Markus 13,31

Markus 13,31

Predigt über die Jahreslosung
(Mk 13,31 )

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus und die Liebe
Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes sei mit uns allen.

Das alte Jahr gehört nun endgültig der Vergangenheit an, liebe
Gemeinde. Seit wenigen Stunden schreiben wir 2004. Hinter uns liegt der
Silvesterabend. Ausgelassen und fröhlich haben wir den Jahreswechsel
gefeiert, oder aber allein für uns selbst in einer Mischung aus
Sentimentalität und Traurigkeit. Erinnern Sie sich noch an die Wünsche,
mit denen Sie zum Jahresbeginn 2003 gestartet sind? Das liegt schon weit
zurück. Manches ist in den vergangenen Monaten in Erfüllung
gegangen; anderes nicht. Und vieles, was in unser Leben getreten ist,
konnten wir uns vor einem Jahr überhaupt nicht vorstellen oder es
gar planen. Erstens kommt es anders, sagt die abgeklärte Volksweisheit,
und zweitens, als man denkt. Hoffentlich hat bei alledem das Gute im
Leben überwogen!

Wie immer die eigene Bilanz ausfallen mag – jetzt ist das neue Jahr
Wirklichkeit. Und wahrscheinlich haben wir uns trotz aller Erfahrung
im Umgang mit Jahreswechseln nicht entmutigen lassen, unsere Hoffnungen
für die vor uns liegende Zeit zum Ausdruck zu bringen: Glück
und Gesundheit vor allem, erfüllende Begegnungen mit anderen Menschen,
Frieden in der Welt.

Nicht alles wird sich vollkommen ändern – trotz der gesetzlichen
Neuregelungen, die heute Nacht in Kraft getreten sind. Jedes Jahr baut
viel stärker auf dem vorangehenden auf, als man meine sollte, wenn
wir vom „Jahreswechsel“ sprechen. Die neuen Möglichkeiten, auf die
wir uns einstellen, spielen sich meist in eher engen Grenzen ab. Aber
das heißt ja nicht, daß es überhaupt keine Veränderung
mehr gäbe. Alles Leben ist dem beständigen Wandel unterworfen – weil
es Leben ist.

Allerdings lassen sich die Schattenseiten am Beginn des neuen Jahres
keineswegs leugnen: Schauen wir etwa in die Weltpolitik, dann wird es
nach menschlichem Ermessen kein besonders ruhiges Jahr sein, das vor
uns liegt. Die Angst vor Terroranschlägen ist unvermindert hoch;
die Gewalt im Irak hat nicht ab-, sondern zugenommen; eine gerechter
Friede in Israel und Palästina scheint außerhalb aller realistischen
Vorstellungen zu liegen. Sicherheit und Frieden sind äußerst
zerbrechlich. Und wer in den vergangenen Tagen die schrecklichen Bilder
vom Erdbeben im Iran hat auf sich wirken lassen, könnte schier mutlos
werden. Wir leben bei uns in Deutschland, was die Politik, aber auch
die Natur angeht, in weitgehend stabilen Verhältnissen. Aber eine
Bestandsgarantie haben wir dafür nicht.

So verbindet sich mit unserer Hoffnung auf die neuen Möglichkeiten
des Jahres 2004 die Sehnsucht nach dem, was uns mitten in aller Unsicherheit
und allen Umwälzungen Halt verleiht. Worauf können wir uns
eigentlich felsenfest verlassen, was ist nicht dem ständigen Wandel
preisgegeben? So lauten die Fragen, die uns beschäftigen. Denn ohne
Verläßlichkeit droht alles ins Wanken zu geraten – nicht nur
die Welt, sondern vor allem wir selbst.

Um uns auf den entscheidenden Fixpunkt hinzuweisen und uns Mut zu machen,
von hier aus das Leben zu wagen, steht am Beginn des Jahres 2004 eine
starke Jahreslosung. Sie stammt aus dem Markusevangelium und lautet:

„Jesus Christus spricht: Himmel und Erde werden vergehen; meine Worte
aber werden nicht vergehen.“ (Mk 13,31)

Ich gestehe, liebe Gemeinde: Das klingt unvorstellbar! Das reizt gleich
zum Widerspruch. Wir haben während des vergangenen Jahrhunderts
schmerzlich lernen müssen, was es bedeutet, daß Himmel und
Erde aus den Fugen geraten können. Frühere Generationen konnten
sich das nur in endzeitlichen Schreckensbilder fern der eigenen Realität
ausmalen. Das Ende der Welt ist inzwischen längst eine denkbare
Folge wissenschaftlicher Forschung und militärischer Aufrüstung
geworden. In den Arsenalen der Menschheit lagert die Fähigkeit dazu! „Himmel
und Erde werden vergehen …“ – das sagt sich so leicht und meint doch
die schrecklichste Dimension, die wir uns denken können: das Ende
allen Lebens.

Und dieser größten und letzten anzunehmenden Veränderung,
der möglichen Auflösung unserer Welt ins Nichts, setzt Jesus
das Einzige entgegen, das dennoch unvergänglich sein soll: „Meine
Worte aber werden nicht vergehen.“ Größer könnte der
Gegensatz zwischen Vergehen und Bestehen nicht sein. Nimmt Jesus da,
mit Verlaub gesagt, den Mund nicht doch zu voll? Kann es die Wahrheit
seiner Worte – auf die Spitze getrieben – sogar mit der Vergänglichkeit
der Welt aufnehmen und ihr standhalten?

Ja, sie kann es. Das ist der Kern unseres Glaubens. Denn Jesus weist
uns in allem, was er geredet und getan hat, auf eine Wirklichkeit, die
größer und höher ist und weiter reicht als die Begrenzungen
der Schöpfung: auf Gott selbst. Jesu Worte verbürgen sich für
den, dem allein wir vertrauen sollen und auf den wir uns bei allem, was
geschieht, verlassen können – selbst wenn es in uns oder um uns
her zu schwanken beginnt und bisherige Sicherungen ihre Stärke verlieren.
Jedes Wort, das Jesus gesagt hat, stellt uns unmittelbar vor Gott. Und
nur von Gott her können wir es wagen, ohne Angst oder Verzweiflung
auf die Flüchtigkeit der Jahre, des eigenen Lebens oder auch der
Welt zu blicken.

Um uns das zu ermöglichen, sind Jesu Worte zu allererst Worte der Vergebung :
Was uns von Gott und anderen Menschen trennt, wird durch sie aufgehoben
und beseitigt. Wir unterliegen nicht mehr dem unheimlichen Zwang, uns
gegen Gott auflehnen zu wollen und um jeden Preis das Leben nach unseren
eigenen Maßstäben gegen andere durchsetzen zu wollen. Vielleicht
machen wir mittlerweile in der evangelischen Kirche viel zu wenige konkrete
Erfahrungen damit, welche hilfreiche, mutmachende, lebensspendende Kraft
aus dem Zuspruch der Vergebung unserer Schuld erwächst. Es kommt
doch nicht von ungefähr, daß Jesus den Menschen, bevor er
sie heilte, die Sünde vergab! Das Verhältnis zu Gott wird dadurch
heil; wir werden wieder zu dem, wie Gott uns gewollt hat: zu seinen Kindern.
Von Gott geliebt zu sein trotz aller eigenen Fehlerhaftigkeit und Unzulänglichkeit,
ist das Wichtigste, das Jesus uns zugesagt hat.

Sodann werden Jesu Worte zu Worten der Orientierung für
unser Denken und Handeln: Wir können ihnen nicht nur glauben, sondern
werden befähigt, sie zu tun. Wie anders sähe unser gesellschaftliches
Zusammenleben aus, würde wirklich ernst gemacht mit dem, was Jesus
uns als Gottes Willen bezeugt! Ich gestehe zu, daß es in der Tat
schwierig ist, etwa mit der Bergpredigt reale Politik zu machen. Aber
der pauschale Hinweis darauf, dies sei schlechterdings unmöglich
und weltfremd, muß uns doch nicht von vornherein davon entbinden,
uns im Geist der Bergpredigt für Frieden und Gerechtigkeit, für
Aussöhnung und Vertrauen zwischen Einzelnen oder Völkern einzusetzen!
Das ist aussichtsreicher und verheißungsvoller, als wir meinen!
Während es heute scheint, als sei alles dem völligen Belieben
anheimgestellt und als könnten alle machen, was sie wollen – Hauptsache,
man gehört zu den sogenannten Gewinnern –, verweist Jesus auf zuerst
auf Gott. Von ihm her ergibt sich ein unverrückbarer, stets verläßlicher
Maßstab für unser eigenes Verhalten: Gott sollen wir über
alles lieben, und daraus folgt, daß wir auch unsere Nächsten
lieben können wie uns selbst. Ich bin weiterhin davon überzeugt,
daß in den einfachen Regeln, die Jesus für das Gelingen des
menschlichen Miteinanders nennt, ein starkes, lebensdienliches Potential
steckt, das wir um unser aller Zukunft entdecken und entfalten sollten.

Schließlich aber sind Jesu Worte Verheißungen ewigen
Lebens
: Sie erschöpfen sich nicht in dieser Welt und gehen
nicht darin auf. In ihnen liegt ein Überschuß an Hoffnung,
die unsere engen Grenzen von Raum und Zeit überschreitet. Weil
Gott allein ewig ist, haben alle Worte, die uns dieser Ewigkeit gewiß machen,
unverbrüchlichen Bestand. Unser Leben, so beglückend es auch
sein mag, ist befristet. Jeder Jahreswechsel, aber auch jeder Abschied
macht uns das deutlich. Selbst die Welt, die uns umgibt und an deren
Schönheit wir uns freuen, ist nicht das Letzte und Bleibende.
Wer das begriffen hat und sich auf Jesu Zusage verläßt,
daß uns niemand, auch nicht der Tod, aus seiner Hand reißen
kann, gewinnt eine unendliche Freiheit und ein tiefe Gelassenheit im
Umgang mit der Zeit und allem Wandel unseres Lebens. Jochen Klepper
hat diese Hoffnung ausdrucksstark in Worte gefaßt: „Der du allein
der Ewge heißt und Anfang, Ziel und Mitte weißt im Fluge
unsrer Zeiten: bleib du uns gnädig zugewandt und führe uns
an deiner Hand, damit wir sicher schreiten.“

Diese Freiheit und Gelassenheit angesichts aller Unbeständigkeit
der Welt und diese Gewißheit und Fröhlichkeit angesichts der
bleibenden Liebe Gottes wünsche ich uns allen. „Himmel und Erde
werden vergehen; meine Worte aber werden nicht vergehen“, sagt Jesus.
Darauf können wir uns wirklich verlassen. Dann wird es, komme was
mag, ein gesegnetes Jahr werden. Amen.

Und der Friede Gottes, der alles menschliche Begreifen übersteigt,
bewahre eure Herzen und Sinne in Jesus Christus zum ewigen Leben.

Bischof Dr. Martin Hein, Kassel
e-mail: bischof@ekkw.de

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