Matthäus 11, 2-6

Matthäus 11, 2-6

‚Wir haben Gottes Spuren festgestellt‘

„Als aber Johannes im Gefängnis von den Werken
Christi hörte, sandte er seine Jünger und ließ ihn fragen:
Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen warten?“
Jesus antwortete und sprach zu ihnen: „Geht hin und sagt Johannes
wieder, was ihr hört und seht: Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige
werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird
das Evangelium gepredigt; und selig ist, wer sich nicht an mir ärgert.““

Liebe Gemeinde,

seit fast 6 Monaten sitzt der Freund einer Frau in Untersuchungshaft;
ihm wird ein Wirtschaftsdelikt vorgeworfen: die Steuerfahndung sucht nach
Beweisen für seine Verstrickung in einen Betrugsfall.

Die Frau ist völlig fertig. Ihr Freund ist weg von
der Bildfläche, es gibt wochenlang keinen Kontakt, aber ihre Gedanken
kreisen natürlich fast den ganzen Tag um ihn: Sorgen, Möglichkeiten,
Chancen. Er kann überhaupt keinen Kontakt aufnehmen mit ihr – jedenfalls
nicht ohne daß andere mithören oder -lesen, denn es könnte
ja was Belastendes, was Gerichts-Verwertbares dabei sein. Alle zwei Wochen
darf sie ihn eine halbe Stunde besuchen – und auch da sind sie nicht allein,
sondern ein Mitarbeiter der Steuerfahndung sitzt daneben.

‚Als Johannes im Gefängnis saß und vom Wirken
des Jesus Christus hörte‘ (ich frage mich: wie hörte er das?),
da ’sandte er seine Jünger‘ (ich frage mich: wie sandte er sie?)
‚und ließ ihn fragen‘ – und ‚Jesus antwortete: geht und sagt Johannes‘

– Ja, das scheint leichter möglich gewesen zu sein
als heutzutage bei Untersuchungshäftlingen, die allenfalls mit ihren
Anwälten ungestört reden können. Der Bibeltext geht offensichtlich
davon aus, daß Johannes zwar im Kerker sitzt, aber Kontakte pflegen
kann, Leute schicken, Erkundigungen einholen kann, und daß ihm Antworten
übermittelt werden konnten.

Was für eine Chance hat so ein Untersuchungs-Häftling?
Nimmt er am Leben teil? Oder ist er im Grunde schon abgemeldet, weg vom
Fenster – wird nicht mehr ernst genommen?

Worauf wartet ein Mensch im Gefängnis? Worauf wartet
Johannes? ‚Bist du es, der da kommen soll, oder sollen wir auf einen anderen
warten?‘

Wer von seiner Unschuld überzeugt ist, der hat – so
stelle ich mir vor – die einigermaßen begründete Hoffnung auf
Freispruch nach einem Gerichtsverfahren. Freispruch von Anklagen, Vorwürfen
– jedenfalls von den Vorwürfen der Anklage-Behörden.

Ob auch Freispruch von Ängsten dabei ist? Freispruch
von Selbst-Vorwürfen? Bestehen da Hoffnungen, begründete Hoffnungen
womöglich?

Was sind die Hoffnungen der Gefangenen? Hoffnung auf Erlösung,
auf Rettung, auf einen, ‚der da kommen soll‘?

Es müssen ja gar nicht solche Gefangenen sein, die
von Behörden hinter Gitter gesperrt wurden.
Es können ja auch Menschen vom Zufall der Geburt, der Herkunft, der
Geschichte in Abhängigkeiten und Zwänge gesperrt werden, die
ihre Freiheit einschränken oder zerstören.
Es können ja auch Menschen von ihrer Angst in die Enge getrieben
werden, in der sie erstarrt sitzen – ganz ohne Gitter.
Es können ja auch Menschen von ihren Mitmenschen in eine Ecke gesperrt
werden, aus der sie ohne Hilfe nicht mehr herauskommen.

Welche Hoffnung haben also die Gefangenen? Welche Art von
Freispruch brauchen sie? Und worauf ist die Hoffnung gegründet?
Ordentliche Gerichte helfen da nicht weiter, das wird uns schon deutlich.
Aber welche Instanz, welches Gericht dann?

Gottes Reich ist mitten unter uns schon da! Und zwar in
eben diesen tollen Geschichten: ‚Blinde sehen und Lahme gehen, Aussätzige
werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und den Armen wird
das Evangelium gepredigt‘: wo wir erleben, wie Verlierern geholfen wird,
wie Gescheiterte neue Chancen bekommen, da glimmt es auf, das Himmelreich,
da sind wir schon längst mittendrin. Wo wir merken, daß es
andere, neue Möglichkeiten gibt, wo wir spüren, wie wir herausgezogen
werden aus Unmut und Verzweiflung, als Lähmung und Starre, wo Gott
uns gegen die Resignation stark macht – da werden dann selbst die Toten
nicht vergessen, sie stehen auf, haben noch was zu sagen: die Alternativen
die Gott uns bietet, sind immer noch mehr – und noch anders – als wir
uns das vorstellen können.

Johannes fragte nach dem, ‚der da kommen soll‘. Das war
seine Hoffnung – sonst müßte er ‚auf einen anderen warten‘.
Wir warten auf den, der schon unterwegs ist, der sich auf den Weg gemacht
hat und zu uns kommt. Wir wissen, wer es ist – und wir wissen, was er
uns bringt:

Es ist Gott, der in Jesus Christus zu uns Menschen gekommen
ist, und der in eben diesem Jesus Christus als Richter, Erlöser und
Vollender der Welt wiederkommt.

Das ist unsere Hoffnung: Wir warten auf den, der da kommt
– der da gewißlich kommt!
Das ist unser Ziel: Wir werden beurteilt – nicht nach dem, was wir vor
uns selbst sind, sondern nach dem, was wir in Gottes Augen sind.
Das ist unsere Bestimmung: wir werden befreit – egal welche Gitter oder
Zwänge uns binden; wir werden heil und ganz gemacht – egal wie zerschunden
und kaputt wir sind.

So wird auch für uns wahr, was die Jünger des
Johannes gehört und gesehen haben: ‚Blinde sehen und Lahme gehen,
Aussätzige werden rein und Taube hören, Tote stehen auf, und
den Armen wird das Evangelium gepredigt‘.
Das ist die Wirklichkeit Gottes, die vielleicht manchmal hinter der Wirklichkeit
der Welt versteckt ist, die aber immer über der Wirklichkeit der
Welt steht.

Advent: wer dieses Nahekommen Gottes spüren, mitfühlen
und glauben kann, der kann dann auch die Nähe Gottes aushalten, der
kann sich darauf freuen und sie genießen: ‚Selig ist, wer sich nicht
an mir ärgert‘.
Advent: nicht wie Johannes auf die üblen Zeichen sehen und das Weltgericht,
den Welt-Untergang fürchten, sondern auf die Gegenwart Gottes unter
den Menschen achten, den Welt-Aufgang, das anbrechende Himmelreich erkennen;

Advent: nicht nur auf all das zeigen, was sich ändern muß,
sondern das sehen, was sich schon verändert hat.
Advent: sehen, wie die Gegenwart sich lohnt – und dennoch die Sehnsucht
nach der Vollendung spüren.

Johannes im Gefängnis – und der Freund unserer Freundin:
ich kann mir vorstellen, welche Weltuntergangs-Stimmung sie gefangen hält.
Ich kann mir vorstellen, welche Zweifel, auch welche Selbstzweifel da
nagen. Ich kann mir vorstellen, wie die Sehnsucht nach Gewißheit
immer größer wird – welche Gewißheit da auch immer kommen
mag.

Jesus beantwortet die Frage nach der Gewißheit für
die Zukunft mit dem Hinweis auf die Gegenwart: Jetzt ist die Zeit des
Heils! Schau, was du siehst und erlebst, und mach dir selbst ein Bild!
Deute selber, was du erfährst – und ’selig ist, wer sich nicht an
mir ärgert‘.

Die Sehnsucht bleibt – Gott löst sie nicht auf. Die
Gewißheit können wir nur persönlich erlangen – nicht als
fertiges Päckchen in Empfang nehmen.

Aber gerade das ist auch Advent: die Sehnsucht und das Warten
auf die Gewißheit, die immer wieder neu gesucht werden muß.
Das ist das Spannende auch an dieser Sehnsucht: sie wird erfüllt
– aber nicht so ganz, so daß sie eben wiederkommen kann, uns ziehen,
uns bewegen, uns ausrichten auf Gott.

Wir können, wenn wir unsere Sinne aufrichten, die Spuren
Gottes in dieser Welt finden: die kleinen Zeichen, daß da hinter
der Wirklichkeit noch eine andere Wahrheit zu finden ist, die uns zeigen
will: Gott ist nah, er stützt und hält, weil er uns liebt. Er
verwandelt uns und die Welt – langsam und mühsam – in seine Welt.

Die Geschichte mit der Frau und ihrem inhaftierten Freund
dauert noch an. Ein Happy-End ist nicht zu berichten. Die Sorge, die Fragen,
die Angst und Not bleiben bestehen.
Ist es eine dieser Spuren Gottes, daß er stützt und hält
– mitten in diese Situation? Ist es eine Spur Gottes, daß sie durchhält,
daß sie zu ihm hält, daß sie ihn weiter besucht, sich
um seine Sache kümmert?

Lassen Sie uns die Ohren, die Augen, alle Sinne weit aufmachen
– und Gottes Nähe zu uns Menschen finden: seine Nähe, die uns
stark macht, die uns verwandelt, die uns richtet – und rettet.

Amen.

Lied: Wir haben Gottes Spuren festgestellt

 

Andreas Kern
A-Kern@t-online.de

de_DEDeutsch