs freiwillig, er hatte damals allerdings auch eher den Rang von Schulunterricht in Zeiten, in denen es keine allgemeine Schulpflicht gab; er war sozusagen die Informationspflichtveranstaltung für ungebildete Bewohner vor allem auf dem Land.

Ich bitte immer meine Studenten, nicht zu stark spüren zu lassen, dass sie das wissen, sondern ihre Predigt auf einem Niveau und in einer Form zu entwerfen, auf dem moderne Komponisten und Dirigenten um die Kunst der Musik ringen.

Liebe Gemeinde!

Aller Anfang ist schwer, weiß der Volksmund, – und es ist eine schlichte Lehre, der Anfang des Lebens ist in jedem Fall schwer, auch wenn er keine schwere Geburt war …

aber empfangen ist überhaupt eine schwierige Angelegenheit. Denn es verlangt, dass man sich öffnet, und sich öffnen macht schutzlos. Etwas empfangen zu müssen, kann eine Zumutung sein, denken Sie einmal daran, von wem Sie sich gerne etwas schenken lassen, und worauf Sie lieber verzichten würden. Nicht jedes Geschenk erweist sich als gute Gabe, manches ist zu groß geraten, manches zu bescheiden, auf jeden Fall machen Geschenke abhängig – und darauf muss der Schenkende selbst mit achten, nicht umsonst sind Bestechung und Bestechlichkeit Straftatbestände. Ein Geschenk, das wirklich etwas bedeutet, einen Wert hat, greift nach dem Adressaten, dringt in sein Leben ein, kann es sogar verändern, kann sehr riskant werden .. aber ein Geschenk zurückzuweisen, den Empfang abzulehnen, kann genauso schwierig sein, denn damit werden Türen zugeschlagen und Verbindungen möglicherweise endgültig zerstört, die Rückwirkungen auf den Schenkenden können gravierend sein.

In der Passion Christi, in seinem Leiden und Sterben, sehe ich einen Teil einer solchen herausgeforderten Ablehnung: Das Geschenk der Liebe Gottes war einfach zu groß, als dass es sich Menschen hätten schenken lassen wollen. Das ging doch nicht so einfach, Gottes Gnade zu erringen, dafür brauchte man schon richtige Opfer, Tier- oder früher auch Menschenopfer, oder wenigstens Gehorsam den Gesetzen gegenüber. Auch uns heute fällt es ja schwer, uns dies vorzustellen, dass wir von grund auf ohne jeden Vorbehalt geliebte Wesen sind, wir alle, und nicht nur einzelne besondere, oder ich selbst, aber der andere nicht, – oder auch in der depressiven Variante: Die andern sind alle geliebt, aber ich doch nicht!

Liebe Gemeinde,

und noch ein dritter Gedanke fließt aus dem Vorgang des Empfangens, diesmal nicht ganz so schmerzlich: Wer an Empfangen denkt, hat leicht auch die Quelle vor Augen, aus der strömt, was er empfängt, ob Wasser oder Licht, ob Geist oder Liebe; der denkt dankbar an die Herkunft aller guten Gaben, ob Natur, ob andere Menschen, ob Gott …

Zu den Quellen der Weisheit, ad fontes, hat es deshalb nicht von ungefähr die Menschen immer wieder hingezogen – gerade alte, heilige Schriften wurden vielen zur Quelle der Weisheit und des Lebens … so auch uns.

Den Geber der guten Gaben unseres Lebens nennen wir den Schöpfer der Welt, weil wir anders kaum bezeichnen können, wie umfassend die Abhängigkeit in unserem Sein in der Welt ist, Abhängigkeit von den Gaben und Vorgaben, die uns das Leben von Anfang an zuleitet und zumutet.

Wir wissen, dass viele Menschen sich sträuben, Gott als den Schöpfer und damit ja als Herrn und Meister über diese und ihre Welt anzuerkennen, aber wir haben in seinem Sohn erfahren, dass er seine Meisterschaft mit Barmherzigkeit und nicht mit Gewalt ausüben will, deshalb setzen wir auf ihn – und hoffen, dass er immer mehr Menschen für sich gewinnt – und treten werbend für ihn ein.

Liebe Gemeinde,

Quasi modo geniti … wie die neugeborenen Kindelein … so wünscht es uns Jesus, so sollen wir die gute Gabe des Lebens von Gott aufnehmen können, mit Anstrengung, aber nach und nach auch mit einem Lächeln der Erleichterung, dass sich die Quelle des Lebens uns erschlossen hat, dass uns Gott in sein Reich, da Friede und Gerechtigkeit auf ewig wirken, dass er uns in das Gottes-Kinderland mit aufgenommen hat, lange bevor wir etwas dazu tun konnten. AMEN.


Universitätsprediger Prof. Dr. Reinhard Schmidt-Rost
r.schmidt-rost@ev-theol.uni-bonn.de

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