Markus 6,30-44

Markus 6,30-44

Predigt zu Markus 6,30-44, verfasst von Pfarrer Jørgen Demant


Liebe Gemeinde!

Es wird wohl jemanden unter uns geben, der sagen will:
Naja, nun werden wir von einem der Wunder Jesu hören. Ach ja, die
Kirche und das Christentum sind nicht weiter gekommen als an Wunder zu
glauben. Aber wir wissen es besser: Jesus speiste nicht die große
Volksmenge mit fünf Broten und zwei Fischen. Wie in aller Welt soll
das zugegangen sein? Nein, das, was damals geschah, war, daß die
meisten in der Volksmenge sehr vernünftig Essen von zu Hause mitgenommen
hatten, aber als sie sahen, daß der kleine Junge das austeilte,
was er mithatte, wurden sie so gerührt, daß sie ihre Vorräte
auspackten und miteinander teilten.

Brot und Fisch, das hatten sie mit von zu Hause, so wie die Eskimos
gerne ein Stück Walfleisch in ihrem Hut verbergen für den Fall,
daß sie hungrig werden.
Sie teilten jedoch das Essen – und das
ist auch ein Wunder.

Oder ein anderer – ich glaube einige meiner Konfirmanden würden
sagen: Ja, ein Wunder dieser Art ist alter Aberglaube oder Wunderglaube.
Also etwas, das unterhalb unseres heutigen Verstehens liegt. Ein Mirakel
als Aberglaube bzw. Wunderglaube – das muß gedeutet werden. Ausgelegt
werden. Wir kommen also zum Kern der Bedeutung der Geschichte von Jesus,
der tausende von Menschen mit zwei Broten satt macht. Damit soll gesagt
werden, daß Jesus etwas ganz Besonderes ist.

Da sitzt wohl ein kleiner Rationalist in uns allen. Wir denken vernünftig
– kühl zurückgelehnt: Ja, ja, das ist eine schöne Geschichte.
Aber eine primitive Form von Glauben.

Dazu ist zu sagen: Der Aberglaube blüht heute wie nie zuvor. Glaube
an Geister jeder Art. Selbst das Fernsehen zieht große Mengen von
Sehern an, indem man die merkwürdigsten geistigen Phänomene
zeigt, die weit mehr phantastisch und merkwürdig sind als das, was
der Bericht des Evangeliums erzählt. Ich möchte also ernsthaft
bezweifeln, ob wir wirklich so viel vernünftiger geworden sind.

Und schließlich: Kommen wir in die Kirche, nur um unser Leben
zu deuten, indem wir es vernünftig erklären? Versteht du alles,
was du bei einer Taufe mit erlebt hast? Verstehen wir alles in den Liedern?
Verstehen wir das Wunder? Verstehen wir, daß wir leben? Verstehst
du, daß du sterben wirst? Kommen wir nur, um zu verstehen und auszulegen?

Vielleicht kommen wir auch, weil wir uns über etwas wundern. Daß hier
ein Spalt ist in ein Geheimnis in unserem Leben, das wir auf keine vernünftige
Formel bringen können. Sind Brot und Fisch etwas, was man versteht
oder erlebt?

Ihr müßt nun eine Erzählung hören, die zum Wundern
Anlaß gibt. Mehr Wundern als Überraschen. Mehr Wundern als
Verstehen. Hört also erst mal zu:

Es war einmal eine Frau. Sie war Dienstmädchen für zwei ältere
Frauen, zwei Schwestern, die zusammen wohnten. Das war im 19. Jahrhundert
an der norwegischen Westküste. Die beiden waren Töchter eines
Propstes. Als er starb, vesorgten sie die kleine Gemeinde. Sie hielten
Bibelstunden, wo sie um einen Tisch saßen und aus der Bibel lasen.
Sie legten die Bibel für einander aus. Die Propsttöchter halfen
den Kranken, brachten den Bettlägerigen Essen.

Das Dienstmädchen, das sie hatten, war plötzlich an einem
kalten Abend aufgetaucht. Sie war mit dem Schiff gelandet aus Frankreich
draußen an der Küste. Sie suchte Unterkunft bei ihnen. Sie
wurde eine große Stütze, sowohl für die Propsttöchter,
die nun keine Hausarbeit mehr verrichten mußten, als auch für
die Gemeinde, denn ihr Essen war viel besser. Babette – so hieß das
Dienstmädchen – gewann in der Lotterie. Und sie wollte alles Geld
für ein Essen für die Gemeinde ausgeben aus Anlaß des
100. Geburtstages des verstorbenen Propstes.

Die Propsttöcher und die Gemeinde waren etwas unsicher und skeptisch.
Natürlich froh darüber, daß das Jubiläum gefeiert
werden sollte. Aber daß es eine kulinarisch großartige Mahlzeit
werden sollte, das hätte man sich gerne verbeten, denn sie lebten
nach der Auslegung der Bibel, wie sie der Propst ihnen gelehrt hatte.
Die lief darauf hinaus, daß man genügsam und sparsam leben
soll. Puritanisch würden einige sagen, zurückhaltend und angemessen.
Denn das Essen bedeutete ja nichts. Das Geistige war wichtig.

Als der 100. Geburtstag kam, waren alle 12 Gemeindeglieder mit den
Töchtern des Propstes versammelt. Ein General und seine Tante –
eine Gutsbesitzerin war auch dabei. Die Töchter des Propstes hatten
bestimmt, daß man nicht über das Essen reden dürfe, wenn
es auf den Tisch kam. Es bedeutete nichts. Es war ja der 100. Geburtstag
des Propstes, der im Mittelpunkt stand, was er bedeutet hatte. Hier gab
es nichts als Gerstenbei, Klippfisch und Limonade.

Der Klippfisch hatte sich in eine Schildkrötensuppe verwandelt.
Der Gerstenbrei zu „cailles en sarchphage“ – eingebackene Wachteln,
die Limonade in den italienischen Amontillado. Leckerein im Überfluß.

Der General hält eine Rede, wo er ein Lied zitiert, das wir noch
heute in unserem Gesangbuch haben: „Gnade und Wahrheit kommen zusammen,
meine Freunde … Gerechtigkeit und Freude sollen einander küssen“.
Große Worte. Fast geheimnisvolle Worte, die nicht zu verstehen
sind. Aber dann fügt er hinzu: „Wir Menschen sind kurzsichtig.
Wir wissen wohl, daß es Gnade im Univers gibt. Aber in unserer
menschlichen Kurzsichtigkeit stellen wir uns sogar die göttliche
Gnade als endlich vor. Wir zittern dann .., bis wir hier in unserem Leben
unsere Entscheidung treffen. Und wir fürchten, nachdem wie sie getroffen
haben, daß wir nicht richtig gewählt haben. Aber der Augenblick
kommt, wo unsere Augen geöffnet werden und wir verstehen, daß die
Gnade unendlich ist. Sie verlangt nichts anderes von uns, als daß wir
sie in Vertrauen erwarten und sie dankbar erkennen. Sie stellt keine
Bedingungen und wählt keinen einzelnen unter uns aus; sie deklariert
allgemeine Amnestie. Siehe, das was wir gewählt haben, wird uns
geschenkt, und das, was wir abgeschlagen haben, wird uns zuteil. Ja,
das war wir verworfen haben, wird uns im Übermaß gereicht.
Denn Gnade und Wahrheit kommen zusammen, Gerechtigkeit und Freude sollen
einander küssen“.

Wir sind kurzsichtige Menschen: Wir glauben, daß alles in unserm
Leben darauf ankommt, daß wir das Richtige wählen. Es kommt
auf unsere Einstellung an, unsere Meinung, unsere Handlung, unsere Wahl.
Nicht nur Wahl der Arbeit und Karriere, von Kameraden und Freunden, sondern
auch Wahl von Lebensstil, die Art, in der wir leben. Das hatte der General
ganz befolgt. Er hatte etwas Wichtiges gewählt seit seinen jungen
Tagen, er war an die Spitze des militärischen Systems gelangt –
und General geworden. Und nun erkennt er in seinem hohen Alter die Kurzsichtigkeit.
Erkennt, daß das Wichtigste im Leben das war, was ihm geschenkt
wurde. Es war zu ihm als Geschenk gekommen. Als Gnade.

Das ist Gnade – einem nicht etwas zur Last legen. Nicht für etwas
sorgen müssen. Alles wird einem gegeben. Wie Essen, das auf den
Tisch gesetzt und einem gereicht wird. Wie der beste Wein, der ins Glas
geschenkt wird.

Die Kurzsichtigkeit. Die Gemeinde. Die 12 und die Propsttöchter.
Sie hatten mit dem Alter eine kurzsichtige Sicht auf das Dasein bekommen.
Sie lasen in der Bibel und legten sie so gut aus, wie sie konnten, aber
sie haßten einander ohne jeden Grund. Sie lasen über Nächstenliebe, über
die freundliche Gesellschaft, Nähe und Nachsicht. Und sie konnten
die eine Gehässigkeit nach der anderen servieren. Neid und Nachtragen
in Kleinlichkeiten konnten sie nicht vergessen. Sie hielten sozusagen
an den Stullen fest. Dem Mehl und der Limonade. Glücklicherweise
schmeckten sie an diesem Abend das Essen und den Wein, die ihnen im Übermaß zuströmten.
Und als sie nach Hause gingen, tanzten sie um den Brunnen im Hof wie
kleine Kinder und segneten einander. Da geschah ein Wunder. Ein Mirakel.
Sie lachten über einander, machten sich übereinander lustig,
so daß ihnen die Tränen kamen. „Du hast mich mit dem
Holz betrogen, du alter Schuft“ – und dann brach er vor Lachen zusammen. „Ja,
das habe ich, lieber Bruder“ – und sie fielen einander um den Hals
und küßten sich. Gnade und Wahrheit kommen zusammen, Gerechtigkeit
und Freude …

Sie hatten einen Sinn und eine Haltung, als sie kamen. Das waren nur
Stullen. Und sie erlebten ein kleines Mirakel, ein großes Wunder.
Sie kamen kurzsichtig und gingen langsichtig wieder fort.

Kurzsichtigkeit als Zurückhaltung. Immer mit seinen alten Stullen
mit Schmalz und Mettwurst kommen und meinen, daß da nicht mehr
ist: keine ‚cailles en sarchophages‘, kein Amontillado. Kurzsichtigkeit
als Erwartungslosigkeit: Da ist nichts mehr zu glauben. Da kommt nichts
mehr dabei heraus.

Kurzsichtigkeit als Vorsicht. Nicht das Große sehen wollen, sich
nicht dem Großen übergeben wollen. Nur den Mangel und den
Unterschuß sehen, nicht die Größe und den Überschuß und
den Segen im Dasein.

Kurzsichtigkeit als Buchhalterei. Daß man mit sich selbst und
anderen Rechenschaft abhält. Man kann die Widrigkeiten nicht auf
Abstand halten. Sie stehen einem vor Augen. Was er falsch gemacht hat.
Was sie Böses über mich gesagt hat. Die Widrigkeiten des Lebens
nicht vergessen können, immer auf dem Eigenen bestehen, meiner Wahrheit,
meinem Recht.

Die gute Mahlzeit läßt einen vergessen. Verdrängen.
In den Hintergrund drängen. Das wird unwichtig. Denn nun ist etwas
wichtiger, das, wir gemeinsam haben. Das, was wir gemeinsam sehen. Die
Mahlzeit und die Tischgemeinschaft bieten eine Wahrheit, die größer
ist als meine eigene Wahrheit. Die Mahlzeit schenkt eine allgemeine Amnestie.

Das Dienstmädchen Babette arrangierte eine Mahlzeit, die die Engel
singen ließ. Wie die Schwestern nach dem Gastmahl sagten, auch
wenn sie es bei ihr nicht für möglich gehalten hatten: „In
dieser unserer schönen Welt ist alles möglich“.

Es ist möglich, das Wunder zu erleben, das Mirakel. Es ist möglich,
daß Leben zu einem kommt. Daß das glücklichste, feinste
und beste Leben zu einem kommt wie bei einem wohlgedeckten Tisch mit
dem besten Essen und Trinken. Es ist möglich zu erleben, daß Grenzen
zwischen Menschen überwunden werden und man Gemeinschaft und Zusammenhalt über
die Unterschiede hinweg spürt.

Gott hatte einen Diener – Jesus. Der liebte Mahlzeiten, bei denen die
Engel singen. Wir hören im Neuen Testament von der einen wunderbaren
Mahlzeit nach der anderen – wie heute. Mahlzeiten, die Mirakel und Wunder
erleben lassen wie bei Babette: „Daß in dieser schönen
Welt alles möglich ist“. Jesus nannte die Tischgemeinschaften
Mahlzeiten des Gottesreichs. Denn hier war das Reich Gottes. Wie der
General sagte: „Gnade und Wahrheit kommen zusammen, Gerechtigkeit
und Freude sollen einander küssen“. Aber die Kurzsichtigen
mochten diese Tischgemeinschaften nicht, bei denen Jesus mit jedem aß,
den schlimmsten Elementen. Und auch wenn sie mit ihm zu Tische saßen
und die Gemeinschaft der Liebe erlebten, verrieten und vermieden sie
die weite Sicht zugunsten der kurzen Sicht.

Sie schlugen ihn ans Kreuz, und er, der als Wehrloser gelebt hatte,
starb als der Wehrlose und rief: Mein Gott, mein Gott, warum hast du
mich verlassen?

So könnte man ja glauben, daß die Sache damit gegessen sei.
De Kurzsichtigen gewannen über die Weitsichtigen. Das war nicht
der Fall.

Der Abendmahlstisch ist heute gedeckt. Er ist ein Zeichen dafür,
daß die Kurzsichtigen zu kurz kommen. Daß das Reich Gottes
mit der Tischgemeinschaft mit ausgerottet ist. Das letzte war nicht,
daß Gott Jesus im Stich ließ, sondern daß Gott ihm
Recht gab.

So wie Jesus es bei der letzten großen Mahlzeit sagte, gilt es
nach seinem Tod. Ja, er ließ die Mahlzeit weitergehen. Und jedes
Mal, wenn wir uns beim Abendmahl versammeln, werden wir daran erinnert,
daß in dieser unserer Welt alles möglich ist: Das Wunderbare
ist, daß Gott mit uns zu Tische sitzt, die wir seine Liebe verraten
und ihn und einander im Stich gelassen haben.

Brot ist Amnestie.
Brot ist Wunder.
Brot ist Gabe.

Amen.


Pfarrer Jørgen Demant
Hjortekærsvej 74
DK-45 88 40 Lyngby
Tel.: ++ 45 – 45 88 40 75
email: j.demant@wanadoo.dk

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