Markus 9,14-27

Markus 9,14-27

17. Sonntag nach Trinitatis
26. September 1999
Predigttext: Markus 9,14-27
Verfasser: Hans Joachim Schliep


Anmerkung:
Die Predigt soll in der Kronsberger Abendkirche um 18.00 Uhr, dem regelmäßigen Sonntagsgottesdienst im früheren EXPO-Neubaugebiet, gehalten werden. Eine ausführliche Auslegung des Vf. findet sich nach der Predigt


„Und sie kamen zu den Jüngern und sahen eine große Menge um sie herum und Schriftgelehrte, die mit ihnen stritten. Und sobald die Menge ihn sah, entsetzten sich alle, liefen herbei und grüßten ihn. 

Und Jesus fragte sie: ‚Was streitet ihr mit ihnen?‘
Einer aber aus der Menge antwortete: ‚Meister, ich habe meinen Sohn hergebracht zu dir, der hat einen sprachlosen Geist. Und wo er ihn erwischt, reißt er ihn; und er hat Schaum vor dem Mund und knirscht mit den Zähnen und wird starr. Und ich habe mit deinen Jüngern geredet, daß sie ihn austreiben sollen, und sie konnten’s nicht.‘
Jesus aber antwortete ihnen und sprach: ‚O du ungläubiges Geschlecht, wie lange soll ich bei euch sein? Wie lange soll ich euch ertragen? Bringt ihn her zu mir!‘
Und sie brachten ihn zu ihm. Und sogleich, als ihn der Geist sah, riß er ihn. Und er fiel auf die Erde, wälzte sich und hatte Schaum vor dem Mund.
Und Jesus fragte seinen Vater: ‚Wie lange ist’s, daß ihm das widerfährt?‘
Er sprach: ‚Von Kind auf. Und oft hat er ihn ins Feuer und ins Wasser geworfen, daß er ihn umbrächte. Wenn du aber etwas kannst, so erbarme dich unser und hilf uns!‘
Jesus aber sprach zu ihm: ‚Du sagst: Wenn du kannst – alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.‘
Sogleich schrie der Vater des Kindes: ‚Ich glaube; hilf meinem Unglauben!‘
Als nun Jesus sah, daß das Volk herbeilief, bedrohte er den unreinen Geist und sprach zu ihm: ‚Du sprachloser und tauber Geist, ich gebiete dir: Fahre von ihm aus und fahre nicht mehr in ihn hinein!‘
Da schrie er und riß ihn sehr und fuhr aus. Und der Knabe lag da wie tot, so daß die Menge sagte: ‚Er ist tot.‘
Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.“

Liebe Gemeinde!

Pünktlich, als unsere Abendkirche begann, wurden die Wahllokale geschlossen. Deutschland hat gewählt. Jetzt werden die Stimmen gezählt. Alle warten auf die ersten Hochrechnungen. Bevor auch wir uns dieser Spannung aussetzen, können wir erst einmal ausspannen. Abstand gewinnen von den politischen Debatten der letzten Wochen, von der Frage, ob denn diese Wahl überhaupt verfassungsgemäß ist, von der schwierigen Entscheidungsfindung: Wem soll ich denn nun mein Vertrauen schenken? Was ist denn nun der richtige Weg für unser Land?

Abstand gewinnen von der Spannung der letzten Tage? Der Predigttext für heute, den wir vorhin als Biblische Lesung gehört haben, ist ganz schön lebendig und voller Spannungen. Ein Vater will, daß sein offenbar epileptischer Sohn geheilt wird. Jesu Jünger können das nicht – entweder weil sie in einen theologischen Disput mit Jesusgegnern geraten oder weil sie überhaupt unfähig sind. Jesus tritt auf und wird zornig: Was will dieser Vater? Warum ist noch nichts geschehen? Was seid ihr doch für ungläubige, kraftlose Leute! Erwartet Jesus von seinen Leuten, bald auch von dem Vater, daß sie handeln wie Gott?! Als das Kind in Jesu Nähe gebracht wird, hat es gleich einen Anfall: als sei es von allen guten Geistern verlassen und als werde es von allen bösen Geistern hin- und hergerissen, als folgte seiner totalen Sprachlosigkeit im nächsten Augenblick der Herzstillstand. Am Schluß macht Jesus diesem Treiben machtvoll und gebieterisch ein Ende und hilft dem Kind wieder auf die eigenen Beine. Vorher fragt er den Vater nach dessen Glauben, nach dem, was ihn bewegt und treibt, was ihn mutig und stark macht. Der Vater kann nur mit einem Ausruf antworten: „Ich glaube. Hilf meinem Unglauben!“

Nichts paßt zusammen in diesem Aufschrei! Wer kann denn glauben, ohne zu glauben?
Indem ich auf eine etwas andere Weise als sonst diesem Wort nachgehe, möchte ich uns allen Abstand verschaffen, uns in diejenige Spannung versetzen, die uns gut tut, die uns heilt von den Zerrissenheiten und Besessenheiten unseres Lebens.

„Ich glaube. HERR, hilf meinem Unglauben!“ Es ist dieses widersprüchliche Wort, aber es ist zunächst der Vater selbst, der mich hineinzieht in diese Geschichte. Ich kann nicht sagen, ich wäre aufgewachsen ganz ohne Glauben, aber er spielte in meiner Familie und in meinem beruflichen Alltag keine Rolle. Da konnte ich, als mir der Glaube begegnete in Menschen, die glaubten, und vor allem in der Gestalt des Jesus von Nazareth, gar nichts anderes sagen als: „Ich glaube. Herr, hilf meinem Unglauben!“ Das war gar keine Bitte um Glauben. Es war eine Bitte, überhaupt irgendetwas zu fassen zu bekommen von dem, was Glauben genannt wird.

Doch zuerst einmal war mir der Vater sympathisch, einfach als Mensch. Wie der sich um seinen Sohn kümmert. Wie der sich nicht schämt für sein behindertes Kind, wie er es zeigt und nicht versteckt. Wie der Vater um Hilfe sucht. Was hat dieser Mann alles durchgemacht?! Nicht nur im Blick auf dieses Kind, sondern im Blick auf sich selbst. Denn ein solches Kind, das dauernd „Schaum vor dem Mund“ hat, das in spasmischen Krämpfen zuckt und sich windet, galt damals als Strafe Gottes – und das heißt: alle Welt schloß von diesem Sohn auf den Vater, der Sohn entlarvte den Vater als Sünder. Der Vater, der für sein Kind das Unmögliche sucht, sucht es auch für sich selbst. Jesus aber antwortet zunächst nicht mit einer Tat, durch die Unmögliches geschieht, eine radikale Wendung, eine Heilung, sondern mit einem unmöglichen Wort: „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ Aber ist es nicht allein Gottes Sache, noch das Unmögliche möglich zu machen? Und das soll nun auch dieser Mann, dieser Vater? Unmöglich!

Doch worum geht es eigentlich? Was hat der Junge überhaupt für eine Krankheit? Was bedeutet es, daß er besessen ist wie von tausend Dämonen? Meine etwas ungewöhnliche These lautet: Es mangelt ihm an GEGENWART. Ja, an GEGENWART. Der Junge hat, wie der Vater sagt, „einen sprachlosen Geist“. Wenn es ihn überkommt, wird er „starr“; dann ist er total dicht, „stoned“, könnte man sagen. Er verfällt also in Beziehungs- und Kommunikationslosigkeit. Infolgedessen nimmt er nichts mehr wahr, was um ihn herum und in ihm ist. Das meine ich mit Mangel, Verlust an GEGENWART. Und das ist dasselbe wie „Unglaube“. Denn „Unglaube“ heißt doch: Das nicht mehr richtig wahrnehmen, was ist. Seine Herkunft nicht kennen. Seiner Zukunft gegenüber gleichgültig sein. Nichts mehr davon spüren, wie jeder Augenblick ein Moment der Zeit in der Ewigkeit ist. Auch nicht mehr staunen können über die Schönheit des Lebens, zugleich das Erschrecken verloren haben über die Nachtseiten des Daseins. Kein Vertrauen mehr in die Gegenwart haben und keine Lust auf Zukunft.

Derzeit läuft alles unter der Devise: Leben im Hier und Jetzt. In der modernen Welt bedeutet es in Wahrheit aber: Du mußt nicht nur schneller sein als die anderen, du mußt dir selbst immer vorauseilen und kommst deshalb hinter dir selbst gar nicht mehr her. Die Welt bietet immer mehr Möglichkeiten, so daß in einer Lebenszeit davon immer weniger genutzt werden können. Auch wer sich mit anderen ehrlich und eifrig müht, diese Erde wieder bewohnbar zu machen, kann dabei ganz schön außer Atem kommen. So bist du dauernd „auf der Suche nach der verlorenen Zeit“ (Marcel Proust). Das macht heute das Leben so schwer. Es versetzt Junge wie Alte in eine Unruhe, die mehr zerstört als aufbaut, die mehr verschließt und „stoned“ macht als zu öffnen für die GEGENWART, für die Menschen und die Dinge des Lebens heute. Wir sind da kaum anders als der besessene, immerzu schon besetzte Junge.

Solcher „Unglaube“ überträgt sich auf den Vater. Der Vater aber widersteht ihm zugleich. Sein großes Wagnis ist nicht das Bekenntnis seines „Unglaubens“. Sein wirkliches Wagnis ist das Bekenntnis zu seinem „Glauben“. Das kann man erleben, wenn man von Menschen spöttisch oder neugierig gefragt wird: „Glaubst du wirklich – an Gott?“ Das habe ich selbst (nicht nur) als Werftarbeiter so erfahren. Zuerst habe ich argumentiert, Gründe genannt. Das hat aber wenig gebracht. Als ich aber einfach und spontan antwortete: „Ja!“ – da erst erwachte in den Menschen, die mich fragten, ein echtes Interesse; später konnten wir dann auch über Gründe sprechen.

Mit dem Glauben ist es wie mit der Liebe, der einen, großen: Nur ein einfaches „Ja!“ kann ihr gerecht werden! Vielleicht will Jesus gar nicht mehr von dem Vater, von uns, von dir und mir, wenn er in dem „Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.“ dazu auffordert, einfach einmal auf die Seite Gottes zu treten, es einfach einmal mit dem „Glauben“ auszuprobieren?

Die (wenigen) Auszeiten, die ich mir in Taizé genommen habe, haben mich auf die Spur gebracht, mich einfach einmal dem „Glauben“ auszusetzen und von Gottes GEGENWART auszugehen. Durch das kleine Büchlein von Frère Roger: „Die Quellen von Taizé“ (Freiburg 2004, folg. Zitate: S. 11, 45, 51, 57) wurde die Erinnerung wieder wach. Im Blick auf den Ausruf des Vaters schreibt er von einer „stillen Erwartung einer Gegenwart“. An einer späteren Stelle spricht er uns unmittelbar an: „Vielleicht hast du es bemerkt: Zutiefst im Menschen ruht die Erwartung einer Gegenwart. Denk daran: Diese schlichte Sehnsucht ist schon der Anfang des Glaubens.“ Und dann schreibt Frère Roger – gleichsam im Gespräch mit Jesus Christus – Sätze, die auf mich wie heilender Balsam wirken: „Jesus Christus, du hast mir wiederholt gesagt: Lebe das wenige, das du vom Evangelium begriffen hast, verkünde mein Leben unter den Menschen, komm und folge mir nach.“ Im Blick auf‘s Gebet resumiert er: „Magst du auch keinen fühlbaren Widerhall spüren, die geheimnisvolle Gegenwart Christi weicht nie von dir.“

Das ist das eigentliche Wunder Jesu, das macht seine Wirkung aus: Jesus geht einfach vom Dasein, von der Gegenwart Gottes aus, von „Gottes Reich mitten unter uns“ (Lk 17,21). Das Leben ist dann keine verpaßte Gelegenheit, sondern gelebte, erfüllte GEGENWART – Gegenwart Gottes. Weil sie, gefangen im Streit mit anderen und im Widerstreit mit sich selbst, diese GEGENWART wieder einmal verpaßt hatten, konnten die Jünger dem Jungen nicht helfen. Umso einleuchtender wird Jesu Schlußwort: „Diese Art kann durch nichts ausfahren als durch Beten.“ Denn was wäre Beten anderes, als in der Gegenwart Gottes zu leben?! Solche GEGENWART läßt glauben, daß es im Leben auch anders zugehen könnte, mit mehr Gerechtigkeit, mehr Frieden, weniger Gewalt.

Das mag jetzt genügen – so zwischen vollzogener Wahl und erwarteter Hochrechnung. Mit der Bekanntgabe des offiziellen Endergebnisses müssen wir uns ja noch gedulden, bis alle Dresdener gewählt haben. In diesem Zwischenraum, in dieser Zwischenzeit – kann uns da helfen, was wir aus der Begegnung eines Vaters mit einem kranken Sohn mit Jesus gehört haben? Zumindest in der Weise, daß wir uns dessen vergewissern konnten: Wir leben in der Gegenwart Gottes – auch im politischen Kampf. Das befreit uns von dem Druck, diesen Kampf wie Besessene führen zu müssen. Aber es verpflichtet uns und gibt uns Kraft, uns selbst politisch so auszurichten, daß kein Mensch zu Boden geht und die, die zu Boden gegangen sind, wieder aufgerichtet werden. Jesus will offenbar den aufrechten Gang. Er gibt uns dafür eine Orientierung: „Jesus aber ergriff ihn bei der Hand und richtete ihn auf, und er stand auf.“ Amen.


Hans Joachim Schliep
Ev. Kirchenzentrum Kronsberg
Sticksfeld 6, 30539 Hannover
0511 – 52 75 99
e-Mail: Hans-Joachim.Schliep@evlka.de


Liebe Gemeinde!

Kann ich dieser Geschichte Glauben schenken? Jesus heilt einen Jungen, der von einem bösen Geist besessen ist. Wer glaubt schon als Mensch des 20. Jahrhunderts, als aufgeklärter Mensch, an böse Geister, an Dämonen oder gar noch an den „Teufel“? Ich bin aufgewachsen mit einem anderen Leitbild: Die Welt ist entzaubert. Mit Vernunft und gutem Willen meistern wir die Restrisiken des Lebens. Unheimliches, Unglaubliches, „böse Geister“ haben da keinen Platz. Und den „Teufel“ sind wir längst los.

Doch meist schon nach wenigen Minuten „Tagesschau“ schießt es mir durch den Kopf: Es ist ‚mal wieder der Teufel los! Wie Menschen verachtet, vergewaltigt und vernichtet werden! Unfaßbar! Unglaublich! Unglaublich auch, wie Glaube an „böse Geister“ neue Blüten treibt, wie „Teufelskulte“ wieder aus dem Boden schießen. Dann geht es mir nicht aus dem Kopf: Sollte gerade dort der „Teufel“ besonders heftig los sein, wo ich glaubte, ihn los zu sein?

Verstehen Sie mich bitte recht: Wir dürfen nicht wieder dahin kommen, uns das Böse als eine bestimmte menschliche Gestalt vorzustellen. Noch schlimmer ist es, wenn bestimmten Menschen die Fratze des Bösen angeheftet wird: „Die mit dem bösen Blick.“ Damit muß ein für allemal Schluß sein. Vor allem darf nicht wieder geschehen, daß Kindern mit Bildern des Bösen, mit der Gestalt eines „Teufels“ Angst eingejagt wird – Angst, die ihr Grundvertrauen ein Leben lang erschüttert und zerstört.

Den nüchternen, klaren Blick aber für all‘ die Verkrampfungen und Verzerrungen, all‘ die Zerrissenheiten und Besessenheiten um uns herum – den müssen wir uns bewahren. Und das klare Empfinden: „Du bist manchmal ja selbst von allen guten Geistern verlassen!“ – wir müssen es behalten, damit wir uns selbst richtig einschätzen.

I.

Jetzt rückt mir der Junge aus der biblischen Erzählung mächtig nahe. Er ist von allen guten Geistern verlassen. Er ist besessen, es sitzt gleichsam etwas auf ihm drauf, eine fremde, böse Macht hält ihn besetzt. Die schüttelt ihn, läßt ihn schäumen und stürzen.

Was hat der Junge für eine Krankheit? Zunächst: Was wir heute mit ‚Krankheit‘ bezeichnen, ist etwas anderes als das, was zur Zeit Jesu ‚Krankheit‘ bedeutete. Heute verstehen wir ‚Krankheit‘ in erster Linie medizinisch: irgendein Körperorgan funktioniert nicht mehr richtig. Damals – und bis vor etwa 200 Jahren auch noch in unserem Kulturkreis – dachte man bei ‚Krankheit‘ an sehr viel mehr: Zum Beispiel an irgendeine Bedrängnis, in die man geraten war und aus der man aus eigenen Kräften nicht mehr herauskam. „Irgendetwas hält mich fest, besetzt und bedrückt mich.“

Das konnte, modern ausgedrückt, eine ‚Persönlichkeitskrise‘, eine ‚Sinnkrise‘ sein. Das konnte auch eine politische Bedrückung sein.

Tatsächlich standen, als Markus sein Evangelium schrieb, mit den Juden auch die Christen in Palästina unter stärkstem politischen Druck. Denn etwa um 70 nach Christus herum unterwarfen sich die Römer das ganze Land. Sie zerstörten den Jerusalemer Tempel. Alles stand unter Besatzungsrecht, überall war die Besatzungsmacht. Wer sich religiös oder politisch äußern wollte, war erst einmal zum Verstummen gebracht, mundtot, sprachlos gemacht.

Für die Christen, diese kleine Minderheit, kam hinzu: Sie konnten sich kaum Gehör verschaffen, die Leute liefen ihnen wieder davon, der kleine Rest schloß die Reihen fest zusammen, war in der Gefahr, sich abzuriegeln, äußere Einflüsse abzuwiegeln.

Das alles gilt es mitzusehen beim Krankeitsbild des Jungen. Es schillert zwischen Epilepsie und Autismus. Der stumme und taube Geist, der in Wasser und Feuer wirft, ist ein Bild für einen Menschen, der „ganz zu“ ist, „total stoned“, der sich abschließt, beschädigt wurde und sich selbst beschädigt, beziehungsarm, ohne lebendigen Austausch, ohne Kommunikation vor-sich-hin-lebt, der zugleich die innere und äußere Kontrolle über sich selbst verloren hat. Beispiele aus unserer Zeit gibt es zuhauf, mehr als aus früheren Zeiten.

Wir können noch einen Schritt weitergehen. Er hat es von Kindheit an, schreibt Markus. Und so heißt es in alten Texten, wenn Lebensängstebeschrieben werden, die alle Menschen haben. Ob der Mensch sich aus dem Tier entwickelt hat oder ob er eine ganz eigene Kreatur ist – das mag dahingestellt bleiben. Eine Kreatur ist er in jedem Fall. Nur knapp 2% seiner Anlagen, las ich vor kurzem, sollen den Menschen vom Orang Utan unterscheiden.

Worum geht es also bei der Krankheit des Jungen auch? Der Neutestamentler Gerd Theißen schreibt: „Es ist die Angst vor der „Bestie“ im Dschungel um uns herum – und vor der „Bestie“ in uns.“ Eine Doppelangst also: Einerseits vor unkontrollierbaren Feinden, die uns stumm machen, vor denen wir erstarren und die Waffen strecken, andererseits vor einem Kontrollverlust über uns selbst, in dem wir unser Ich verlieren, der uns beziehungslos macht, taub, ohne Antenne für Lebenszeichen von außen.

Und da steht nun dieser Jesus! Warum hat Markus ihn in ein solches Geschehen mitten hinein gestellt, mitten hinein in diesen Lebenskampf, zwischen unsere Lebensängste?

Die frühe Christenheit hat in Jesus eine Gestalt gesehen, der seinen eigenen Lebenskampf ohne Lebenskrampf besteht. In Jesus sind sie einem Menschen begegnet, der frei war von widergöttlichen Bindungen – der sie deshalb vom Bösen entbinden konnte, der allein vom Geist Gottes besetzt war – den deshalb kein anderer, kein Ungeist besetzen konnte, von dem Kräfte der Heilung ausströmten – weil er mit dem Heiligen im Bunde war.

So hat die frühe Christenheit Jesus in Anspruch genommen: als ihren Verbündeten in ihrem Lebenskampf für den Frieden, das Recht und das Leben selbst. So hat er sich in Anspruch nehmen lassen.

In gewisser Weise hat Markus die Christen in dem Jungen, den Jesus berührt, an die Hand nimmt und aufrichtet, abgebildet: wie sie sprachlos sind – und ihre Worte, ihre Gebete und Lieder immer wiederfinden, wie sie sich verschließen gegen andere, fremde Einflüsse – und sich doch immer wieder aufschließen lassen für Neues und Fremdes, für Gottes große, reiche Welt.

Mag schon Markus hier ein Idealbild von Jesus zeichnen, mag die Jesus-Gestalt im Laufe der Geschichte auch zu einer großen Projektionswand geworden sein für alle Bilder vom Guten, vom Frieden, von Recht und Gerechtigkeit – ohne diese Gestalt hätten wir doch gar keinen Blick mehr für’s Gute und für die Güte. Nur mit dieser Gestalt, die in einzigartiger, unüberholbarer Weise das Heilige darstellt, durch sein Bild uns erinnert an das, was heilig zu halten und wert zu achten ist, können wir dem endgültigen Zugriff unserer eigenen unheiligen, unheilvollen Geschichte entkommen. Wie sollten wir ohne diese Jesus-Gestalt dem Würgegriff der Bosheiten und Besessenheiten uns entwinden?! Gut handeln kann ich doch nur, wenn mich das Gute selbst berührt, erfaßt hat.

Darum ist Jesus eine „kulturelle Errungenschaft“ in der menschlichen Entwicklung, eine Quelle unserer Bilder vom lohnenden Leben, mindestens das Hintergrund-Bild unserer inneren Leitbilder. Darum ist und bleibt Jesus eine Gestalt von öffentlicher Bedeutung – über die Mauern der Kirche hinaus, weit in unsere Gesellschaft, unsere Kultur hinein.

II.

Auf andere Weise noch als in dem Jungen, liebe Gemeinde, hat Markus seine Christenleute abgebildet in dem Vater. Ein geplagter Vater sucht für seinen gepeinigten Sohn einen Schonraum, eine Schutzzone, ein Kraftfeldvor allem, in dem Krämpfe sich lösen, in dem die Glieder und der Geist neu zu Kräften kommen, anstatt in tödliche Starre zu verfallen.

Wo sucht er diese Lebenskräfte? Er sucht sie bei den Jüngern, bei den Frauen und Männern, die die werdende Kirche sind. Die ist – wie Markus gleich zu Anfang erzählt – noch gefangen im Streit, in Diskussion und Disputation mit anderen und mit sich selbst. Deshalb bleiben die Lebenskräfte, die Gott seiner werdenden Kirche gegeben hat, noch unwirksam, noch verborgen. Es macht Jesus zornig, daß sie nicht erkennen: Sie sind Teil der Lebenskraft Gottes und haben teil an ihr. Dabei wird klar, was Kirche ist, wenn sie wirklich Kirche ist: Kirche – dort vollzieht sich ein schonender und schützender, ein helfender und heilender Umgang mit dem beschädigten Leben! Kirche – eine heilende Gemeinschaft!

Heute suchen Menschen neu nach Lebensenergie. Sollen sie in esoterische Zirkel abwandern? Sollen sie unnahbare, kalte kosmische Kräfte anbeten? Sollen sie mit Geld bezahlen, was in Gold nicht aufzuwiegen ist: jemand hört mir zu, jemand berührt mich freundlich, jemand betet für mich, jemand gewährt mir Schutz, jemand segnet mich?

Das wäre ja schon etwas gewesen: Wenn die Jünger den geschundenen Sohn und den geschlagenen Vater freundlich in ihre Mitte genommen hätten! Wenn sie gebetet statt gestritten hätten! Das wäre – inmitten allen Unheils – schon ein Zeichen des Heils gewesen. Größere Wunder werden gar nicht erwartet. Mit den Beschädigungen leben zu können und keine neuen hinzuzufügen, damit wäre bereits viel gewonnen. „Es gibt erfülltes Leben trotz unerfüllter Wünsche.“ Könnte ich nach diesem Leitgedanken leben – es wäre schon ein großes Wunder.

Um so wichtiger ist es, daß Jesu Jüngerinnen und Jünger, daß wir als Kirche uns in dem Vater wiedererkennen.

Bringt ihn her – zu mir! Jesus springt dem besorgten Vater bei. Er springt ihm sogar mit dem Glauben bei: Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt.

Das ist ein unmöglicher Satz. Nur von Gott läßt sich sagen: Alles ist ihm möglich. Was nur von Gott gilt – Jesus spricht es den Menschen zu, in deren Nähe er kommt, läßt sie teilhaben an Gottes Lebensmacht.

Unsere Geschichte läßt mich neu entdecken: Für Jesus ist Glaube das, was viel selbstverständlicher ist, was dem Menschen viel näher liegt als der Unglaube. Der erste Schrei – ein Neugeborenes schnappt nach Atem, weiß von nichts, aber kann schon darauf bauen: Meine Lungen werden mit Luft, meine Glieder werden mit Leben gefüllt. Die Vögel werfen ihre Jungen aus dem Nest – denn sie werden fliegen. Zutrauen in die Lebenskräfte, Vertrauen, Offenheit, Ehrlichkeit, Mitgefühl sind nicht nur die besten, sie sind erste menschliche Regungen.

Glauben also macht lebensgewiß – und deshalb lebensfähig. In diesem Glauben, sagt Jesus, ist Gott selbst am Werk. Es ist dein Glaube. Glaube bedeutet, an Gottes Willen zum Leben teilhaben und durch ihn Leben ermöglichen. Glaube ist das, was das Leben fördert, das Lebensförderliche schlechthin – also auch Widerspruch und Widerstand gegen alles, was das Leben beschädigt und bedroht. ‚Bei diesem Kampf‘, sagt Jesus dem Vater, ‚hast du Gott zum Verbündeten.‘ Denn die Bestie ist auch angelegt in uns.

Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Es heißt nicht: „Gott wird’s schon machen.“ Es heißt auch nicht: „Du mußt alles selber machen.“ Es heißt: „Laß dich heute, jetzt auf Gottes Kraft mitten unter uns ein! Laß Gottes gute Kräfte zu bei dir selbst!“

Nun habe ich gehört: Glaube ist das, was mutig, geduldig und stark macht, was mein Leben fördert und womit ich Leben fördern kann und soll. Und doch…….und gerade deshalb möchte ich einstimmen in den Schrei des Vaters: Ich glaube – hilf meinem Unglauben!

Das ist wie der Schrei des Neugeborenen, das nach der Luft schnappt, von der es umgeben ist. Dieser Schrei trennt den Vater von dem bösen Geist, der sich in seinem Sohn eingenistet, eingefressen hat. Mit diesem Schrei vertritt der Vater den Sohn in seiner stummen Verzweiflung – und mit diesem Schrei läßt sich der Vater in seiner Ausweglosigkeit von Jesus vertreten. Dieser Schrei ist Lebenskraft: weder leugnet sie das Lebensgefährdende noch unterwirft sie sich ihm.

Was lockt diesen Schrei hervor? Ist es die Not, in der der Vater keinen Ausweg mehr sieht? Not kann ungeahnte Kräfte freisetzen! Aber das ist es hier nicht. Es ist die Nähe Jesu, es ist die Kraft, die von ihm ausgeht: sie zieht ihn an wie ein Magnet, macht im Vater den Glauben so stark, daß er in voller Klarheit seinen Unglauben Jesus vor die Füße werfen kann. Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Mit diesen Worten hat Jesus dem Vater soviel Glauben zugesprochen, ja, zugemutet, daß der Vater seinerseits nun seinen ganzen Unglauben ihm zumuten, ihm anheimstellen kann.

So wird dieser Schrei zum Glauben. Indem er den Unglauben eingesteht, widersteht er ihm. Indem er die eigenen Grenzen erkennt, überschreitet er sie – auf einen Größeren hin, dem er sich anvertraut. Der Glaube an Gott wird Glaube in Gott! Und erst als es auch aus dem Jungen herausschreit, ist er den bösen Geist los. Im Schrei nach Gottes Hilfe wird der Glaube geboren. Der eine Schrei entspringt im anderen: Ich glaube – hilf meinem Unglauben!

Alle Dinge sind möglich dem, der da glaubt. Das heißt deshalb nicht: Dem Glaubenden ist alles möglich, was er sich wünscht und vornimmt. Das wäre ein titanischer Überglaube, der immer der schlimmste Aberglaube ist. Es heißt: Dem Glaubenden wird möglich, was Gott sich vornimmt und dem Menschen schenkt.

Der Vater tut, was Eltern für Kinder in Not tun müssen: für sie eintreten, sie vertreten. Mütter können das oft noch besser als Väter. Und so vertreten sie Gott. Sie wären aber völlig überfordert, ließen sie sich nicht selbst vertreten. Alles tun kann ich erst, wenn ich weiß, daß mein Tun nicht alles ist.

Jesus vertritt Gott und den Vater. Er bringt den Vater dazu, beides anzuerkennen: Ich bin das Ebenbild Gottes. Ich bin ausgestattet mit starken Kräften und einer wichtigen Aufgabe. Es ist eine Freude, jeden Tag zu erwachen und Mensch zu sein. Ich bin gleichzeitig eine Kreatur, die Hilfe und Kraft braucht und jemanden, der für mich einsteht.

III.

Jesus vertritt meinen Glauben mit seinem Glauben – und in dem hat mein Unglaube Platz.

Laß dich also berühren vom Heiligen.

Laß Jesus deine Hand ergreifen und dich aufrichten!

Stehe so auf deinen eigenen Füßen!

Wachse hinein in die Vollmacht des Glaubens, die Menschen – Kindern, Frauen und Männern – die Sprache wiedergibt, sich gegenseitig stützen und aufrichten läßt – und allem widerstehen, was das Leben bedroht.

Wenn aber die bösen Geister wiederkehren, die Verkrampfungen und Verzerrungen, wenn ich am Ende doch so wenig machen kann?

Dann bedenke: Vielleicht hat Gott dich an diesen Platz gestellt, weil du IHN diesem einen Menschen gegenüber vertreten darfst – nicht als erträumter, sondern als wirklicher, nicht als vollkommener, sondern als angefochtener Mensch, der selber Hilfe braucht. Nur so kannst du ja der Anderen, dem Anderen nahe sein. Wenn du weißt, wie ergänzungsbedürftig du selbst bist, bekommst du den Blick für das, was andere zum Leben brauchen.

So kommst du an Ratlosigkeiten nicht vorbei – aber hindurch.

Du bist gewürdigt, Gottes Liebe zu vertreten, die einzige Macht, die nicht nach Nutzen und Kosten fragt, die jeden Menschen bejaht um seiner selbst willen.

Dazu hat Gott sich mit Menschen wie dich verbündet und dich im Glauben zum Leben ermächtigt.

Du bist Teil der Lebenskraft Gottes – und du hast teil an ihr.

Und mach‘ es so, wie der Arzt, von dem ich neulich hörte, eine Kapazität auf seinem Gebiet. Sein junger Assistent fragt ihn: „Wenn für einen schwierigen Eingriff alles bestens vorbereitet, wenn alles Menschenmögliche getan ist, warum gehen Sie dann ans Fenster?“ – „Ich blicke dann zum Himmel und bete.“

Beten – das allein hilft, sagt Jesus in ihrem Gespräch nach diesem Ereignis seinen Jüngern. Aber Beten kann doch keine Tat ersetzen!? Richtig. Beten ersetzt keine einzige Tat. Aber keine Tat kann Beten ersetzen. Nicht einmal die Summe aller Taten kommt gegen das Beten auf. Beten schwächt aber doch die Ich-Kräfte!? Betende können Ich sagen, ohne alles nur von sich erwarten zu müssen. Betende handeln und lassen geschehen, was handelnd nicht erreicht werden kann: Vertrauen, Gewißheit zum Beispiel. Was dem Beten folgt, so Gerhard Ebeling sinngemäß, kann ohnehin nicht dafür einstehen, ob das Gebet gehört und erhört ist, sondern nur, da es gehört ist, wie es erhört ist.

Und Beten ist etwas für Menschen, die keine großen Worte machen mögen. Solltest du zu diesen Menschen gehören, solltest du besonders nüchtern bleiben wollen, dann denke – und deshalb bete:

Ich soll ja nicht möglich machen, was unmöglich ist. Allerdings: Nicht unmöglich zu machen, was möglich ist, dazu bin ich berufen.

Kann ich dieser Geschichte Glauben schenken?

Diese Geschichte schenkt mir Glauben!

Amen.


Literatur:

Klaus Berger: Darf man an Wunder glauben?, Stuttgart 1996

Jürgen Ebach: Wie einer auf die eigenen Füße kam. Bibelarbeit über Markus 9,14-29, in: Hiobs Post, Neukirchen 1995, S. 164-182

Michael M. Schönberg: von oben herab. 32 Texterhebungen, Stuttgart 1995, S. 91-95

Gerd Theißen: Die offene Tür. Biblische Variationen zu Predigttexten, München 1990, S. 61-65

Gerd Theißen: Lichtspuren. Predigten und Bibelarbeiten, Gütersloh 1994, S. 117-131


Hans Joachim Schliep
Pastor auf dem Kronsberg (EXPO-Wohngebiet)
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