Markus 2, 1-12

Markus 2, 1-12

Liebe Schwestern in Christus, liebe Brüder
im Herren!

Überraschend wird deutlich, was es mit Jesus auf sich hat. Überraschend
ist zu erfahren, worum es Ihm geht . Überraschend ist auch, was
Er für wichtig hält; überraschend nicht zu letzt wie Er
handelt; überraschend in dem, was Er dem Gelähmten zuspricht; überraschend
jeden falls, was Er für sich in Anspruch nimmt. Alle diese Überraschungen
sind gebündelt in dem einen Satz aus Jesu Mund:“ Mein Sohn,
deine Sünden sind dir vergeben.!“

Was vielen unter uns im Gottesdienst selbstverständlich vorkommen
mag, ist in diesem Evangelium das Außergewöhnliche; was vielen
unseren Zeitgenossen (und dem Zeitgenossen in uns selbst) abseitig vorkommen
mag, bildet in diesem Evangelium den Mittelpunkt: Jesus schenkt Heil,
wo Menschen Heilung erwarten – und dann die Heilung dazu. Er gewährt
Vergebung, bevor Er dem Gelähmten zur Bewegung verhilft. Er erlässt
die Sünden und hilft dann auch zu körperlicher Gesundung. So
erfährt der Gelähmte, wiederfährt ihm Genesung in der
Begegnung mit Jesus.

Wir wollen versuchen, den Überraschungen in diesem Evangelium auf
die Spur zu kommen; sie kreisen alle um den einen Kernsatz und haben
doch alle ihre Eigenart.

1. Da ist zuerst die Überraschung für Jesus selbst: Von oben
herab wird Ihm der Gelähmte vor die Füße gelegt. Mitten
in der Predigt, die eine Menge Leute anzieht, die unausgesprochene, und
doch ganz deutliche Bitte um Heilung. Die Freunde des Gelähmten
steigen Jesus aufs Dach und demolieren es, nur um den Behinderten in
Jesu Nähe zu bringen. Sie lassen sich von ihrem Vorhaben nicht abbringen;
sie bleiben zielstrebig, hartnäckig; sie geben nicht auf, entwickeln
ungewöhnliche Lösungen und unternehmen wagemutige Anstrengungen:
Ein Ziel verfolgen sie unbeirrt – , dass ihr Freund zu Jesus kommt, der
helfen kann. Ihr Freund kann das nicht selbst, Hindernisse gibt es auch
sonst genug. Die Freunde aber stört es nicht, dass sie den Prediger
und die Predigt stören. Es beunruhigt sie nicht, dass sie die Ruhe
und die Andacht der Zuhörer beeinträchtigen.

Doch was als Ruhestörung, als Unverschämtheit, gar als Hausfriedensbruch
gedeutet werden könnte, erscheint Jesus als Glauben, Hinter dem
Lärm, den Lehmbrocken, dem Aufruhr, der Unterbrechung sieht er das
Zutrauen, das die Freunde des Gelähmten bewegt; ein Zutrauen, das
sich nicht abschrecken lässt, wo es scheinbar – oder wirklich – kein
Durchkommen gibt; eine Zuversicht, die keinen noch so ungewöhnlichen
Umweg scheut; eine Hoffnung auf Hilfe, die sich zu dem, der helfen kann,
durchschlägt, nur um bei Ihm, Jesus dem Arzt, zu landen.

2. Die Überraschung für diese Freunde, den Gelähmten
selbst und die übrigen Zeugen dieses Vorganges, ist: Jesus gibt – zunächst
jedenfalls – nicht Gesundheit, sondern vergibt Sünden. Er
tut das Unerwartete; damit hatte niemand gerechnet. Diese Anrede, diese
Zusage, dieser Zuspruch sind ungewohnt und außergewöhnlich.
Jesus unterläuft und überbietet damit die Erwartungen, die
an Ihn herangetragen werden. Im ersten Anlauf zumindest tut Er nicht,
wozu Er aufgefordert wurde, sondern redet scheinbar von etwas ganz anderem.

Aber gerade so, in dem Er scheinbar nicht tut, was von Ihm verlangt
wird, tut Er unendlich viel mehr: Er redet zu dem Kranken wie zu einem
Kind. So liebevoll wendet Er sich dem Gelähmten zu. Allein mit dieser
Anrede: „ Mein Sohn!“, ist eine neue Beziehung gestiftet.
Wie Er selbst, Jesus, der ewige Sohn des himmlischen Vaters ist, nimmt
Er jetzt den Kranken hinein in dieses besondere Verhältnis zu Gott.
Hier tun sich neue Aussichten auf, öffnen sich neue Horizonte, geht – sozusagen
durch das offene Dach des Hauses Jesu in Kapernaum – der Himmel
auf. Seine Zuwendung macht den Weg zu Gott frei.

Zugleich erfolgt durch Jesus Zuspruch eine Bereinigung der Lebensgeschichte
des Kranken: „Was dich belastet, ist weggenommen; was dich drückt,
ist aus der Welt geschafft; was dich lähmt, ist in nichts aufgelöst.
Was dich in der Tiefe hält und hemmt, ist ausgeräumt; was dich
lebensbedrohlich fesselt und festhält, ist aufgelöst und aufgehoben.
Was dich in deinem Verhältnis zu Gott behindert, beeinträchtigt,
bewegungslos macht, ist bedeutungslos, wirkungslos, nichtig. Die Vergangenheit,
die dich gefangen hielt und befangen machte, ist endgültig vergangen!“

Damit ist in Jesu Augen das alles Entscheidende schon geschehen, so
unscheinbar es klingen mag. Denn wir können mit dem Leben nicht
zurande kommen – ohne Vergebung. Wir leben ja nicht „jenseits von
Gut und Böse“, sondern wir tragen Verantwortung für unser
Leben, für unsere Taten, auch für unsere Fehler. Und Jesus,
der am Besten über uns Bescheid weiß, tut darum das Entscheidende,
in dem er vergibt: „Deine Sünden sind dir vergeben.“

3. In solcher Zusage Jesu liegt zugleich ein Anspruch, der nun die anwesenden
Schriftgelehrten überrascht: „Wie kann Jesus so reden? Was
sagt Er da? Was tut Er da? – Er handelt, wie nur Gott handeln kann,
und spricht, wie nur Gott reden darf!“ Ganz recht! Die Kenner der
heiligen Schriften kennen sich aus; sie erkennen sogar ansatzweise, was
hier geschieht und verkennen es zugleich. Sie wissen Bescheid und deuten
ganz richtig, was Jesus hier tut; aber verweigern sich selber dem, was
vor sich geht.

Innerlich bestreiten sie Jesus das Recht, so zu reden und so zu handeln.
Gefangen in den Richtigkeiten ihrer Bibelkenntnis, gelähmt durch
ihr festgestelltes Bild von Gott, gefesselt an wohlbegründete Überzeugungen
davon, wer Gott und wie Gott ist, klagen sie Jesus heimlich an: „Das
ist Gotteslästerung, wie er sich verhält, wie er handelt! Das
ist überheblich, anmaßend, gottfeindlich!“

Sie durchschauen nicht, was wirklich vorgeht. Aber Jesus durchschaut
sie. Er sieht klar, wer hier in Wirklichkeit gelähmt ist. Die Kenner
der heiligen Schriften wehren die Einsicht ab, die ihnen vor Augen steht,
und bleiben gebunden an ihr altes Welt- und Gottesbild. Sie bleiben verschlossen
gegen die neuen Möglichkeiten, bleiben abgeschottet gegen die neue
Wirklichkeit, die Jesus ins Werk setzt und Gestalt gewinnen lässt.
Die – für sie ärgerliche – Überraschung führt
bei ihnen nicht zum Aufbruch, sondern zur Abwehr; sie bringt nicht in
Bewegung sondern belässt sie in ihrer geistigen und frommen Erstarrung.

Daran ändert auch nichts, dass Jesus das scheinbar Schwerere tut,
als Er den körperlich Gelähmten zum Aufstehen auffordert. Sünde
zu vergeben, mit Gott ins Reine zu bringen, Heil zu bringen, ist in Jesu
Augen tatsächlich schwerer und wiegt auch schwerer, als gesund zu
machen. Dass Jesus die Heilung nun doch auf dem Fuße folgen lässt
macht deutlich: Er kann beides, weil Gott Ihm Macht zu beidem gibt –
den ganzen Menschen heil zu machen nämlich.

4. Jetzt erst steht der Gelähmte auf, rollt seine Matratze zusammen
und begibt sich in den aufrechten Gang. Die Augenzeugen dieses Vorgangs
sind nun ihrerseits überrascht, verwirrt wohl auch, hin- und hergerissen
zwischen Erstaunen und Gotteslob. Aber sie geben den Weg frei, nachdem
sie zuvor wie eine undurchdringliche Wand waren. Nun ist auch in sie
Bewegung gekommen: Bewegt von dem Ereignis der Sündenvergebung und
der Wiederherstellung der Bewegungsmöglichkeiten des Kranken, werden
sie am Ende doch zum Gottes Lob bewogen: „Unerhört, nie gesehen,
unerwartet, unverhofft, nie da gewesen – so etwas!“

Jesus löst Fesseln und bricht Lähmungen auf. Die Menge, die
zuvor gebannt an Jesu Lippen hing, lässt sich nun mitreißen
und in Bewegung bringen, fängt selber an, erstaunt zuerst noch,
Gott zu preisen. Und damit beginnt auch für sie, wie für den
geheilten Menschen, ein neuer Weg.

5. Wohin gehören wir in dieser Geschichte, in diesem Evangelium?

5.1 Ein Teil von uns – und ich bin überzeugt, das jede/r
von uns in sich mehr oder weniger Anteil an diesen Teilen hat, so dass
es sich nicht um Gruppen in unserer Gemeinde, sondern um Lebensbereiche
in uns selbst handelt – ein Teil von uns ist wohl immer auch Abwehr,
wenn es um neue Erfahrungen mit Gott geht. Es gibt uns Sicherheit, wenn
wir uns an das Gewohnte, Geübte, Bekannte, Überlieferte halten.
Aber das Klammern an die liebgewordenen Gewohnheiten kann uns auch lähmen,
zum Stillstand bringen, wenn wir nur darauf bedacht sind, das alles bleibt,
wie es immer war. Dieser Teil von uns wird mit dem überraschenden,
in Erstaunen und Bewegung versetzenden Handeln Jesu konfrontiert. Gebe
Gott, dass wir uns nicht lähmen lassen!

5.2 Ein Teil von uns spürt wohl auch diese Lähmung und sehnt
sich danach, in Bewegung gebracht zu werden, aus den inneren Verkrustungen
befreit zu werden, aus den Erstarrungen des Seelenlebens heraus zu kommen.
Dieser Teil von uns wird an Jesus gewiesen, der sich in unsere Richtung
in Bewegung gesetzt hat, damit wir nicht länger an unsere gewohnten
Sichtweisen gefesselt bleiben. Uns wird vor Augen gestellt, wie Jesus
alte Bindungen und Bande sprengt, so dass ein vorher gelähmter Mensch
wieder fröhlich springen kann. Gebe Gott, dass wir uns bewegen lassen!

5.3 Ein Teil von uns wird sich darin bestätigt sehen, dass das
Entscheidende im Evangelium doch die Vergebung ist, und dass sie bei
Jesus zu finden ist. Diesem Teil wird hier eine Klärung und Vertiefung
seiner Sicht zu teil: Wie liebevoll Jesu Zuwendung ist! Wie gründlich
Er mit meiner Vergangenheit aufräumt! Wie kräftig er mir Entlastung
zu Teil werden lässt! Wie befreiend Sein heilsamer Zuspruch wirkt!
Wie freundlich Er mich in die Gottesgemeinschaft hinnimmt!

5.4 Ein Teil von uns will sicher gern behilflich sein, dass anderen
geholfen werde – besonders, wenn wir selbst Hilfe erfahren haben.
Diesem Teil wird hier Mut gemacht, sich nicht von Hindernissen aller
Art davon abbringen zu lassen, Menschen zur Begegnung mit Jesus zu führen,
zu bringen, notfalls auch zu tragen und zu schleppen. Nur, dass sie zu
Jesus kommen, weil wir ahnen, hoffen, wissen, dass er das Entscheidende,
das in der Tiefe Hilfreiche tut.

5.5 Ein Teil von uns schließlich wird erstaunt und verwundert
sein, doch offen, in das Gotteslob einzustimmen, weil Jesus Sünden
vergibt, einen neuen Anfang schenkt und auch uns in Bewegung bringt.

Amen.

Prof. Dr. Werner Klän, Oberursel
werner.klaen@gmx.de

 

 

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