Matthäus 25, 31-46

Matthäus 25, 31-46

(Vorbemerkung: Sie lesen eine Predigt, die
in ähnlicher Gestalt
in einer Innenstadtkirche Göttingens gehalten wird. Das Evangelium
des Tages ist zugleich Predigttext: Mt.25,31-46. Da dieser Text sehr
lang ist, wird er in der Predigt nicht noch einmal zur Gänze gelesen.)

Gnade sei mit euch und Friede, von Gott unserem Vater und dem Herrn
Jesus Christus. Amen.

„Gnade sei mit euch von Gott unserem Vater. Die Liebe Gottes sei mit
euch.“ Schöne Worte, am Anfang jeder Predigt. Worte des Glaubens,
die einen tragen können, wenn man sie versteht. Aber vielleicht
sind sie auch so gewohnt, daß sie garnicht mehr gehört werden.
Ist es denn selbstverständlich, daß Gott gnädig ist,
daß er lieb ist? Das Wort Gnade hat Sinn nur vor Gericht: Gnade
oder rechtmäßiges Urteil nach dem Gesetz, das ist die Frage.
Wenn aber Gott der ist, der das Urteil über das Leben spricht – muß er
dann gnädig sein? Oder muß er nicht vielmehr gerecht sein?
Muß das Urteil über mein Leben nicht vor allem wahr sein,
mir die Wahrheit meines Lebens vorhalten?

Früher hatten die Menschen Angst vor Gott. Ich rede nicht
von der Furcht vor Gott – in dem Sinn, daß ich vor Gott stehe in
seinem Geheimnis, vor Gott in seiner Unermeßlichkeit, vor Gott
in seiner Entzogenheit, – die zugleich so zudringlich ist, weil in ihm doch
die Wahrheit der Welt, die Wahrheit des Lebens liegt. Davon rede ich
nicht. Ich rede von Angst : die Angst vor Gott dem Richter,
der dich vielleicht in ewiges Feuer bringt, in endlose Finsternis, in
nie endende Qual, der dich vielleicht in ewigen Tod versenkt, unwiderruflich
in Ewigkeit – wenn du dein Leben nicht änderst.

Nie ist Schrecklicheres in Köpfen von Menschen gewesen. Gottes
Ewigkeit gespiegelt zu rasender Angst.

Wir glauben so nicht mehr. Nicht zuletzt Luther hat das schreckliche,
verheerende Bild von Christus mit dem Schwert in der Hand überwunden.
Er hat dieses Bild Ernst genommen und die Angst hat ihn vernichtet. Und
so ist er vor seinen Gott und das Evangelium getreten. Dann hat das Vertrauen
die Angst überwunden, wieder einmal – in ihm für uns, stellvertretend.

Aber wir – haben wir überhaupt eine Vorstellung davon, daß Gott
am Ende richtet? Der Menschensohn auf seinem Thron, der am Ende jedem
Volk, jedem Menschen die Wahrheit seines Lebens zuteilt? Das Bild fällt
schwer. Es scheint allzumenschlich gemalt, und auch sehr antik: der gerechte
König auf seinen Thron. Das Bild fällt schwer – obwohl es doch
wohl Augenblicke gibt, in denen wir den Gedanken der letzten Gerechtigkeit
nötig haben, so nötig wie Atemluft. Obwohl es Augenblicke gibt,
wo jeder, der nicht stumpf ist, stumm danach schreit:

Zwei Kinder werden erwürgt. Keiner hat sie in ihrer letzten Minute
getröstet.

Tausende werden zusammengetrieben und geschlachtet wie Vieh. Keiner
kennt sie mehr, und niemand holt sie zurück.

Tausende verhungern, weil der Diktator es will. Auf den alten Bildern
lächelt er.

Tausende werden vertrieben und erschlagen, auch Kinder – und keiner
macht es wieder gut.

Die Nächte sind voll von dem lautlosen Schrei nach der Gerechtigkeit,
die kein Mensch geben kann.

Und wer die Leidenschaft der Gerechtigkeit garnicht kennt,
und auch das Gesetz der Vergeltung, – – der kann von Barmherzigkeit nur
faseln. Der weiß garnicht, was Barmherzigkeit, Vergebung, Gnade
wirklich ist. „ Wenn aber der Menschensohn kommen wird in seiner
Herrlichkeit, und alle Engel mit ihm, dann wird er sitzen auf dem Thron
seiner Herrlichkeit, und alle Völker werden vor ihm versammelt werden.
Und er wird sie voneinander scheiden, wie ein Hirt die Schafe von den
Böcken scheidet, und wird die Schafe zu seiner Rechten stellen und
die Böcke zur Linken. Da wird dann der König sagen zu denen
zu seiner Rechten: Kommt her, ihr Gesegneten meines Vaters, ererbt das
Reich, das euch bereitet ist von Anbeginn der Welt! … Dann wird er
auch sagen zu denen zur Linken: Geht weg von mir, ihr Verfluchten, in
das ewige Feuer, das bereitet ist dem Teufel und seinen Engeln!
“ –

Es gibt Augenblick, in denen wir selbst nach dieser letzten Gerechtigkeit
rufen. Es gibt Augenblicke, da wissen wir, daß das um alles in
der Welt nötig ist: daß Leben und Tod neu verteilt werden.
Daß Gewalt und Mord nicht endgültig sind. Daß alles
nochmal aufgerollt wird. Und wenn ich mir nicht denken kann, wie das
sein soll, – dann wird die Verzweiflung nur größer. –

Aber es geht ja garnicht nur um das große Verbrechen. Das große Verbrechen,
das monströse – das sind immer die Anderen. Aber was ist mit dem
eigenen Leben – was ist mit diesem Augenblick? Was macht ihn wahr? Was
macht ihn tief? Das haben wir doch garnicht in der Hand. Und ständig
versündigen wir uns an der Wahrheit und Tiefe, die möglich
wäre. Was ist das Maß meiner Liebe und meiner Sorge? Es muß doch
einmal an den Tag kommen, was dieses Leben sein könnte, und was
es ist, was es schließlich war. Hast du den Obdachlosen gesehen?
Womit füllst du deine Tage? Sind diese Tage in ein Buch geschrieben,
das nicht vergeht?

Ich habe gesagt: Früher hatten die Menschen Angst vor Gott, vor
der Hölle. Ich behaupte: Heute haben sie dieselbe Angst – wenn sie
sich überhaupt spüren, dann haben sie dieselbe Angst, auch
wenn sie sich nicht mit dem Namen Gottes verbindet. Aber ganz in der
Tiefe ist es dieselbe Angst. Die Angst vor der Hölle, das ist jetzt
die Angst vor der Leere. Die Angst, daß alles nur ein flüchtiges
Treiben ins Nichts sein könnte, daß alle Heimat eine Lüge
ist, daß es ein kurzes Lachen ist, das schon verglüht wie
ein Komet in schwarzer ewiger Nacht. Bald muß ich sterben – was
ist mein Leben in Wahrheit? Was gibt ihm Grund? Gibt es garkeinen Grund?
Ich atme, ich esse, ich trinke, ich sehe die Stadt, ich rede, ich höre
meine Kinder, ich scherze – aber wenn Gott nicht den Grund gibt, kreise
ich am Ende nur um mich selbst, das ist gewiß. Wenn aber Gott das
Maß ist und der Grund, dann ist diese Erkenntnis, wenn
die wahre Angst aus der Tiefe kommt, wenn sie in die bunten Alltagsbilder
hineinfließt und sie erstarren läßt – dann ist das
das Gericht Gottes, jetzt schon.

Wer die Angst kennt, der ist schon im Gericht. Der kennt die Hölle
schon. Das kalte Feuer. Mitten im Satz läßt sie dich verstummen.
Mitten im Tun läßt sie dich erstarren. Wer sie nicht kennt,
dem steht sie noch bevor. Sie ist die Wahrheit des Lebens ohne Gott.
Sie ist die Wahrheit des Lebens für sich, in der Burg des Eigenen.

Und das Leben mit Gott? Wie kommt es in die Welt? Wer die Angst kennt,
kennt sich, aber er kennt Gott nicht. Das Leben mit Gott ist die
Gnade, die geschenkte Gerechtigkeit, die Erlösung – auch: jetzt
schon. Daß er zu uns gekommen ist in der Angst. Wer? Der Ewige.
Der Grund. Das Geheimnis der Welt. Wenn ein Mensch das zu dir sagt, in
diesem Augenblick, dann glaubst du es. Dann ist das Menschenwort Wort
Gottes.

„ Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Wer mein Wort hört und
glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt
nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen.
“ Das
steht bei Johannes (5,24). Das stelle ich im Zweifel gegen Matthäus,
gegen das Bild von Gott-Christus mit dem Schwert, im Zweifel, wenn
Angst und Vertrauen ringen. Im Vertrauen, daß wir in Gottes Liebe
leben, hört jede Angst auf. Sein Gericht ist nur unsere Wahrheit.
Er vergilt uns unsere selbstverschuldete Einsamkeit nicht, sondern überwindet
sie. Was wir jetzt in Gottes Liebe leben, ist in Gottes Ewigkeit nicht
verloren.

Aber auch wahr ist, daß die Wahrheit erst kommt. Wir ahnen das
Leben erst nur, auch wenn wir Gott glauben. Wir haben erst einen Funken.
Es muß auch noch kommen, daß Gott uns unser Leben offenlegt.
Daß er es vollendet in dem, was wir nie vollenden können.
Wahrheit und Lüge, Gleichgültigkeit und Liebe, Schwermut und
Mut sind noch gemischt. Heute besuche ich den Kranken – morgen schaue
ich vorbei. Die Wahrheit muß auch noch kommen. Das Leben ist noch
unklar, diffus, grau.

Das Maß der Wahrheit und der Fülle
aber haben wir. Gott sieht sich im sterbenden, verängstigten Menschen.
Er ist zu ihm gekommen. Sein Geist ist die Liebe, die das Eigene hingibt
für den, der allein verloren ist. Also wißt ihr, wie das Leben
sein wird, das Gottes Liebe nachkommt. Du bist doch selbst geringster
Bruder, geringste Schwester gewesen, ein Fremder im All, ein verängstigtes
Kind.

„ Was ihr getan habt einem von diesen meinen geringsten Brüdern,
das habt ihr mir getan
“ – „ ich bin hungrig gewesen, und
ihr habt mir zu essen gegeben. Ich bin durstig gewesen, und ihr habt
mir zu trinken gegeben. Ich bin ein Fremder gewesen, und ihr habt mich
aufgenommen. Ich bin nackt gewesen, und ihr habt mich gekleidet. Ich
bin krank gewesen, und ihr habt mich besucht. Ich bin im Gefängnis
gewesen, und ihr seid zu mir gekommen.
“ Nicht aus Angst vor Gott,
gerade das nicht – sondern weil dies der freie Weg zur Fülle ist.
Weil diese Liebe göttlich ist.

Amen.

PD Dr. Tom Kleffmann
tkleffm@gwdg.de

de_DEDeutsch