Markus 14,26-42

Markus 14,26-42

 


Göttinger Predigten im Internet
hg.
von Ulrich Nembach und Johannes Neukirch


Gründonnerstag
20.4.2000
Markus
14,26-42

Klaus
Bäumlin


Predigttext:

„Und als sie den Lobgesang gesungen, gingen sie zum
Ölberg hinaus. Und Jesus sagt zu ihnen: Ihr alle werdet Ärgernis
nehmen. Denn es steht geschrieben: ‚Ich will den Hirten erschlagen, und die
Schafe werden verstreut.‘ Aber nach meiner Auferweckung gehe ich euch nach
Galiläa voraus. Petrus aber sagte zu ihm: Wenn auch alle Ärgernis
nehmen, ich nicht: Und Jesus sagt zu ihm: Wahr ist’s, ich sage dir: Gerade du
wirst heute – in dieser Nacht – ehe der Hahn zweimal kräht, dreimal mich
verleugnen. Er aber redete überschwenglich: Müsste ich sterben mit
dir – nie werde ich dich verleugnen: Und das sagten sie alle.

So kommen sie zu einem Landgut, Getsemani mit Namen. Und er sagt
zu seinen Jüngern: Setzt euch hier, während ich bete. Petrus aber,
Jakobus und Johannes nimmt er mit sich. Und er fing an, zu erschaudern und zu
verzagen. Und er sagt zu ihnen: Betrübt ist meine Seele bis zum Tod.
Bleibt hier und wacht: Und ein kleines Stück weitergegangen, fiel er zur
Erde und betete: es möchte, wenn es möglich wäre, die Stunde an
ihm vorübergehen. Und er sagte: Abba, Vater du: Alles ist dir
möglich, lass diesen Becher an mir vorübergehen. Aber nicht, was ich,
sondern was du willst. Dann kommt er und findet sie schlafend. Und er sagt zu
Petrus: Simon, du schläfst: Warst du nicht stark genug, eine Stunde zu
wachen? Wacht und betet, dass ihr nicht in Versuchung kommt. Der Geist ist
willig, das Fleisch aber schwach. Abermals ging er weg und betete, indem er
dasselbe Wort sprach. Und abermals kam er und fand sie schlafend; denn die
Augen waren ihnen schwer geworden, und sie wussten nicht, was sie ihm antworten
sollten. Dann kommt er zum drittenmal und sagt zu ihnen: Schlaft ihr weiter und
rastet? Genug. Die Stunde ist gekommen da: Der Menschensohn wird in die
Hände der Sünder ausgeliefert. Auf, gehen wir: Da: Der mich
ausliefert: Er ist nahe.“

(Übersetzung: Fridolin Stier)

Liebe Gemeinde,

das Markusevangelium, dessen Ende wir uns jetzt nähern,
beginnt, überschriftartig, mit den Worten: „Anfang des Evangeliums von
Jesus: dem Messias, Gottes Sohn.“ Zu diesen Hoheitstiteln „Messias“ und „Sohn
Gottes“ scheint nun aber das, was sich hier in Getsemani abspielt,
überhaupt nicht zu passen. Was ist denn das für ein Gottessohn,
dessen Seele „betrübt ist bis zum Tod“ und der jetzt in der Stunde der
Entscheidung zurückschreckt, erschaudert und verzagt? Was ist das für
ein Gottessohn, der auf der Erde liegt und den Vater im Himmel bittet, den
Becher des Leidens an ihm vorübergehen zu lassen, ihn doch einen andern
Weg zu führen als den entsetzlichen Weg zum Foltertod am Kreuz?

Das ist das erste, was mir die Szene in Getsemani deutlich macht:
Jesus ist ein wirklicher Mensch, ein „Menschensohn“, kein in Menschengestalt
verkleideter Gott. Wie andere Menschen kennt und erfährt und erleidet er
die tiefste Menschenangst: die Angst und Furcht vor dem Tod. Und wenn es denn
so sein sollte, wie Markus mit der Überschrift seines Evangeliums uns
nahelegt, dass Jesus der „Sohn Gottes“ ist, dass uns in ihm Gottes Gegenwart
begegnet, dann heisst das, dass Gott selber die Todesangst kennt, erfährt
und erleidet, sie mit den Menschen teilt.

Das zweite, das mir die Szene in Getsemani klar macht, ist, dass
Jesus sich, seiner Todesfurcht zum Trotz, für den Weg ins Leiden
entscheidet: „Aber nicht, was ich, sondern was du willst.“ Es ist seine freie
Entscheidung. Wenn schon nicht Gott – Jesus hätte andere
Möglichkeiten gehabt. Er hätte in Jerusalem mitten unter den vielen
Leuten bleiben können, wo seine Feinde es nicht gewagt hätten, ihn zu
verhaften. Er hätte untertauchen und sich nach Galiläa
zurückziehen können. Aber er begibt sich in das einsame Landgut,
genau wissend, dass er so seinen Gegnern Gelegenheit gibt, ihn ohne grosses
Aufsehen in die Hand zu bekommen. Jesus flieht nicht. Er weicht nicht aus.

*

Ich komme noch einmal zurück auf die Todesangst, auf das
Erschaudern und Verzagen, das so gar nicht zu einem Gottessohn passen will. Oft
hat man die Getsemani-Szene verglichen mit einer andern berühmten
Sterbeszene: mit dem Tod des Philosophen Sokrates. Wie anders hat sich Sokrates
angesichts seines Todes verhalten: Gelassen, fast heiter hat er das Todesurteil
entgegengenommen, den Giftbecher getrunken und seine letzte Stunde im
Gespräch mit seinen Freunden zugebracht, ohne jede Furcht, ein wahrer
Weiser. Ja, er hat den Tod geradezu begrüsst als Befreiung von den Fesseln
des irdischen, leiblichen Lebens.

Jesus aber „fing an, zu erschaudern und zu verzagen. Und er sagt
zu ihnen: Betrübt ist meine Seele bis zum Tod.“ Ich denke nicht, dass
Jesus sich vor dem Sterben an sich gefürchtet hat. Aber er wird ja nicht
eines sogenannt natürlichen Todes sterben. Man wird ihn öffentlich
zum Gespött machen; man wird ihn mit Füssen treten, ins Gesicht
schlagen; man wird ihm seine Würde nehmen; man wird ihn grausam foltern;
man wird ihn auf die denkbar entsetzlichste Art hinrichten, so wie man damals
nur Schwerverbrecher und Terroristen hingerichtet hat.

Wir brauchen den edlen Tod des Sokrates und den schmählichen
Tod Jesu nicht gegeneinander auszuspielen. Es ist gut zu wissen, dass Menschen
auch so dem Tod entgegensehen können wie der weise Sokrates: so gelassen,
so abgeklärt und furchtlos. Der Tod Jesu aber ruft uns in Erinnerung, dass
Menschen auch ganz anders sterben, den Tod ganz anders erleiden: als politische
Gefangene zum Beispiel, die hinter dicken Mauern zu Tode gefoltert werden, ohne
dass jemand ihr Schreien hört, als Geschundene, Vergewaltigte,
überwältigte,als wehrlose, ohnmächtige Opfer
menschenverachtender, zynischer übermacht und Gewalt. Jesus steht nicht
abgeklärt über den Dingen. Er steckt mitten drin. Er ist nicht ein
Spitzenmensch wie Sokrates, erst recht kein Übermensch. Er wird zum
Bruder, zum Leidens- und Schicksalsgenossen der Elenden und Verdammten dieser
Erde. Er kennt und teilt ihre Ohnmacht, ihr Entsetzen, ihre Todesangst. Er
stirbt ihren elenden, würdelosen Tod. Er, der Gottessohn, der Menschensohn
ist einer von ihnen.

Die Szene in Getsemani führt uns in die tiefste Tiefe
menschlichen Elends. Und sie führt uns auch zum tiefsten Geheimnis Gottes.
Sie rüttelt an unseren Gottesvorstellungen. „Abba, Vater du!“ betet Jesus.
„Alles ist dir möglich, lass diesen Becher an mir vorübergehen. Aber
nicht, was ich, sondern was du willst.“ Es ist fast, als ob Jesus im Gebet noch
andere Möglichkeiten Gottes auslotete. „Alles ist dir möglich.“
Hätte Gott, wenn er allmächtig ist, nicht andere Möglichkeiten
und Mittel, um das Leid zu wenden und der Gewalt auf Erden ein Ende zu
bereiten? Könnte er nicht auf eine etwas elegantere Weise den Armen und
Elenden zu ihrem Recht verhelfen? Gäbe es nicht andere Wege zur
Erlösung? Ich weiss nicht, liebe Gemeinde, ob Gott andere
Möglichkeiten und Wege hätte. Ich lerne durch die
Getsemani-Szene einfach, dass Gott diesen einen Weg des Mitleidens und
der Solidarität mit den Opfern gewählt hat zur Erlösung. Ich
lerne hier, dass das Mitleiden und Mitsterben Jesu mit den Elenden Gottes Weg
zur Auferstehung und Erlösung ist. Und Jesus akzeptiert es – weil er ein
ungebrochenes, unzerstörtes Vertrauen in Gott hat.

„Abba, Vater du:“ Es ist das einzige Mal im Markusevangelium, dass
Jesus Gott in seiner aramäischen Muttersprache mit dem vertraulichen,
liebevollen „Abba“, „Väterchen“ anredet. Das ist nicht das Auftrumpfen mit
einem allmächtigen Vater, der es den bösen Buben schon noch zeigen
wird. Es ist eher das Vertrauen, dass Gottes Kraft im Leiden, in der
äussersten Ohnmacht wirksam wird. Die Passion Jesu bringt unsere
Gottesvorstellungen gehörig durcheinander.

*

Jesus geht seinen Weg ganz allein. Zwar nimmt er drei seiner
Jünger, Petrus, Jakobus und Johannes, mit sich. Er erwartet von ihnen
nicht, dass sie seinen Weg mit ihm zu Ende gehen. Er verlangt nicht, dass sie
sich mit ihm verhaften und ans Kreuz schlagen lassen. Nur in seiner Nähe
möchte er sie haben in seiner schwersten Stunde. Nicht als Akteure, nur
als Zeugen möchte er sie bei sich wissen. Nur mit ihm wachen und beten
sollen sie. Nicht ganz allein möchte er jetzt sein, nur ihre Nähe
möchte er spüren.

Aber sie lassen ihn im Stich. Nicht einmal Petrus, der Fels, der
gerade noch den Mund so voll genommen hat: „Müsste ich sterben mit dir –
nie werde ich dich verleugnen“ – nicht einmal Petrus ist stark genug, eine
Stunde mit Jesus zu wachen. Jesus hat es ihnen ja eben erst auf den Kopf zu
gesagt: „Ihr alle werdet Ärgernis nehmen.“ Die Jünger verstehen ihn
nicht. Sie haben sich alles so ganz anders vorgestellt. Sie haben noch immer
damit gerechnet, dass sich Jesus öffentlich als der Messias und Befreier
Israels erweisen werde, dass er die römischen Besetzer aus dem Land jagen
und sein Friedensreich sichtbar aufrichten werde. Das wäre nach ihrem Sinn
gewesen, da wären sie dabei gewesen. Dafür hätten sie auch
kämpfen und notfalls sterben mögen.

Aber jetzt, wo sich die Niederlage abzeichnet, jetzt, wo sie
realisieren, dass alles ganz anders kommt, wo sie sehen, wie Jesus erschaudert
und verzagt, geben sie auf. Einen verzagten Messias, der auf der Erde liegt,
dessen Seele bis zum Tod betrübt ist, ertragen sie nicht. Alles, was sie
in der Gemeinschaft mit Jesus erlebt haben, die Hoffnungen und Erwartungen, die
er in ihnen geweckt hat – es ist alles verflogen und vorbei.

„Dann kommt er und findet sie schlafend. Und er sagt zu Petrus:
Simon, du schläfst: Warst du nicht stark genug, eine Stunde zu wachen?“
Simon heisst er jetzt wieder, so wie er hiess, bevor Jesus ihn in seine
Jüngerschaft gerufen hat und ihm den Beinamen Petrus, der „Fels“ gab.
Wieder der alte bürgerliche Simon. Vergessen, verraten, verleugnet,
begraben die Träume vom Reich Gottes, dem nahegekommenen. Restlos
desillusioniert. Schluss mit den Utopien. „Die Augen waren ihnen schwer
geworden, und sie wussten nicht, was sie ihm antworten sollten.“ Grosse
Verlegenheit. Ein wenig Scham auch.

*

Überall, wo das Markusevangelium von den Jüngern
erzählt, sollen die Leser sich selber erkennen, sollen sich die Frage
stellen: Bin ich’s? Verhalte ich mich auch so? Bin ich so wie diese
Jünger?

Hier in Getsemani sind uns die drei Jünger sehr, sehr nahe.
Wir sind wie sie. Wir ertragen doch die täglichen Schreckensnachrichten
kaum mehr: die Berichte über die Menschenrechtsverletzungen, über die
Folterungen, das Elend der Flüchtlinge, die Schicksale ausgeschaffter
Asylbewerber, die Kriege und Bürgerkriege, die Hungerund
Umweltkatastrophen. Alle die vor Angst zitternden, verzagenden Menschen, alle
die zu Tode betrübten Seelen. Man kann ja doch nichts dagegen ausrichten.
Da werden einem doch wirklich die Augen schwer, und die Ohren gehen einem zu.

Die Utopien sind ja auch nicht mehr gefragt. Realitätsfremd,
wer noch an ihnen festhält. Auf den Müllhaufen der Geschichte mit den
Träumen einer veränderbaren, verbesserlichen Welt! Desavouiert und
widerlegt die Hoffnungen auf einen Ausgleich zwischen Reichen und Armen, auf
ein wenig mehr Gerechtigkeit auf dieser Erde. Ein Ärgernis und eine
Torheit der Wunsch, die Menschen könnten es vielleicht doch noch lernen,
geschwisterlich miteinander zu leben. Besser, klüger, bequemer, sich damit
abzufinden, dass die Dinge eben ihren Lauf nehmen. Besser, der Macht des
Marktes zu vertrauen als den Utopien eines Reichs der Gerechtigkeit. Besser,
klüger, Realist zu sein als auf Gottes Möglichkeiten zu vertrauen.
Vielleicht ein wenig verlegen, ein wenig schamhaft. Aber doch sehr müde
und schläfrig. Sie sind so menschlich, die Jünger, man kann ihnen
nicht einmal böse sein. Auch Jesus ist ihnen nicht böse. „Dann kommt
er zum drittenmal und sagt zu ihnen: Schlaft ihr weiter und rastet?“

*

Blaise Pascal hat einmal geschrieben: „Jesus est en agonie
jusqu’à la fin du monde; il ne faut pas dormir pendant ce temps
là.“ Christus ist im Todeskampf bis zum Ende der Welt. Sein Todeskampf,
sein Zittern, seine Angst ist da in allen Opfern. Für die Gefolterten in
den Gefängnissen, für die Opfer der Gewalt ist es vielleicht das
allerschlimmste, wenn sie vergessen sind, wenn niemand auch nur an sie denkt
und ihr Schicksal, ihre Namen in Erinnerung ruft, wenn niemand mehr da ist, der
für sie wacht und betet und ihr Recht, ihr Leben einklagt vor Gott und den
Menschen. Dann hat die Menschenverachtung gesiegt, und der Feind, der Tod, hat
das letzte Wort.

„Wacht und betet:“ Jesus erwartet von seinen Jüngern nicht
einmal, dass sie mitkämpfen und seinen Leidensweg mitgehen. Nur dass sie
mit ihm wachen und beten. Nur dass sie Zeugen sind seiner Angst und seines
Leidens. Nur, dass sie in seiner Nähe sind. Keine Helden, nur wache Zeugen
braucht er. Und eben: überall, wo das Markusevangelium von den
Jüngern erzählt, sind die Leser und Leserinnen, die Hörer und
Hörerinnen des Evangeliums gefragt.

Klaus Bäumlin ist Pfarrer an der
evangelischen-reformierten Kirchgemeinde Nydegg in Bern/Schweiz
c/o: E-Mail:
tobias.baeumlin@dplanet.ch


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