Markus 2,1-12

Markus 2,1-12

Vorher-Nachher-Bilder | 19. So. n. Trinitatis | 23.10.2022 | Mk 2,1–12 | Niels Kindl und Dr. Malte Cramer |

Kanzelgruß:

Die Gnade unseres Herrn Jesus Christus, die Liebe Gottes und die Gemeinschaft des Heiligen Geistes, die sei mit Euch allen – Amen.

Liebe Gemeinde,

Sie sind ein ständiger Begleiter in unserem Alltag. Sie warten an vielen Ecken auf uns und es scheint, als könnten wir uns ihnen nicht entziehen. Sie versprechen viel, machen Hoffnung auf etwas Besseres, etwas Tolleres, etwas Schöneres.  Sie drücken eine innere Sehnsucht von uns nach Idealen aus und symbolisieren die weit verbreitete Haltung unserer Gesellschaft, nach Perfektion zu streben. Sie bringen uns zum Staunen, zeigen uns, dass das Unmögliche augenscheinlich doch möglich ist. Doch meistens – sind sie nichts weiter als eine Illusion.

Die Rede ist von “Vorher-Nachher-Bildern“! Vorher-Nachher-Bilder kennen sie sicherlich alle:

Unzählige Zeitschriften, Internet-Blogs oder Influencer auf Instagram und Facebook werben für die neueste Diät und lassen den Eindruck entstehen, man könne ohne weiteres schnell und einfach abnehmen. Ob 3-D-Diät, Fatburner-Diät, Atkins-Diät oder Kohlsuppen-Diät – jede dieser Schlankheitskuren wird durch ein Vorher-Nachher-Bild flankiert und verspricht uns, dass wir unsere Pfunde in Windeseile verlieren. Was natürlich in den meisten Fällen scheitert.

Nicht nur Diäten, sondern auch Make-up und die neuesten Schminkprodukte verheißen viel: Eine natürliche, frischere Ausstrahlung, ein zart leuchtender Teint, Schlupf-Lider einfach wegzaubern, noch akzentuiertere Gesichtszüge, eine bessere Straffheit der Lippen, ein luxuriöser Look der Nägel. Kurzum: Es existiert der Wunsch nach einer Veränderung, nach einem neuen Aussehen. Schritt für Schritt zum idealen Look.

Insbesondere junge Frauen sind die Zielgruppe von diesen und ähnlichen Werbekampagnen. Doch auch Männermagazine und deren Youtube-Kanäle versprechen eine Menge dank Vorher-Nachher-Bildern: Ein noch durchtrainierterer Body, ein noch schlankerer Körper und noch größere Muskeln. Der Sixpack-Guide für Männer mit verheißungsvollen Bildern soll schon nach wenigen Tagen und Trainingseinheiten zu sichtbarem Erfolg führen. Haarkapseln versprechen Männern mehr und fülligere Haare. Der Haarausfall wird gestoppt und das Haar sprießt – dichter als je zuvor. Wer es nicht glaubt? Vorher-Nachher-Bilder lügen nie!

Und nicht nur in Zeitungen und Zeitschriften oder auf Facebook und bei Instagram, sondern auch in Fernsehshows werden wir tagtäglich mit Vorher-Nachher-Bildern konfrontiert: In der Show Einsatz in vier Wänden sorgen Vorher-Nachher-Bilder von Möbeln und Wohnungen oft für großes Staunen. Bei Die Schnäppchenhäuser werden sogar ganze Gebäude einer Vorher-Nachher-Kur unterzogen. Und auch der Garten bleibt bei Ab ins Beet oder bei Die Beet-Brüder nicht von einem Vorher-Nachher-Vergleich verschont.

Vorher-Nachher-Bilder wohin man schaut. Dass dieses Mittel speziell von der Werbeindustrie eingesetzt wird, ist sicherlich nicht unbegründet. Offenbar ist es ein großer und sehnsüchtiger Wunsch von sehr vielen Menschen, sich zu verbessern, schöner zu werden, noch toller auszusehen – raus aus dem alten Leben hinein in das neue Glück.

Ein tiefes Verlangen nach Veränderung. Geht es uns persönlich nicht auch so, wie in einem Vorher-Nachher-Bild? Haben wir in unserem Leben nicht auch häufig den Wunsch, uns zu wandeln, uns zu verändern, unser Leben zu renovieren? Das alte loslassen? Endlich neu durchstarten – und das nicht nur rein optisch?

Die Vorher-Nachher-Bilder, denen wir in unserem Alltag im TV oder in den sozialen Medien begegnen, sind allerdings oft nur eine äußere Fassade, nichts weiter als Maskierungen und oft leere Versprechungen. Denn – und das ist das Entscheidende – sie setzen in der Regel nicht im Kern der Sache an, beginnen mit der Veränderung nicht im Inneren des Menschen – im Herzen –, sondern übermalen meist nur das Äußere.

Wie schön wäre denn eine Veränderung, die im Herzen beginnt. Eine Veränderung, die uns von Grund auf neu macht. Die uns von Zweifeln und Schuld befreit und aufgerichtet durch unser Leben gehen lässt. Die uns mit voller Freude erfüllt und uns dadurch eine tolle Ausstrahlung verleiht. Schönheit, die von innen kommt – ohne teure Produkte, ohne Risiken und Nebenwirkungen, ohne große Enttäuschungen, wenn es dann doch wieder nicht klappt.  Ein Vorher-Nachher-Bild, liebe Schwestern und Brüder, nach dem sich sicherlich viele von uns sehnen. Das Evangelium für den heutigen Sonntag, das wir in der Lesung gehört haben, und das zugleich der Predigttext für den heutigen Sonntag ist, liefert uns ein solches Vorher-Nachher-Bild.

Wir sind in einem schlichten Haus in Kapernaum am See Genezareth. Zahlreiche Menschen haben sich versammelt. Diese Versammlung ist ein recht bunter Haufen und besteht mindestens aus drei Personengruppen: Da sind zuerst die vielen, die das Haus auf natürliche Weise füllen. Menschen, die einfach da sind, Frauen und Männer aus der Nachbarschaft, Fischer, Handwerker, ein paar Alte, ein paar Junge, vermutlich auch einige Kinder. Sie hören zu, sind neugierig, was Jesus zu sagen hat.

Allerdings sorgt diese erste Gruppe von Menschen für ein Problem: Sie sind so eng beieinander und füllen das Haus, dass sie keinen von außen mehr reinlassen. Sie merken gar nicht, dass draußen vor der Tür noch eine zweite Gruppe von Menschen ist, die irgendwie versuchen etwas von dem mitzubekommen, was in dem Haus geschieht. Unter ihnen ist ein kleiner Trupp aus vier Personen, der ums Haus herumläuft und gemeinsam eine fünfte Person auf einer Bahre mit sich trägt. Verzweifelt begehren sie Einlass in das Haus. Die vielen, dicht gedrängten Menschen im Haus kriegen nicht mit, dass da welche sind, die vom Rand des Geschehens in dessen Mitte möchten.

Die Kleingruppe aus vier Leuten gibt jedoch nicht auf. Sie stehen treu zu ihrem gelähmten Freund, den sie auf einer Bahre mit sich tragen. Sie sind auf Jesus aufmerksam geworden. Denn dieser Jesus – eigentlich ein Handwerker – ist offenbar nicht nur ein begabter Laienprediger, sondern er ist auch Arzt, hat irgendwie heilende Hände. Warum sollte er nicht auch ihrem Freund helfen? Schließlich haben sie eine Idee: Sie schleppen ihren Freund über die Außentreppe aufs Flachdach. Wenn’s unten nicht klappt, dann eben oben. Sie graben sich mit ihren Händen durch die Lehmdecke des Hauses und lassen den Bewegungslosen an Seilen herab, bis er genau zu den Füßen Jesu liegt. Jesus zeigt sich davon beeindruckt. “Glauben” nennt er diesen Einsatz für den Freund; Glauben nennt er es, dass sie nichts wichtiger finden, als ihn zu Jesus zu bringen. “Glauben heißt hier: den Nächsten nicht aufgeben, sich etwas für ihn einfallen lassen, Widerstände überspringen, Jesus erreichen wollen und ihm alles zutrauen.”

Und dann ist da noch eine dritte Gruppe von Leuten: ein paar gut ausgebildete Theologen. Auch sie nehmen es ernst mit dem Glauben. Auch sie wollen daher wissen, was dieser scheinbar so begabte Laienprediger zu sagen hat. Es ist auch eigentlich alles schön und gut, was er so von sich gibt. Dann aber sagt Jesus diesen einen Satz zu dem gelähmten: „Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben“.

Da kommt bei ihnen das theologische Uhrwerk in Gang. Ihre theologischen Alarmglocken schrillen sozusagen. Wenn er das sagt, dann behauptet er, nicht weniger als in göttlicher Mission zu wirken. Da nimmt er in Anspruch, was eigentlich nur Gott tun darf: Sünden vergeben. Dann aber ist er entweder verrückt oder er ist ein schlimmer Lästerer ihres Glaubens. Dann ist das, was er sagt, Blasphemie, Gotteslästerung, nach ihrem Gesetz ein todeswürdiges Verbrechen. Das alles schießt ihnen durch den Kopf – und Jesus erkennt das. Ebenso wie die vier Freunde zuvor das Dach aufgedeckt haben, deckt Jesus nun die Gedanken der Schriftgelehrten auf und fordert sie heraus: “Was ist leichter, zu dem Gelähmten zu sagen: Dir sind deine Sünden vergeben, oder zu sagen: Steh auf, nimm dein Bett und geh hin?” Eine Antwort der Schriftgelehrten bleibt aus. Also fährt Jesus fort und spricht: “Damit ihr aber wisst, dass der Menschensohn Vollmacht hat, Sünden zu vergeben auf Erden, sprach er zu dem Gelähmten: Ich sage dir, steh auf, nimm dein Bett und geh heim! Und er stand auf und nahm sogleich sein Bett und ging hinaus vor aller Augen, sodass sie sich alle entsetzten und Gott priesen und sprachen: Wir haben solches noch nie gesehen.”

Was für ein Vorher-Nachher-Bild!

Liebe Schwestern und Brüder,

auch wir wirken im übertragenen Sinne oft wie gelähmt – blockiert – gehemmt. Und wir versuchen dabei immer wieder uns selbst zu retten, uns selbst auf die Beine zu helfen. Der Wunsch nach einem Neuanfang, nach einem Neubeginn, einem Start in ein neues, frisches Leben ist da. Und das weiß auch die Werbeindustrie: ein neues Styling, eine neue Diät, neues Make-Up, die neusten Trainingsmethoden, schöner wohnen, ein neuer Look, das Leben umkrempeln – doch hiermit versuchen wir nur, unser bisheriges Leben zu kaschieren. Im Inneren lähmen uns noch die gleichen Probleme und Sorgen wie zuvor. Da hilft das neue Aussehen auch nicht weiter, da rettet uns auch nicht die neuste Diät, da hilft kein Make-Up und kein Umstyling.

Unsere Vorher-Nachher-Bilder in der Werbung nutzen unsere Sehnsucht und unsere Unsicherheiten gnadenlos aus. Sie missbrauchen sie für kommerzielle Zwecke und suggerieren uns ein besseres Leben. Was bleibt? Häufig bleiben wir weiterhin gelähmt: Gelähmt durch unsere Last im Alltag, durch Probleme, durch Stress, gelähmt durch Erwartungen, die die Familie, Freunde, Bekannte, die Gesellschaft, die vor allem wir selbst an uns stellen.

Wie kommen wir also – wie der Gelähmte im Markusevangelium – auf die Beine, was gibt uns den nötigen Schwung für unser Leben, für einen neuen Lebensabschnitt? Was schenkt neue Perspektiven? Was bewirkt in uns eine Veränderung, die nicht nur auf Äußerlichkeiten abzielt, sondern auf das Innerste?

Liebe Schwestern und Brüder,

die Antwort darauf finden wir in den Worten Jesu an den Gelähmten: “Mein Sohn, deine Sünden sind dir vergeben.” Es ist der Zuspruch der Vergebung. Es ist der Zuspruch Gottes: „Du bist mein geliebtes Kind“. Es ist der Freispruch: Du bist nicht mehr in der Ferne und Fremde, Du bist zu Hause. So kommen wir auf die Beine.

Jesus lässt uns nicht allein mit unseren Problemen. Jesus erkennt uns in unserer Verzweiflung. Jesus sieht uns mit unserer Last, die uns lähmt und handlungsunfähig macht. Eine Last, die es uns unmöglich macht, uns selbst zu befreien und wieder loszulaufen.

Vergebung heißt: Diese Last nimmt Jesus uns ab. Das ist jetzt aus und vorbei, Vergangenheit für ewig. Du bist nicht, was Du leistest. Du bist auch nicht, worin Du versagst. Du bist zuerst und zuletzt mein Kind – vor und nach allem, was Du leistest, und trotz allem, worin Du versagst. Du kannst nachts schlafen gehen und sagen: Morgen ist ein neuer Tag – mit Gott.

Selbstverständlich vollzieht Jesus in dieser Geschichte aus dem Markusevangelium ein außerordentliches Wunder, indem er den Gelähmten heilt und dieser wieder gehen kann. Doch es gilt diesbezüglich zu beachten: “Wunder befreien von dem, was das Leben einengt, und stellen die Grundlagen des Lebens wieder her.” Deshalb geht Jesus in dieser Geschichte aus dem Markusevangelium nicht als erstes auf die Äußerlichkeiten, auf die körperlichen Einschränkungen des Mannes ein. Sie sind für Jesus nicht das Entscheidende. “Das Entscheidende (in Jesu Sicht) ist gar nicht die Heilung, sondern die Vergebung der Sünden, das Wunder der Heilung ist nur die Bestätigung, dass Jesus auch das Größere vermochte.” Jesus wendet sich also als erstes dem Inneren des Gelähmten zu. Jesus wirkt von innen nach außen, nicht von außen nach innen. Jesu Zuspruch der Vergebung setzt im Herzen eines Menschen an und bewirkt von dort aus eine Veränderung.

Diese Veränderung ist es, die – sowohl in der Geschichte des Markusevangeliums als auch auch uns – im wahrsten Sinne des Wortes auf die Beine hilft. Besser als jedes Make-Up, besser als jede Diät, besser als jede Wunderpille. Ein Neuanfang, der von innen kommt und – von unserem Herzen aus – nach außen wirkt. Voller Freude, voller Herzlichkeit, voller Lebenslust!

Ein schöneres Vorher-Nachher-Bild kann es einfach nicht geben! Ich lade sie ein, dieses Vorher-Nachher-Bild selbst zu entdecken und zu erleben. Selbst zu erfahren, wie Gottes Zuspruch der Vergebung das Leben verändert und neue Handlungsmöglichkeiten schenkt.

Liebe Schwestern und Brüder,

Vorher-Nachher-Bilder – viele von uns haben diesen Wunsch, diese Sehnsucht, dieses Verlangen nach einem Neuanfang. Eine Veränderung. Ein neues Leben. Ein Leben, in dem wir endlich befreit und nicht eingeengt leben können, in dem wir wieder als Kinder Gottes aufgerichtet werden. Jesus lädt uns zu diesem neuen Leben ein. Eine Veränderung, die nicht ohne Folgen bleibt, weil sie eben kein bloßes Überstreichen oder Vertuschen ist, sondern konkret in unserem Zentrum, im tiefsten Inneren beginnt.

Denn Veränderungen, die nur von außen gesteuert werden, funktionieren normalerweise nicht oder nur für eine begrenzte Zeit. So sind Vorher-Nachher-Bilder in der Werbung auch immer nur eine Momentaufnahme. Eine Momentaufnahme, die schnell verpufft.

Was Jesus uns aber bietet, ist ein Vorher-Nachher-Bild, das bis in die Ewigkeit reicht. Der Zuspruch der Vergebung. Ein neues Leben mit Gott. Kein bloßes Make-Up, keine Maskerade, keine nur optische Veränderung. Sondern eine Veränderung, die von innen nach außen geschieht. Eine Erneuerung, die im Herzen wirkt  und nach außen sichtbar wird.

Ein besseres Vorher-Nachher-Bild kann es nicht geben!

Amen.

Kanzelsegen:

Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, der bewahre Eure Herzen und Sinne in Christus Jesus – Amen.

Dr. Malte Cramer, geb. 1992, ist Vikar in der Evangelischen Kirchengemeinde Recklinghausen-Ost und Lehrbeauftragter für Neues Testament an der Evangelisch-Theologischen Fakultät der Ruhr-Universität Bochum.

malte.cramer5@rub.de

Niels Kindl, geb. 1984, ist seit 2012 Prädikant in der Kirchengemeinde Wanne-Eickel und hat eine große Leidenschaft für Ökumene. Als Prädikant liebt er es, Bibel nicht zu erklären, sondern aufzuführen und seine Leser und Zuhörer in die unabgeschlossene Geschichte Gottes mit seinem Volk hineinzuführen.

niels.kindl@googlemail.com

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